#102 — Interview mit MS-Patientin Johanna zu ihren Erfahrungen mit der Stammzelltherapie

#102 — Interview mit MS-Patientin Johanna zu ihren Erfahrungen mit der Stammzelltherapie

Heute begrüße ich Johanna alias  zum Interview. Sie lässt uns an ihren Erfahrungen mit der Stammzelltherapie teilhaben – wie sie ihre Entscheidung getroffen hat, das ganze Prozedere ablief und wie es nun weitergeht. Vorstellung Johanna...
52 Minuten

Beschreibung

vor 3 Jahren









Heute begrüße ich Johanna
alias @multiple_sichtweisen zum
Interview. Sie lässt uns an ihren Erfahrungen mit
der Stammzelltherapie teilhaben – wie sie ihre
Entscheidung getroffen hat, das ganze Prozedere
ablief und wie es nun weitergeht.
Vorstellung

Johanna ist 34 Jahre alt, frisch verheiratet und
lebt in der Schweiz. Ursprünglich stammt sie aus
Franken, hat eine Ausbildung in der Gastronomie
absolviert und arbeitet mittlerweile in einem
Bürojob in Deutschland.

















MS Verlauf und Stammzelltherapie Wann hast du die
Diagnose MS erhalten und welches Symptom stand am
Anfang?

Ende 2011 habe ich beim Auto fahren den
Gegenverkehr nicht mehr erkannt und konnte nicht
mehr weiterfahren. Zuerst bin ich zum Augenarzt,
aber dieser schickte mich in die Neurologie, weil
er nichts finden konnte. In der Uniklinik in
Würzburg wurden dann Nervenwasser entnommen und
verschiedene Test gemacht und es kam der Verdacht
der MS auf. Nach dem ersten MRT Anfang 2012 wurde
der Verdacht bestätigt. Also es fing, wie bei
einigen Patienten mit einer Sehnerventzündung an.
Wie hast du die Diagnose aufgefasst?

Ehrlicherweise wusste ich nicht, was MS genau
bedeutet und das fatale war dann, dass ich alles
gegoogelt hab. Über Google erfährt man fast nur
die schlimmsten Geschichten und deswegen war es
für mich sehr emotional und ich machte mir viel
Gedanken über die Zukunft.
Welche Verlaufsform und Aktivität der MS hast
du?

Ich habe die schubförmige MS. Vor der Therapie
stand in Abklärung, ob ich am Anfang einer
sekundären progredienten MS stehe, da sich meine
Gehbehinderung konstant verschlechterte.
Hast du eine verlaufsmodifizierende Therapie
oder sogar mehrere ausprobiert?

Ja, ich hab einige Therapien von Tablette über
Spritze ausprobiert.
Wie entstand die Idee der Stammzellentherapie
als Behandlung bei dir?

Da sich meine Gehbehinderung immer mehr
verschlechterte und ich meinen Hobbys nicht mehr
nachgehen konnte. Ich hatte das Gefühl, mein
Leben nicht mehr so weiterführen zu können wie
bisher. Deshalb waren mein Mann und ich auf der
Suche nach Alternativen und Dave ist auf der
Suche auf diese Chance gestoßen.
Wie lange hast du für die Entscheidung
gebraucht die Stammzelltherapie durchzuführen und
was hast du dabei gegeneinander abgewogen?

Da ich öfters in ein Loch gefallen bin und ich
keine Kraft mehr hatte, war die Entscheidung
recht schnell getroffen. Im Unispital Zürich wird
die Transplantation durchgeführt und über die
Webseite konnte ich mich ein wenig einlesen. Als
ich das Kontaktformular gesehen habe, habe ich es
spontan ausgefüllt und abgewartet was
passiert.
Ich hatte so die Hoffnung, dass ich mein altes
Leben wieder ein Stück zurückholen kann. Ich
wollte wieder mobiler sein und ich wollte für
meinen Mann kein Pflegefall werden.
Hast Du Dir eine Zweitmeinung eingeholt?

Nein. Ich habe die Therapie lediglich mit meinem
Mann durchgesprochen und er meinte, dass er mich
in allem unterstützt, was mir Hoffnung schenkt.
Er kann es selbst nicht nachempfinden, aber
erlebt mich auch, wenn es mir nicht gut geht.
Deswegen kann er es am besten Nachempfinden,
wieso ich mich für diese Therapie entschieden
habe.


