Spezial - Kolumne 94 von Mathias Horx - Die Kunst des Siegens
Neuer Beitrag von Matthias Horx zur Ukraine, der sachlich,
empathisch und vielschichtig auf die aktuelle Situation und Zukunft
schaut. Hier geht es zum Blogbeitrag: Diesmal veröffentliche
eine Kolumne von Matthias Horx zur...
29 Minuten
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Beschreibung
vor 2 Jahren
Neuer Beitrag von Matthias Horx zur Ukraine, der sachlich,
empathisch und vielschichtig auf die aktuelle Situation und
Zukunft schaut.
Hier geht es zum Blogbeitrag:
https://ms-perspektive.de/kolumne-94-von-matthias-horx-die-kunst-des-siegens
Diesmal veröffentliche eine Kolumne von
Matthias Horx zur Ukraine-Krise in
Text- und Audioform. Mir hat es gut
getan, den Beitrag zu lesen. Ich habe
darin eine Erklärung für meine
Zerrissenheit bezüglich der Maßnahmen
gefunden, auf welche militärische Art
die Ukraine unterstützt werden sollte,
aber auch Hoffnung, dass sich ein
derartiger Angriffskrieg langfristig
immer zu einer Niederlage für den
Aggressor herausstellen wird.
Vielleicht hilft es Dir auch.
Der nachfolgende Text stammt aus der
Zukunfts-Kolumne von Matthias
Horx:
www.horx.com/die-zukunfts-kolumne
Siehe auch: www.zukunftsinstitut.de.
Kann die Ukraine tatsächlich diesen Krieg
„gewinnen“?
Über politische Klugheit und die Weisheit
der Zukunft.
www.facebook.com/woskerskiART
„Wenn du dich und den Feind kennst,
brauchst du den Ausgang von hundert
Schlachten nicht zu fürchten.
Wenn du dich selbst kennst, doch nicht
den Feind, wirst du für jeden Sieg, den
du erringst, eine Niederlage
erleiden.
Wenn du weder den Feind noch dich
selbst kennst, wirst du in jeder
Schlacht unterliegen.“
— Sun Tzu, Die Kunst des Krieges
1. Die Botschaft des Dr. Seltsam
Vor knapp sieben Jahren, im Juli 2015,
kam es in Wladimir Putins
Staatsresidenz, 30 Kilometer vor
Moskau, zu einer denkwürdigen
Begegnung. Oliver Stone, der
Regisseur des amerikanischen
Moral-Humanismus, Vietnam-Veteran und
Regisseur von Filmen wie Platoon oder
JFK, drehte einen Dokumentarfilm über
den Staatsmann Putin.
Um sich ihm zu nähern, führte er dem
heutigen russischen Diktator einen Film
vor.
Der Film hieß „Dr. Seltsam oder wie ich
lernte, die Bombe zu lieben.“ Ein
Meisterwerk von Stanley Kubrick aus dem
Jahr 1964.
Und das beste: Oliver
Stone filmte die
Reaktionen Putins:
www.irishtimes.com
In Kubrick‘s Apokalypse-Komödie kommt
ein halbverrückter Spieltheoretiker und
„Prophet“ mit seltsamem Akzent vor (Dr.
Seltsam, gespielt von Peter Sellers).
Dr. Seltsam weiß alles über die
Zukunft, und weil er alles weiß, ist er
verrückt geworden. Eine weitere
Schlüsselrolle spielt ein
amerikanischer General, der besessen
ist von der Idee, die Kommunisten
hätten chemische Substanzen ins
Trinkwasser gemixt, um die „bodily
fluids“ der Amerikaner zu verderben.
Männer werden dadurch impotent.
Querdenker gab es auch damals schon.
Nicht nur im Film wimmelte es von
Verschwörungsdenkern.
Im Plot von „Dr. Seltsam“ wird das
Konzept der nuklearen Abschreckung
durch einen „system flaw“ – einen
idiotischen Zufall – ausgehebelt. Die
Strategen des CIA haben „zufällig“
vergessen, der russischen Gegenseite
mitzuteilen, dass sie eine
DOOMSDAY-Maschine konstruiert haben.
