#73 Nüchternheit und Moralischer Perfektionismus

#73 Nüchternheit und Moralischer Perfektionismus

44 Minuten

Beschreibung

vor 2 Jahren

Das wichtigste zuerst: Wir hängen das Zøli an den Nagel! Wir
hatten große Pläne für eine neue Lifestyle-Bewegung, aber jetzt
denken wir uns: Och nee, doch nicht. Mika hat festgestellt, dass
sie sich einfach mal wieder dreckig machen muss. Mia wollte einen
Typen daten, in dessen Bio steht, er sei sober (wie das
ausgegangen ist, erfahrt ihr in der Folge). Wir fragen uns, ob
wir anders sind als andere Leute, so mit Abhängigkeitserkrankung
im Gepäck. Haben wir ein stärkeres Bedürfnis, ab jetzt alles
immer richtig zu machen? Aber was, wenn das nicht klappt?


Wir reden über perfekte Produktivität und Visionen müheloser
Tage, an denen wir keine Körper haben. Wieso man sich für manche
Erkrankungen schuldig fühlt und was die Nazis damit zu tun haben.


Und weil es immer auch darum geht, Widersprüche auszuhalten,
enden wir mit Susan Sontag:


Illness is the night-side of life, a more onerous citizenship.
Everyone who is born holds dual citizenship, in the kingdom of
the well and in the kingdom of the sick. Although we all prefer
to use only the good passport, sooner or later each of us is
obliged, at least for a spell, to identify ourselves as citizens
of that other place.


Frei übersetzt: Krankheit ist die Schattenseite des Lebens, eine
beschwerliche Zugehörigkeit. Von Geburt an besitzen wir eine
doppelte Staatsbürgerschaft: die im Reich der Gesunden und die im
Reich der Kranken. Obwohl wir es alle vorziehen, ausschließlich
den guten Pass zu benutzen, ist jede:r von uns früher oder später
gezwungen, sich zumindest für eine Zeit als Bürger:in dieses
anderen Ortes verstehen zu geben.


Susan Sontag „Ilness as Metaphor and Aids and its Metaphors”
(1989)


Weitere Bücher & Quellen:


Thematisierungskonjunkturen der „Alkoholfrage“: Hasso Spode „Die
Macht der Trunkenheit“


Zu den personellen Kontinuitäten der Guttempler von 1933 bis
1970: vgl. Tilmann Holzer, „Die Geburt der Drogenpolitik aus dem
Geist der Rassenhygiene – Deutsche Drogenpolitik von 1933 bis
1972“, Kapitel: Die Gleichschaltung des Deutschen Guttempler
Ordens, S. 105 ff // Siehe z.B. Theo Gläß)


Auguste Forel: In seinem Werk
„Kulturbestrebungen der Gegenwart“ warnte Forel 1910:
„Gedankenlos hat der Mensch an gewissen, keimverderbenden Giften,
wie dem Alkohol, dem Opium […] sein Vergnügen, aber auch seinen
satanischen Verderber gefunden.“ Er beschwört die „Entartung der
Rasse“ herauf, mahnt insbesondere den Alkohol zu vermeiden, da
seine keimverderbende Wirkung feststehe und forderte die
Prohibition. Die Menschheit – lehrte Forel - leide an einer
‚unheilbaren‘ Krankheit der ‚Entmannung, Verweichlichung und
Entartung durch sinnliche Genüsse‘. Der Trinker sei eine ‚arge
Pestbeule an unserem gesellschaftlichen Körper‘, der fahrlässig
die ‚Entartung der Nachkommenschaft‘ in Kauf nehme (Tilmann
Holzer 2006, S. 81 / Willi Wottreng 1999, S. 219).


Links zu Forel als Grüner der IOGT Schweiz:
https://www.iogt.ch/geschichte &
https://www.biologie-seite.de/Biologie/Auguste_Forel#cite_note-6


Degenerationslehre: Der französische Arzt
Benedict Morel begründete die sogenannte Degenerationslehre. Er
verband zum ersten Mal Substanzgebrauch mit rassenhygienischem
Denken (vgl. Holzer 2006): „Die Degenerationen sind krankhafte
Abweichungen vom normalen menschlichen Typ, sind erblich
übertragbar und entwickeln sich progressiv bis zum Untergang“
(Weingart, Kroll, und Bayertz 1988: 47). 


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