Bevor ich das ok für die Therapie bekommen habe,
wurde ich auf Herz und Niere getestet und mein
„Fall“ wurde im Neuro-Board vom Unispital Zürich
mit verschiedenen Ärzten besprochen. Das
heißt, ich habe den Ärzten vertraut und mir
gedacht, wenn sie Bedenken hätten, würden sie es
nicht machen. Alle Patienten werden unter die
Lupe genommen und es wird mit Fachärzten genau
besprochen.


Als sie mir mitteilten, dass ich in Frage komme,
habe ich gleich zugesagt.
Wie musstest du dich auf die
Stammzellentherapie vorbereiten? Was galt es vorab
zu organisieren?

Vom Spital bekommt man Infomaterial über die
Therapie und mögliche Nebenwirkungen. Zudem
erhielt ich Empfehlungen, was ich vorab zum
Vorbeugen kaufen kann. Ich habe zum Beispiel
weiche Zahnbürsten, pH-neutrales Shampoo,
Bodylotion und Mundziehöl gegen
Mundschleimhautentzündung gekauft.


Nach der Therapie bekam ich einen genauen
Essensplan, an den ich mich halten muss, um
Infektionen zu umgehen. Die Speisen sind all gut
verträglich für meinen geschwächten Körper.

















Wie lange hat die eigentliche Behandlung gedauert
und wie lief sie ab?

Angefangen hat es mit zwei Mobilisierungschemos.
Danach musste ich mich noch bzw. mein Mann mich 7
Tage daheim selbst spritzen, damit mehr
Stammzellen produziert werden. Die Stammzellen
gehen ins Knochenmark über und können dann
entnommen werden.


Als genug Stammzellen vorhanden waren, wurden sie
über eine Apherese entnommen und dann
eingefroren.


Nach Entnahme der Stammzellen hätte man
normalerweise gewartet, bis ich mich wieder
erholt habe. Also 2-3 Wochen später wäre es
weitergegangen.


Bei mir kam aber Corona dazwischen. Sie mussten
garantieren, dass ich einen Platz auf der
Intensivstation bekommen könnte. Aber dank Corona
wurden keine Therapien mehr bei nicht
lebensbedrohlichen Krankheiten durchgeführt.


Ich war also nach den ersten beiden Chemos wieder
auf Arbeit und wusste nicht, wann es endlich
weitergeht.


Anfang Februar habe ich dann die Info erhalten,
dass es jetzt weitergehen kann. Da die
Stammzellen eingefroren waren, konnten wir
weitermachen, wo wir aufgehört hatten.


Ich habe einen zentralen Venenkatheter am
Schlüsselbein bekommen. So konnten alle Chemos
und Medikamente gegen Übelkeit, Schmerzen etc.
über einen Zugang laufen und ich musste nicht
jeden Tag gespritzt werden.


Ich habe dann an fünf aufeinanderfolgenden Tagen
fünf weitere Chemos bekommen.


Nach den fünf Chemos und einem Tag Pause habe ich
meine Stammzellen wieder transplantiert bekommen
und am nächsten Tag noch eine Infusion mit
Antikörpern bekommen.


Damit waren dann wirklich alle Leukozyten (weiße
Blutkörper) aus allen Zellen und aus dem
Immunsystem vernichtet und mein Immunsystem
konnte wieder neu aufgebaut werden.


Die Therapie an sich dauerte nur eine Woche, aber
ich musste solange im Spital bleiben, bis die
Aplasie Phase vorbei war, also die Phase, in der
das Blutbild stark eingeschränkt ist und ich
infektionsanfällig war.


Die Ärzte sagen, dass man ca. 4 Wochen im Spital
bleiben muss. Ich habe alles sehr gut vertragen
und konnte schon nach 2,5 Wochen wieder nach
Hause.
Wie war das Zimmer ausgestattet und konntest du
Besuch empfangen?

Das Zimmer war riesig groß, mit Blick auf dem
Zürchersee, Leisten zum Aufhängen von Bildern und
Postkarten. Es hatte sogar einen Stepper, den man
benutzen kann, wenn man die Kraft hat. 


Ich habe mir also mein Zimmer mit vielen Bildern
und Fotobüchern für positive Erinnerungen
heimelig gestaltet. So machte ich mir den
Aufenthalt so gemütlich wie möglich.


Mein Zimmer hatte große Fenster, die allerdings
nicht geöffnet werden konnten, da sonst Bakterien
reinfliegen können. Ich bekam also nur durch eine
Lüftung frische Luft und musste den
Spital-Schlafanzug ganztags anziehen, der täglich
gewechselt wurde, damit alles steril ist.