Einen automatischen Startmechanismus
der Atomraketen für den Fall eines
Angriffs. Falls der Präsident zögern
sollte, den roten Knopf zu drücken,
werden alle Raketen und Bomber im Fall
eines Angriffs unverzüglich auf RED
ALERT und Abschuss gestellt.
Deshalb lässt sich ein Irrtum nicht
mehr korrigieren.
Am Schluss reitet ein amerikanischer
Bomberpilot juchzend auf einer
Wasserstoffbombe auf Russlands Boden
zu. Er sieht die Bombe als ein wildes
Pferd, das er zähmen muss.
Das Narrativ des Cowboys, eines
uramerikanischen Motivs.
Wladimir Putin und der Regisseur Oliver
Stone beim Viewing des Films „Dr.
Seltsam oder wie ich lernte die Bombe
zu lieben“, Juli 2015
www.irishtimes.com
Putin fiel zu dem Film irgendwie nicht
viel ein. „Es gibt einiges in dem
Film, was uns nachdenklich macht…“,
sagte er im anschließenden
Gespräch. „Eigentlich hat sich ja
seitdem nicht viel verändert… Es ist
heute noch schwieriger und gefährlicher
solche Waffensysteme zu kontrollieren…“
www.irishtimes.com
Beim Abgang überreicht Stone Putin
einen Umschlag mit der DVD des Films.
Putin tritt durch eine Tür, öffnet den
Umschlag, und kommt noch einmal
zurück.
„Typisches amerikanisches Geschenk!
Nichts drin!“
Er hält die leere Hülle der DVD in den
Händen.
Oliver Stone entschuldigt sich und holt
die DVD aus dem Abspielgerät.
Man verabschiedet sich.
2. Schwere Waffen
Kann die Ukraine diesen Krieg wirklich
gewinnen?
Darüber bilden sich jetzt in Medien,
Köpfen, Gefühlen rasch neue
Deutungs-Mehrheiten.
Die russische Offensive, so heißt es,
hat sich vor den Toren Kiews
festgelaufen.
Putin hat sich „verkalkuliert“.
Wir müssen den Ukrainern einfach
SCHWERE WAFFEN liefern! Das ist das
GEBOT der Stunde!
Dann können sie diesen Krieg
gewinnen.
All das klingt betörend. Einfach.
Geboten eben. Aus moralischen,
kriegstaktischen Gründen. Aus dem Recht
auf Selbstverteidigung heraus. Auch aus
Scham und Schuldgefühl: „Wie konnten
wir nur solange stumm zusehen!?“
Wer, außer den rechten Populisten und
den wackeren Friedens-Fundamentalisten,
möchte das nicht: Dass die tapferen
Ukrainer, die auch für unsere Freiheit
kämpfen, den Usurpator besiegen?
Aber was ist das überhaupt?
Siegen?
3. Das Abschreckungs-Paradox
In Los Alamos, dem Zentrum der
amerikanischen Bombenforschung, war die
Atombombe in den letzten Kriegsjahren
unter ungeheurem Aufwand von Geist und
Geld als ein Instrument erfunden
worden, grausame Massen-Kriege für
immer zu beenden (siehe dazu die
ergreifende Serie „Manhattan“, bei
Amazon Prime).
www.amazon.de/Manhattan-Staffel-1-dt-OV
Führend bei der Entwicklung dieser
Massenvernichtungswaffe, waren
Wissenschaftler, die den „killing
fields” Europas entkommen waren.
Ungarische Mathematiker. Jüdische
Emigranten, die ihre Verwandten in den
Nazi-Konzentrationslagern verloren
hatten, nicht wenige von ihnen aus dem
Gebiet, der heutigen Ukraine. Physiker,
die dem linken Humanismus nahestanden,
wie Edward Teller. Einige dieser
Wissenschaftler gingen von Los Alamos
direkt hinüber ins Lager der
Spieltheoretiker, etwa John von
Neumann, ein genialerer Kybernetiker
und Quantenphysiker (siehe
auch meine Kolumne „Future War“).
