(43) Johann Wolfgang von Goethe »Wilhelm Meisters Lehrjahre«

(43) Johann Wolfgang von Goethe »Wilhelm Meisters Lehrjahre«

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Beschreibung

vor 15 Jahren
Achtzehntes Kapitel Er war, man darf sagen, auf dem Theater geboren
und gesäugt. (…) Leider mußte er den Beifall, den er an glänzenden
Abenden erhielt, in den Zwischenzeiten sehr teuer bezahlen. Sein
Vater, überzeugt, daß nur durch Schläge die Aufmerksamkeit der
Kinder erregt und festgehalten werden könne, prügelte ihn beim
Einstudieren einer jeden Rolle zu abgemessenen Zeiten; nicht, weil
das Kind ungeschickt war, sondern damit es sich desto gewisser und
anhaltender geschickt zeigen möge. (…) Er wuchs heran und zeigte
außerordentliche Fähigkeiten des Geistes und Fertigkeiten des
Körpers und dabei eine große Biegsamkeit sowohl in seiner
Vorstellungsart als in Handlungen und Gebärden. Seine
Nachahmungsgabe überstieg allen Glauben. Schon als Knabe ahmte er
Personen nach, so daß man sie zu sehen glaubte, ob sie ihm schon an
Gestalt, Alter und Wesen völlig unähnlich und untereinander
verschieden waren. Dabei fehlte es ihm nicht an der Gabe, sich in
die Welt zu schicken, und sobald er sich einigermaßen seiner Kräfte
bewußt war, fand er nichts natürlicher, als seinem Vater zu
entfliehen, der, wie die Vernunft des Knaben zunahm und seine
Geschicklichkeit sich vermehrte, ihnen noch durch harte Begegnung
nachzuhelfen für nötig fand. Wie glücklich fühlte sich der lose
Knabe nun in der freien Welt, da ihm seine Eulenspiegelspossen
überall eine gute Aufnahme verschafften. (…) Er schien hingerissen
und lauerte auf den Effekt, und sein größter Stolz war, die
Menschen stufenweise in Bewegung zu setzen. (…) Dabei aber war
seine Selbstigkeit äußerst beleidigt, wenn er nicht jedem gefiel
und wenn er nicht überall Beifall erregte. Wie dieser zu erlangen
sei, darauf hatte er nach und nach so genau achtgegeben und hatte
seinen Sinn so geschärft, daß er nicht allein bei seinen
Darstellungen, sondern auch im gemeinen Leben nicht mehr anders als
schmeicheln konnte. Und so arbeitete seine Gemütsart, sein Talent
und seine Lebensart dergestalt wechselsweise gegeneinander, daß er
sich unvermerkt zu einem vollkommnen Schauspieler ausgebildet sah.
Ja, durch eine seltsam scheinende, aber ganz natürliche Wirkung und
Gegenwirkung stieg durch Einsicht und Übung seine Rezitation,
Deklamation und sein Gebärdenspiel zu einer hohen Stufe von
Wahrheit, Freiheit und Offenheit, indem er im Leben und Umgang
immer heimlicher, künstlicher, ja verstellt und ängstlich zu werden
schien.

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