Die Herausforderungen unserer Zeit sind nicht technischer, sondern sozialer Natur

Die Herausforderungen unserer Zeit sind nicht technischer, sondern sozialer Natur

Beschreibung

vor 7 Jahren

Wie entscheiden wir wohin wir gehen? Und warum?


Neue Fassung:
draketo.de/politik/herausforderungen-technisch-sozial




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Gesprochen
von Tallur



Zu Gesundheit und der Energiewende, zur Zukunft der Mobilität
oder zu Handys lese ich viel von neuen Technologien. Und für
viele Techniker sind rechtliche oder gesell­schaftliche
Frage­stel­lungen „Nicht-Probleme“. Aber wenn ich mir die Welt
anschaue, dann ist es gerade umgekehrt: Jede technische
Herausforderung, vor der wir zur Zeit stehen,
können wir lösen, wenn wir uns nur als
Gesellschaft entscheiden, sie gemeinsam anzugehen. Die wirklichen
Probleme sind dagegen nicht technisch. Sie liegen in der
Entscheidung, was uns wirklich wichtig ist. Wenn
uns als Gesellschaft Gesundheit wirklich wichtig wäre, dann gäbe
es keine Antibiotikaresistenten Keime, weil weder von Ärzten noch
von Landwirten Antibiotika wie Brausepulver ausgegeben würden.
Stattdessen würden Milliarden in die Forschung gesteckt, wie
Tiere so gehalten werden können, dass sie gar nicht erst krank
werden, und Ärzte würden Fortbildungen von unabhängigen,
gesellschaftlich finanzierten Stellen erhalten, während
Medikamentenentwicklung stärker gesellschaftlich finanziert
würde, statt von Firmen, die die Entwicklungen danach in
möglichst großer Menge und zu möglichst hohem Preis verkaufen
müssen. Das Geld dafür ist da, es wird nur anders genutzt.


Wie viel Geld da ist, sehen wir in jedem Krieg, in dem wieder
Milliarden über Milliarden verbrannt werden, ohne mit der Wimper
zu zucken. Für den Preis von nur 4 Stunden Irakkrieg können wir
einen Forschungssatelliten ins All schicken1. Oder, um näher zur
eigenen Wohnungstür zu kommen, wir sehen es in der massiven
Finanzierung der Smartphone-Entwicklung. Wir als Gesellschaft
entscheiden, unglaubliche Mengen an Geld in die
Rechnerentwicklung zu stecken — weil der Großteil der Menschen
ständig neue Handies kauft und dadurch Software vor allem für die
neusten Geräte entwickelt wird, statt sie so zu schreiben, dass
sie auf allen Geräten läuft, die die letzten 10 Jahre verkauft
wurden.


Und Smartphones statt Gesundheit ist nicht das einzige Beispiel.
Wenn uns die Energiewende wichtig wäre, dann würden wir seit 10
Jahren schon keine Kohle, kein Öl und kein Gas mehr verbrennen.
Wir hätten hunderte von Milliarden in die Forschung gesteckt und
wären vor 10 Jahren schon viel weiter gewesen als wir es heute
sind. Dass das Geld dafür da ist, haben wir in der Bankenrettung
gesehen. Wenn uns die Bekämpfung von Extremismus und Terror
wichtig wäre, dann würde auf der Welt kein Kind mehr hungern —
auch nicht bei uns in Deutschland. Auch dafür ist Geld da. Es
wird nur anders genutzt.


Doch all das wird nicht gemacht. Denn die wirklichen Probleme
sind heute nicht technischer, sondern sozialer Natur.



Mein Schild zum
Science March in
Stuttgart, 2017.


Wie entscheiden wir als Gesellschaft, wohin wir gemeinsam wollen?
Woher wissen wir, was wahr ist, und woher wissen wir, was wichtig
ist? Wie entscheiden wir, was wir selbst als Realität ansehen?
Und wem glauben und vertrauen wir?