In den frühen 60er Jahren erarbeiteten
die Spieltheoretiker in den
amerikanischen Think-Tanks das Konzept
der nuklearen Abschreckung. Ein
regelbasiertes Spiel, das den Untergang
der Menschheit durch die Möglichkeit
des Untergangs verhindern sollte.
Wenn beide Parteien den anderen
vernichten können.
Und beide Parteien WISSEN, dass ein
Erstschlag durch einen umso
vernichtenderen Zweitschlag beantwortet
wird.
Wird keiner mit der Weltzerstörung
anfangen.
Auch mörderische konventionelle Kriege,
wie in den zwei Weltkriegen, könnten so
vermieden werden.
Denn die könnten ja jederzeit
eskalieren.
Allerdings verhedderten sich die
Spieltheoretiker im Laufe ihrer Arbeit
in immer mehr Paradoxien. Je mehr sie
rechneten und rechneten, modellierten
und modellierten, umso weniger ging
ihre Rechnung vom „Gleichgewicht des
Schreckens“ auf.
Der Bomberkommandant auf dem Ritt in
die Apokalypse
Screenshot: www.moviepilot.de
Was Kubricks Dr. Seltsam auf den Punkt
brachte, offenbarte sich immer
deutlicher:
Gleichgewichte des Schreckens
funktionieren nur bei perfekter
Information.
Und: Es kommt vor allem auf die
KOMMUNIKATION an, ob ein Regelsystem
hält.
Information kann jedoch ebenso wenig
„perfekt“ sein wie Kommunikation.
Beides ist störanfällig, manipulierbar,
verrauscht. Und hängt letztlich vom
menschlichen Willen ab.
Wenn Information und Kommunikation
chaotisch werden, fällt man leicht in
Verschwörungswahn und tief eingelernte
Reflexe zurück.
Etwa in den Cowboy-Wahn.
Die Idee, die ganze Welt befreien und
zähmen zu müssen.
Oder den Zaren-Wahn.
Die Vorstellung, das größte, beste und
mächtigste Großreich aller Zeiten
besitzen zu wollen.
Der Commander in Chief fürchtet um
seine Potenz.
Screenshot: www.moviepilot.de
4. Der Ernstfall-Test
Im ersten großen Test der nuklearen
Abschreckung, in der Kuba-Krise von
1962, zwei Jahre bevor Kubrick seine
Satire veröffentlichte, saßen
Spieltheoretiker wie Thomas C.
Schelling im Krisenstab des
US-Präsidenten.
Siehe Tim Hartford, Logic of Life S. 36
ff S. 51
John F. Kennedy vermied durch seinen
hellen Geist vor allem EINEN Fehler:
Die Entscheidungen den Militärs zu
überlassen, die ständig auf den Einsatz
„ihrer Kapazitäten“ drängten. (siehe
den Film „Thirteen Days“ von 2000). Die
Kennedy-Administration legte großen
Welt auf das rote Telefon, die
Direktverbindung zum Kreml (so wie
heute wieder das
US-Verteidigungsministerium in der
Ukraine-Krise).
Die Kuba-Krise wurde beigelegt, indem
ein „Hidden Deal“ geschlossen wurde.
Die UdSSR zog ihre Atomraketen aus Kuba
ab, und die USA ihre Atomraketen aus
der Türkei. Wichtig war, dass die
Einzelheiten des Deals nie
veröffentlicht wurden. Die Welt wurde
in aller Diskretion, ohne Beteiligung
der öffentlichen Medien und des
Propagandaapparates, gerettet.
Es gibt so etwas wie die Weisheit des
Schweigens.
5. Das Gesetz von Kraft und
Gegenkraft
Die Ukraine hat in diesem Krieg ein
Momentum genutzt, das in der
Kriegsgeschichte wohlbekannt ist. Das
Phänomen des KULMINATIONSPUNKTS DES
ANGRIFFS.
Der Historiker Wolfgang
Schivelbusch beschreibt dieses
Phänomen in seinem Buch „Rückzug –
Geschichten eines Tabus“. Es gibt in
der Militärgeschichte viele grandiose
Siege, die sich im Moment ihres
Eintretens in Niederlagen verwandelten.