Während des Aufenthaltes kam regelmäßig ein
Physiotherapeut vorbei und hat mit mir Übungen
gemacht. Darüber hinaus besuchten mich regelmäßig
Ernährungsberaterin, Psychologe, Seelsorger und
der behandelnde Neurologe. Also ich war wirklich
gut aufgehoben und fühlte mich echt wohl, so
wohl, wie man sich für so eine Therapie fühlen
kann.


Durch Corona war der externe Besuch stark
eingeschränkt, aber mein Mann durfte mich jeden
Tag besuchen. Aus Schutz gegen Bakterien musste
er zwar einen speziellen Anzug anziehen, Maske
tragen und kam nur durch eine Schleuse zu mir,
aber da war die Sicherheit auch wichtiger und es
war ok.
Welche Maßnahmen kamen nach der eigentlichen
Stammzellentherapie?

Drei Monate nach der Therapie, hat mich die
Neurologie automatisch zur Reha angemeldet. Sie
warten immer ein paar Wochen, bis die Patienten
wieder ein wenig zu Kräften gekommen sind, weil
Reha sonst nicht so effektiv ist. In der Schweiz
wird Reha von der Krankenkasse bezahlt und läuft
nicht, wie in Deutschland über die
Rentenversicherung. Sie haben eine
Kostengutsprache erstellt und es wurde für drei
Wochen genehmigt. Da mir der Aufenthalt sehr
guttat, habe ich sogar um eine Woche verlängert.


Auf Reha hatte ich Physio-, Ergo- und
Wassertherapie, Logopädie, medizinische Massage
und bei Bedarf psychologische Unterstützung. Also
ein Rundum-Sorglos-Paket.


Da mein Immunsystem komplett resettet wurde, habe
ich auch einen Impfplan bekommen, da keine
Impfung mehr vorhanden ist und ich den ganzen
Schutz neu benötige.


Drei Monate nach der Therapie konnte ich mit den
ersten Impfungen anfangen. Auch die
Kinderkrankheiten Masern, Mumps, Röteln muss ich
nachholen. Da das ein Lebendimpfstoff ist, kann
ich diese allerdings erst nach 2 Jahren
nachholen.
Wie fühlst Du Dich jetzt? Und wie geht es in
Bezug auf die MS weiter?

Ich fühle mich gut. Ich merke, dass ich noch
nicht voll bei Kräften bin und langsam machen
muss, aber ich habe die Therapie nicht bereut.
Ich kann zwar noch nicht weit laufen, aber ich
bewege mich wesentlich sicherer und hab es
geschafft innerhalb eines halben Jahres von EDSS
4,0 auf 3,0 zu kommen.


Die Therapie war nie darauf ausgelegt, dass es zu
Besserung kommt, sondern hauptsächlich, dass die
MS gestoppt wird, aber ich hoffe dennoch, dass
das Laufen besser wird.


Ich habe bezüglich meiner Gehbehinderung noch
einige Therapien wie Osteopathie, Hippotherapie,
Physiotherapie. Ich muss noch geduldig sein, aber
bin überzeugt, dass ich auf einem guten Weg bin.
Wer hat die Kosten für die Stammzelltherapie
getragen?

In der Schweiz läuft die Therapie aktuell bis
2024 über eine Registerstudie und wird von der
Schweizer Krankenkasse gezahlt.


Die Ergebnisse der Studie entscheiden dann, ob
die Transplantation in den Krankenkassenkatalog
übernommen wird und von ihr bezahlt werden muss.
Was war dein tiefster Punkt mit der MS und wie
hast du dich wieder empor gekämpft?

Ich war immer sportlich – Inliner fahren, Joggen,
Zumba, Volleyball…


Vor ca. 4 Jahren hat meine Gehbehinderung
angefangen und ich konnte das linke Bein nicht
mehr heben und konnte nur noch kleinere Strecken
laufen. Ich war auf Gehhilfen angewiesen.


Angefangen mit einem Gehstock bis zum Rollator.
Meine Hobbys und mein gelernter Beruf
(Hotelfachfrau) wurden mir genommen und ich hatte
das Gefühl mir komplett ein neues Leben aufbauen
zu müssen.


Es fällt mir immer noch schwer, Hilfe anzunehmen,
aber ich lerne, dass es ok ist und ich froh sein
kann, dass es heutzutage verschiedene
Möglichkeiten wie E-Bike etc. gibt.
Haben sich bestehende Symptome verbessert, seit
der Stammzelltherapie?