Das sind die wirklich schwierigen Fragen unserer Zeit — und es
sind schon die wichtigen Fragen, seit wir Menschen nicht mehr
jeden Tag ums Überleben unserer Spezies kämpfen müssen.


Das heißt nicht, dass Technik unwichtig ist. Besonders deutlich
wird das an Fortschritten in Landwirtschaft und Medizin. Dank
Pflug, Impfungen und Antibiotika brauchten wir immer weniger
Leute, um die Erfüllung der Grundbedürfnisse einer Gemeinschaft
zu sichern, so dass Arbeitskraft für Bildung und Forschung frei
wurde. Und als Gewehr und Langspieß entwickelt wurden, brauchten
Länder keine lebenslang trainierte Ritterkaste mehr, um sich
gegen ihre Nachbarn zu schützen. Die Entwicklung des Buchdrucks
erleichterte die Weitergabe von Ideen außerhalb Kirchlicher
Strukturen.


Technik verschiebt die Rahmenbedingungen unserer
Entscheidungsfindung. Sie verändert, wie groß bestimmte Gruppen
sein müssen, um den gesellschaftlichen Diskurs dominieren zu
können. Wenn es genügend autonome Kampfdrohnen gibt, um ein Land
zu beherrschen und eine kleine Gruppe von Leuten die Kontrolle
darüber hat, dann haben Andere in der Gesellschaft nicht mehr
viel zu entscheiden, so dass ihr Diskurs nicht mehr relevant ist.
Das gleiche gilt, wenn statt der Drohnen selbsternannte
Gotteskrieger mit Waffen herumlaufen. Mit Technik kann sich die
Anzahl der Leute vergrößern oder verkleinern, die
zusammenarbeiten müssen um die Gesellschaft zu kontrollieren, so
wie diese Anzahl durch das Internet erst deutlich vergrößert
wurde, um dann mit der Dominierung der öffentlichen Wahrnehmung
und der persönlichen Kommunikation durch einige wenige wieder
deutlich zu schrumpfen2. Und durch den Klimawandel kann es
passieren, dass wir als Spezies uns selbst soweit aus unserem
Komfortbereich drängen, dass Technologie wieder zur wirklichen
Herausforderung wird. Dass wir also nicht wissen, ob wir als
Individuen, als Gesellschaft und als Spezies auf lange Sicht
überleben können.


Doch die Entscheidung, welche Technologie wir nutzen, und die
Entscheidung, welche wir zulassen und welche wir begrenzen — oder
nur defensiv entwickeln — ist eine soziale Entscheidung. Während
wir aber Technik immer besser verstehen und die Zahl der
Naturwissenschaftler immer weiter ansteigt, stagnieren die
Sozialwissenschaften: Wissenschaften wie Psychologie, Soziologie
und Politikwissenschaften, die erkunden, wie wir in Gruppen
Entscheidungen treffen, und wie wir bessere Entscheidungen
treffen können. Das ganze, obwohl gerade jetzt durch Technologie
— durch Facebook, Twitter und umfassende Kommunikationsanalyse —
regelrechte Goldgruben für Sozialwissenschaften geöffnet wurden.
Aber gefördert werden Sozialwissenschaften kaum. Und das ist ein
Problem.


Und zwar leider auch wieder ein soziales. Wir als Gesellschaft
müssen erkennen, dass der Kern zur Lösung der großen Probleme
unserer Zeit in den Sozialwissenschaften liegt. Genauer: In
Sozialwissenschaften, die zum Wohl der Gesellschaft und zum Wohl
Aller helfen zu verstehen, wie Menschen in Gruppen sinnvolle
Entscheidungen treffen können, auch und gerade wenn sich
unterschiedliche Interessen gegenüberstehen. Die nach Wegen
suchen (und sie kommunizieren) wie eine Gesellschaft so
organisiert werden kann, dass mehr Menschen sehen, welche
Maßnahmen wirklich in ihrem Interesse sind und welche anderen
Interessen es gibt. Was dafür sorgt, dass Politik stärker im
Interesse der durch sie vertretenen Menschen handelt. Und wie
Gesellschaften die Folgen ihrer gemeinsamen Entscheidungen
abschätzen können, um zu sehen, welche Freiheiten sie wirklich
haben und welche Entscheidungen Nebenwirkungen hätten, die wir
als schlimmer ansehen würden als ihren direkten Nutzen.