In katastrophische Erfolge. Etwa
Napoleons Eroberung Moskaus im Jahr
1812. Als die Grande Armee nach 3.000
Kilometern Fußmarsch mit
Fanfarenklängen in die Stadt einzog,
ohne nennenswerten Widerstand, war die
Stadt leer. Kein Gegner in Sicht. Leere
Straßen. Verrammelte Fenster.
Die Folge war: Ratlosigkeit. Mit allem
konnte der Oberstratege Napoleon
umgehen, außer dem Mangel eines
Gegners. Dann brannten auch noch Teile
der Stadt. Chaos brach aus, die Moral
der französischen Truppen zerfiel.
Napoleons Schicksal war besiegelt.
Schivelbusch beschreibt diesen Effekt
der Sieges-Niederlage auch am Beispiel
zweier Entscheidungsschlachten der
Weltkriege, an der Marne und in
Dünkirchen. Im Ersten Weltkrieg waren
es die Pariser Taxifahrer, welche die
französischen Soldaten zur Front
fuhren, wo sie die deutsche Offensive
an der Marne zu Stillstand brachten.
Die Frontbeobachter berichteten schon
stolz davon, dass sie in ihren
Feldstechern Notre Dame sehen konnten.
Im Zweiten Weltkrieg kam es nach dem
Rückzug der englischen Armee zu einer
Reorganisation des weltweiten
Widerstands gegen Hitler.
Ähnlich war es auch in Vietnam. Im
Irak. Und in Afghanistan. Und eben auch
jetzt in der Ukraine.
„Im Moment des Angriffs mag mag der
Angreifer im Vorteil sein, wenn er mit
überlegenen Kräften angreift. Weil er
das Überraschungsmoment und die Wucht
des ersten Schlages auf seiner Seite
hat. Doch dieser Vorteil ist von kurzer
Dauer. Nach dem Prinzip des
Stundenglases oder der kommunizierenden
Röhren, kommt die Energie, die der
Angreifer durch FRIKTION verliert, dem
Verteidiger zugute. Dieser braucht nur
warten, bis sich das Kräfteverhältnis
umkehrt.“
Das nennt Clausewitz den
Kulminationspunkt des Scheiterns.
Clausewitz spricht vom „Zurückgeben des
Stoßes“ – “die Gewalt eines Rückstoßes
ist gewöhnlich viel größer, als die
Kraft des Vorstoßes war. Der Affekt
(oder Reflex) der Vergeltung vermag
Energiereserven zu mobilisieren, über
die der Angreifer nicht mehr verfügt.”
(Schivelbusch S. 66).
Eine kleine Einführung in die
systemisch-dynamische Spieltheorie
Die fundamentale Spieltheorie sagt
uns, dass es in unserem Universum
DREI Arten von „Spielen“ gibt. Diese
Abläufe beschreiben sowohl die Logik
des Lebens, der Evolution, der
Zivilisation, wie auch menschlicher
Kommunikationsprozesse.
Win-Win-Spiele, in
denen beide – oder mehrere Parteien
– gegenseitige Vorteile generieren.
Echte Kooperation, fairer Handel,
sinnvolle Arbeitsteilung,
Vertrauen, Zuneigung, Liebe,
ökologische Vielfalt – all das
erzeugt systemische Überschüsse,
die grösser sind als die Summe der
Investitionen. Durch
NON-ZERO-SUM-Games,
„Nichtnullsummenspiele“, wird die
Welt dauerhaft bereichert. Der
Komplexität wird etwas hinzugefügt.
Man könnte auch sagen: Fortschritt
entsteht.
Win-Lose-Spiele, in
denen EINE Partei verlieren muss,
wenn die andere gewinnt. Bei Tennis
etwa, siehe Boris Becker, gibt es
immer nur einen Gewinner, der alle
anderen hinter sich lässt, dabei
aber auch selbst Verluste erleidet.
In frontaler Konkurrenz,
Spekulation und Korruption
entstehen ungünstige Verluste. Auch
wenn es einen SIEGER gibt, werden
die Verluste in die Zukunft
verschoben – und kehren von dort
zurück.
Lose-Lose-Spiele, in
denen BEIDE Parteien verlieren.