Wie bereits erwähnt, hat sich mein EDSS
verbessert, ich muss zwar regelmäßig Pausen
einlegen, aber habe das Gefühl fitter zu sein und
Schmerztabletten hab ich gesenkt von 3-4/Tag auf
2-3/ Monat und mein Sichtbild war vorher immer
schwammig und das ist jetzt auch stabil.
Was rätst du anderen MS-Patienten, die über
diese Form der Therapie nachdenken?

Sobald man verschiedene Therapien bereits
ausprobiert hat und es konstant schlechter wird,
würde ich die Möglichkeit der Therapie abklären
und mich beim Neurologen erkundigen, damit man
rechtzeitig den Weg einschlägt.

















Was machst du, wenn du Symptome der MS verspürst?

Bei mir habe ich gemerkt, dass Schlaf sehr hilft
und ich versuche mit meiner Atmung meinen Fokus
auf mich zu legen und ich Ruhe benötige. Bei
Schwindel hilft mir immer ein Kühlpad im Nacken.
Gibt es einen großen unerfüllten Wunsch?

Aktuell wünsche ich mir, dass mein Mann und ich
2022 endlich ohne Angst und Maske unsere freie
Trauung nachholen können.


Wir haben vor Corona am 20.2.2020 standesamtlich
geheiratet und mussten die Feier schon 2x wegen
Corona und der Therapie verschieben. Unseren
ersten Hochzeitstag verbrachten wir im Spital und
ich freue mich schon riesig darauf, die Feier
unbeschwert nachholen zu können.
Blitzlicht-Runde Was war der beste
Ratschlag, den du jemals erhalten hast?

Als Ratschlag kann ich sagen, dass man viele
Situationen im Krankheitsverlauf zusammen besser
bewältigen kann. Wer alleine bleibt, vergräbt
sich immer tiefer.


Nichts runterschlucken, auch wenn man es zum
hundertsten Mal erzählt. Es ist sehr wichtig,
dass man darüber spricht, sonst kann man die
Krankheit nicht verarbeiten, geschweige denn
akzeptieren. Also es ist allgemein wichtig, Hilfe
anzunehmen, und sich nicht schuldig fühlen.
Wie lautet dein aktuelles
Lebensmotto?

Hinfallen, aufstehen, Krone richten,
weitergehen…und never give up.
Vervollständige den
Satz:
„Für mich ist die Multiple Sklerose…


…Fluch und Segen zugleich. Ich musste mein Leben
in vielen Dingen ändern/anpassen. Ich würde gerne
wieder unbeschwert Städte besichtigen oder in die
Berge wandern gehen, aber leider geht das nicht
mehr.


Die MS zwingt mich also, mein Leben neu
aufzubauen, was mir noch verdammt schwerfällt,
aber gleichzeitig habe ich auch gelernt, ein
wenig egoistischer zu sein, und mehr auf mich
selbst zu achten. Ich muss nicht mehr überall
dabei sein und mach nicht mehr alles auf einmal,
sondern konzentriere mich auf mich und muss es
nicht mehr jedem Recht machen.
Welche Internet-Seite kannst du zum
Thema MS empfehlen?

DMSG finde ich eine sehr gute Gesellschaft und
auch „trotz MS“ ist eine sehr gute Kampagne, bei
der man viele Antworten und Hilfe bekommt.
Welches Buch oder Hörbuch, das du
kürzlich gelesen hast, kannst du uns empfehlen und
worum geht es darin?

Das Café am Rande der
Welt und Wiedersehen
im Café am Rande der Welt. Es geht um
den Sinn des Lebens und zeigt neue Sichtweisen
des Lebens auf. Regt zum Nachdenken an und ist
eine leichte Lektüre.
Hast du einen Tipp, den du deinem jüngeren Ich
geben würdest, für den Zeitpunkt der Diagnose?

Nicht googeln. Da erfährt man nur die schlimmsten
Dinge. Und frühzeitig mit starken Medikamenten
anfangen, damit man von Anfang an gut aufgestellt
ist und präventiv gegen Beeinträchtigungen
arbeitet.
Möchtest du den Hörerinnen und Hörern noch
etwas mit auf dem Weg geben?

Denk dran, dass du die wichtigste Person bist,
und gib gut auf dich acht.
Wo findet man dich im Internet?

Auf Instagram
unter @multiple_sichtweisen.


++++++++++++++++++++
Vielen Dank an Johanna für das geführte Interview
und die gewährten Einblicke.


Bestmögliche Gesundheit wünscht dir,
Nele


Mehr Informationen rund um das Thema MS erhältst
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Hier findest du eine Übersicht zu
allen bisher veröffentlichten
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