Das bedeutet, wir brauchen einen nächsten Schritt der Aufklärung:
Den Weg der Menschlichen Gesellschaft aus der selbstverschuldeten
Unmündigkeit. Wenn wir alle verstehen, wer und was unsere
Entscheidungen beeinflusst, können wir auch selbst entscheiden,
wem wir diese Möglichkeit geben wollen. Und das wird unangenehm
werden, denn wie auch zur Zeit der individuellen Aufklärung ist
Unmündigkeit angenehm, solange man ihre Folgen ausblenden kann.
Doch wie auch in der individuellen Aufklärung ist der Gewinn
durch Eigenverantwortung und Selbstbestimmung weitaus größer als
die Unannehmlichkeit, die Wirklichkeit anerkennen zu müssen.


Für diesen Schritt wende ich mich an Sie — brauche ich Sie — der
oder die Sie diesen Text hier lesen und bis hier gelesen haben.
Denn auch wenn wir viele der wichtigen Schritte nur in einer
Gemeinschaft angehen können, fängt Aufklärung doch immer bei
Einzelnen an. Sie beginnt mit Fragen: „Welchen
Informationsquellen vertraue ich? Wie verändern mich die Dinge,
denen ich meine Aufmerksamkeit schenke? Mit wem möchte ich
arbeiten? Mit wem unterhalte ich mich über Neuigkeiten?
Hinterfragen wir dabei die Quellen? Wo kann ich vertraulich über
Neuigkeiten diskutieren? Mit wem will ich etwas verändern? Mit
wem will ich meine Freizeit verbringen? Aus welchen Gruppen kann
eine größere Bewegung entstehen? Wie können wir sie verstetigen?3
Was will ich verändern? Was will ich erhalten? Wie berichtet mir
mein gewählter Vertreter oder meine gewählte Vertreterin, was er
oder sie dank meiner Stimme für mich erreichen kann? Wie stelle
ich sicher, dass die mich Vertretenden erfahren, was mir wichtig
ist? Wem habe ich die Aufgabe zur Vertretung meiner Interessen
weitergegeben? Und was gibt mir selbst Mut zu handeln?“


Und nach den Fragen: Bitte geben Sie den Text an all die weiter,
die sich dafür interessieren könnten. In einer Form und mit einer
Notiz, die ihnen zeigt, dass Sie den Text wirklich geprüft haben.
Auf diese Art trägt er zur gesellschaftlichen (Selbst-)Aufklärung
bei.


Link zum Weitergeben:
https://www.draketo.de/politik/herausforderungen-technisch-sozial


Aufruf zu einem nächsten Schritt der Aufklärung:
https://www.draketo.de/politik/herausforderungen-technisch-sozial#aufklaerung



»What does it cost to launch a satellite? 4 hours in Irak.« —
Dr. David Crisp, OCO-2 Science Team Leader, Jet Propulsion
Laboratory, NASA (2015-09, Zitate). 


Das Internet hat die Anzahl der Leute erhöht, die nötig sind,
um die Gesellschaft zu kontrollieren, weil wir alle
veröffentlichen konnten. Heute reduziert es sie, weil es immer
schwerer wird zu unterscheiden, wer eigentlich verlässlich ist
— oder auch nur, ob uns jemand als wirkliche Person begegnet
oder als bezahlter Propagandist. 


Wie können wir unsere Gemeinschaft auch gegen Widerstände von
Leuten verstetigen, die Gruppenbildung verhindern wollen? Wie
wehren wir uns gegen Machtkonzentration, Überwachung und
Zersplitterung? 

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