Neben verheerenden Ehescheidungen
ist der Krieg das Beispiel für ein
doppeltes Verlustspiel. Krieg ist
immer eine Vernichtung von
Weltpotential, bei der auch der
Sieger verliert. Allerdings können
sich auch Kriegsgeschehen
asymmetrisch umkehren. Durch
kathartische Prozesse entstehen
neue Selbstorganisationen, aus
Chaos und Zerstörung entsteht –
irgendwann – neue Ordnung.
Aus Tod entsteht Leben.
Aus Verlust entsteht neue
Zukunfts-Energie.
Tit for Tat: Wie Du mir,
so ich Dir, revisited
Anatol Rapoport
(1911-2007) emigrierte als
11-jähriger aus dem heutigen Losowa
in der Ukraine in die USA, er lebte
in Chicago und Wien.
en.wikipedia.org
Er war Musiker, Mathematiker,
Systemwissenschaftler und Philosoph,
dazu noch Psychologe und Biologe.
Rapoport legte die Grundlagen der
angewandten Spieltheorie und teilte
„Spiele“ in mehrere Dimensionen auf:
Kampf
(„fight“): Gewalttätige
Auseinandersetzung, endet mit der
Unterwerfung oder physischen
Zerstörung des Verlierers.
Spiel
(„game“): Kräftemessen
nach festen Regeln, endet mit der
freiwilligen Aufgabe eines
Teilnehmers.
Debatte
(„debate“): Versuch,
das eigene Normen- und Wertesystem
auch dem Gegenüber schmackhaft zu
machen.
Kriege sind verschlungene Mischungen
aus allen drei Komponenten. Die von
Rapoport formulierte
Tit-for-Tat-Strategie bildet einen
wesentlichen Kern der erweiterten
Spieltheorie, die auf
Konfliktlösungen abzielt. Dabei geht
es darum, die inneren Konstruktionen
des „Gegners“ zu verstehen und zu
integrieren. Die beste Strategie, die
langfristig am meisten Erfolge zeigt,
ist eine „positive Reaktionsstrategie
mit eingebauter Flexibilität“. Sie
beinhaltet zwar das Prinzip der
Reziprozität „Auge um Auge, Zahn
um Zahn: Tue anderen so, wie sie dir
getan haben.“
Aber auch der
beschränkten Vergeltung,
um Strafen gering und
Belohnungen hoch zu halten,
unabhängig davon, wie das Gegenüber
sich verhält.
Die Strategie hat außerdem die Regel,
zu Beginn einer Interaktion auf jeden
Fall kooperativ zu
handeln.
Tit for Tat plus ist eine freundliche
Strategie mit klaren Reaktionen:
Nettigkeit: Man
beginnt das Spiel immer kooperativ.
Provozierbarkeit: Auf
unkooperatives Verhalten der
Gegenseite folgt Vergeltung. Auf
kooperatives Verhalten wird mit
Kooperation geantwortet.
Nachsichtigkeit: Sobald
die andere Partei nach einer
Defektion wieder
Kooperationsbereitschaft zeigt,
nimmt man die Kooperation wieder
auf. Trenne in Konflikten immer
Person und Verhalten!
Klarheit: Durch
die Einfachheit der Strategie ist
das eigene Verhalten leicht
berechenbar.
Siehe auch: Robert Axelrod, Die
Evolution der Kooperation, 2000
6. Das Spielfeld erweitern
Was also ist „Siegen”?
Das ist ein bisschen kompliziert. Seit
der der Zeit der „symbolischen
Schlachten”, als wohl-geordnete Heere
in Reih und Glied aufeinander
zumarschierten und irgendwann der Sieg
„ausgezählt“ wurde (headcount, meistens
sogar in Übereinkunft der
Kriegsparteien), sind lange vorbei.
Kriege sind heute nicht nur materielle
„Events“, in denen Menschenleben und
Material der Einsatz sind. Kriege sind
symbolische, politische, mentale,
semantische Geschehen, die weit über
das Schlachtfeld hinausreichen. Im
hypermedialen Zeitalter werden sie vor
allem als DISKURSE begonnen oder
beendet.
Die Angriffs-Kriege der vergangenen
Jahrzehnte – spätestens seit Vietnam –
wurden stets ASSYMETRISCH VERLOREN –
wobei Öffentlichkeiten, „public
opinions“, eine wichtige Rolle
spielten. Überlegene Feuerkraft führte
dabei immer ins Desaster, in die am
Ende klägliche Niederlage. Das haben
besonders die Amerikaner erfahren, in
Vietnam, Irak, Somalia, Afghanistan.
Und endgültig in Syrien. Seit dem
Irak-Desaster hat die Supermacht
Amerika keinen Interventionskrieg mehr
geführt.
Aus Amerikas Niederlagen hat das
russische Militär viel gelernt. Auch
Russlands militärische „Siege“ –
Grosny, Syrien etc. – entstanden aus
asymmetrischer Verschiebung. Dazu
gehörte die Strategie, die Regeln des
internationalen Rechts gnadenlos
auszuhebeln. Der russische
„Barbarismus“, in dem Kindergärten und
Krankenhäuser angegriffen werden und
jede Grausamkeit grundsätzlich der
Gegenseite angelogen wird, besteht aus
bewusstem Regelbruch. Und ist sehr
erfolgreich. Brutalisierte Gewalt gegen
die Zivilbevölkerung setzt den Gegner
und seine Verbündeten nicht nur in
Angst und Schrecken. Sondern in ein
schreckliches Dilemma: Das Paradox der
reziproken Eskalation.
Jeder Gegenangriff führt zu einer
Verschrecklichung der Situation.
Jedes Zögern ebenfalls.
Jede Zurückhaltung ist Verrat am
Menschlichen, Humanitären.
Jede Entschlossenheit auch.
Wenn man die Unterlegenen stärkt,
vermehrt man den Blutzoll.
Man macht sich schuldig.
Wenn man sich heraushält, vermehrt man
den Tod und die Verzweiflung.
Man macht sich schuldig.
Wenn man einen Krieg tatsächlich
gewinnen will, muss man das Spielfeld
erweitern. Man muss das „level playing
field“ auf eine höhere Ebene verlegen.
Und neue Mitspieler und Verbündete
finden.
Die weltweite öffentliche Meinung.
Die Interessen anderer Länder.
Globale Akteure der
Zivilgesellschaft wie UNO, NGOS,
Internationale Organisationen.Die Kraft
von Kunst und Kultur.
Kulturelle und religiöse
Institutionen.
Die Lösungen neuer
Kapitalinteressen und Technologien (Die
Energie-Revolution).
Das Einzige, was diesen Krieg wirklich
mit einer Niederlage Russlands beenden
könnte, wäre eine überwältigende
globale Mehrheit gegen den Krieg. Eine
aktive, beharrende, entschlossene
Welt-Mehrheit für die Einhaltung oder
Wiederherstellung des
Völkerrechts.
Das ist aber nicht möglich, solange die
vielen Völkerrechts-Verletzungen der
Supermacht Amerika im Raum stehen, ohne
bearbeitet und verziehen worden zu
sein. Denn der Vorwurf der Doppelmoral
ist die eigentliche semantische Waffe
in diesem Krieg.
Ukrainische Briefmarke zeigt dem
russischen Kriegsschiff Moskwa den
Mittelfinger, www.derstandard.at
Die ukrainische Regierung hat, im
Zusammenspiel mit der ukrainischen
Zivilbevölkerung, bereits eine äußerst
kluge Symbolpolitik betrieben. Sie hat
auf unvergleichliche Weise die
Selbstorganisations-Kräfte der
Bevölkerung mobilisiert. Die Ukraine
spielt ihre erfolgreichsten Spiele
nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im
kollektiven Wahrnehmungsraum. In den
globalen MEMEN, den Inszenierungen der
Widerstands-Empathie. David gegen
Goliath, ein Kampf auf dem moralischen
Spielfeld.
Für den Frieden jedoch ist die Moral
eine ungünstige Währung. Sie wirkt ja
immer auf beiden Seiten, dient als
Bestätigung, Rechtfertigung, ja
Begründung der Gewalt.
7. Die dunkle Resonanz
Die acht Szenarien, die ich in Kolumne
Nr. 92 beschrieben habe, verdichten
sich immer mehr zu einem
wahrscheinlichen Verlauf. Die östliche
Ukraine wird besetzt, durch eine Orgie
der Zerstörung, in der das russische
Militär noch einmal alle seine
Grenzüberschreitungen vorführt.
Wie weit das gehen wird, wissen wir
nicht.
Hier rollt der historische Würfel des
Zufalls.
Die Zerstörung wird dann als Sieg
verkauft werden.
Doch die Eroberung eines auf Jahrzehnte
verseuchten und verminten
Ruinen-Trümmerfelds, das man selbst
erzeugt hat, erfordert einen hohen
Preis. Eine gigantische Minus-Rechnung
muss in einen Triumph umgedeutet
werden.
Damit könnte sich das Imperium, wie
schon viele Imperien zuvor,
überheben.
In Andrei Tarkowskis dystopischem
Film STALKER reisen drei
Personen in eine radioaktive
Landschaft, die den Ruinen von Mariupol
oder der Zone von Tschernobyl ähnelt.
Alles schimmelt, rostet, dampft.
Irgendwo in dieser ruinösen Landschaft
soll sich ein Raum befinden, in dem
alle Wünsche endlich erfüllt werden.
Man muss sich in diesem Raum nur das
wünschen, was man wirklich will. Die
Reisenden erreichen diesen Raum nie.
Sie vergessen unterwegs, was sie sich
wünschen könnten. Sie zerstreiten sich
darüber, was überhaupt wünschenswert
sein könnte. Und ob man diesen Raum
nicht lieber zerstören sollte. Weil er
gefährlich ist.
8. Cyber-Nations
Zu den Erweiterungs-Optionen des
Spielfelds gehört auch das, was man die
ankommende Emigration nennen könnte.
Aus Vertreibung wird dann
Migration.
Vertreibung ist immer ein schrecklicher
Heimatverlust. Aber es kann auch ein
kreativer Welt-Zugewinn werden. So, wie
die jüdischen Künstler und
Intellektuellen, die Wiener und
Berliner Physiker und
Naturwissenschaftler im Zweiten
Weltkrieg „den Westen“ bereicherten,
werden Millionen Ukrainer UND Russen zu
einer globalen Bereicherung führen. Der
größte Kriegsverlust Russlands ist der
„brain drain“, der Verlust von
unfassbar vielen Talenten, humanen
Potentialen, kreativen Menschen. Der
zweite Weltkrieg wurde nicht zuletzt
dadurch entschieden, dass Millionen von
Menschen in ihren Aufnahme-Ländern
große Potentiale von Wissen, Energie
und Wandel freisetzten.
Hier könnte das vielgerühmte
„Metaverse“ endlich einmal zeigen, was
es kann. Stellen wir uns vor: In einer
neuen CYBER-NATION tun sich die
Dissidenten Russlands UND die
Vertriebenen der Ukraine zusammen.
Solche virtuellen Neu-Staaten können im
21. Jahrhundert reale Machtpotentiale
entwickeln. Sie können intensiv auf die
Ursprungsländer zurückwirken. Das
virtuelle Territorium wird wichtiger
als das physische Territorium. Die
Besatzung wird sinnlos. Sie scheitert
an sich selbst.
9. Bewaffneter Pazifismus
Vielleicht lässt es sich nicht
verhindern, dass die Ukrainer nun
SCHWERE WAFFEN erhalten. Manchmal
entwickeln sich die Dynamiken in einer
Weise, in der sie nicht aufzuhalten
sind.
Die buddhistische Lebensweisheit geht
von einer wichtigen Differenz zwischen
MITLEID und MITFÜHLEN aus. Während
Mitleid immer auch einen narzisstischen
Aspekt hat – es zieht uns in das Leiden
und die Angst mit hinein, es bindet uns
an unsere affektive Reaktion – führt
Mitgefühl zu einer Zuneigung, in der
wir in Empathie einen kühlen Kopf
bewahren können.
Auch dieser Krieg wird nur asymmetrisch
zu gewinnen sein.
Wenn „wir“ den Ukrainern schwere Waffen
liefern, nehmen wir ihnen womöglich
ihre wahre Möglichkeit auf Erfolg. Es
könnte sein, dass wir ihren
asymmetrischen Sieg verhindern, indem
wir sie ihrem Gegner angleichen.
Zum Siegen gehört auch, auf die
richtige Weise verlieren zu
können.
Um dann auf einer neuen Ebene
weiterzukämpfen.
Die Re-Militarisierung, die wir in
Europa nun vollziehen müssen, kann
nicht in die alten
Militarisierungsformen zurückführen.
Die Finnen haben das schon lange
verstanden, ebenso wie die Letten und
Litauer, oder die Schweizer. Ein bloßes
„Gegenrüsten“ auf derselben Ebene ist
sinnlos. Eine Gesellschaft jedoch, die
sich mit Hightech-Defensiv-Waffen und
heller Entschlossenheit ihr Land für
jeden territorialen Aggressor
„unsinnig“ machen kann, ist die
richtige Antwort auf das Ende der
nuklearen Abschreckung.
Individualismus, Vitalität, politische
Freiheit, Innovationskraft, Zivilität
und Verteidigungsfähigkeit können
erstaunlicherweise zusammengehen. Wie
die Ukraine, aber auch das Beispiel
Israel – in großen Teilen – zeigen.
Hoffen wir also auf asymmetrische
Weisheit.
Hoffen wir auf die Klugheit unserer
Politiker, in diesem Konflikt in Sinne
von Nicht-Nullsummen-Spielen zu
agieren.
Dazu bedarf es des wiederholten
Ebenenwechsels.
Vertrauen wir auf die menschlichen
Fähigkeiten, in großer Paradoxie innere
Klarheit zu behalten.
Das Spiel auf einer höheren Ebene zu
spielen.
Eine Verhandlungs-Streitmacht zu
entwickeln.
Hoffen wir auf eine neue Poesie des
Friedens.
Ein Spielfeld, das sich aus der Zukunft
heraus entfaltet.
P.S.:
Dieser Text bezieht sich auf eine
Unmenge kluger und weniger kluger
Gedanken in der momentanen
Kriegsdebatte. Sehr wertvoll war ein
Interview mit dem ehemaligen Pazifisten
Arvid Bell, der heute eine „Negotiation
Task Force“ an der Harvard University
führt, die die Rolle von
Verhandlungsstrategien in
internationalen Konflikten erforscht
(„Der Westen nimmt sich wichtiger, als
er noch ist“, ZEIT online 17. April
22). Und ein Hinweis auf den
wunderbaren Text „Ukraine is our Past
and Future“ des Journalisten und
Filmproduzenten Peter
Pomerantsev, veröffentlicht in
TIME Magazine, 6..4.22:
Once again, Ukraine is making us
rethink our values, our laws, our
policies, our defense. This war is not
just a problem you can localize to
Russia-Ukraine. There’s an increasingly
coordinated network of dictatorships
and soft authoritarians who think the
21st century belongs to them. Working
out how to help Ukraine win is the
first step to fathom this defining
question. As so many times a global
fault-line in our thinking, one that we
wanted to ignore, is being made
apparent in Ukraine. The Ukrainian
writer Igor Pomerantsev once defined
poetry as a bat flying through the
night suddenly illuminated in the
flashlight of our focus. That metaphor
can apply to politics as well. Ukraine
is the place where the invisible is
surfaced, where the suppressed will be
remembered, where horror is made into
meaning. For their freedom and
ours.
www.time.com
Geboren in Kiew, aufgewachsen in
Deutschland, lebt Peter Pomerantsev
heute in London. Er ist Autor des
Buches “Nothing is true and everything
ist possible” und “This Is Not
Propaganda: Adventures in the War
Against Reality”.
Ein großes Dankeschön an Matthias Horx
für den interessanten Beitrag und die
freundliche Erlaubnis ihn teilen zu
dürfen!
Ich hoffe, es hilft Dir vielleicht
wieder etwas mehr mit Mitgefühl auf den
Konflikt zu schauen und dabei dennoch
aktiv und handelnd zu bleiben, statt im
Dunkel zu versinken.
Alles liebe und bestmögliche Gesundheit
wünscht Dir,
Nele
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