Wenn dir das Leben Zitronen gibt … kleine kritische Würdigung der Positiven Psychologie

Wenn dir das Leben Zitronen gibt … kleine kritische Würdigung der Positiven Psychologie

6 Minuten

Beschreibung

vor 2 Jahren

Es hat uns erwischt. Wir hatten sie, die Krankheit, deren Namen
nicht genannt werden darf (... um den Algorithmus nicht zu
verärgern). Unsere komplette Familie lag mehr oder weniger
flach.
Als meine Eltern erfahren haben, dass es uns nicht ganz so gut
geht, machten sie sich natürlich Sorgen, wir könnten unter den
gegebenen Umständen verhungern. Und so haben sie für uns ein
Paket mit Essen organisiert. Wir bekamen Berge an Lebensmitteln.
Schließlich seien wir eine große Familie, meinte mein Vater. Eine
große kranke Familie braucht natürlich auch viele Vitamine und so
schickten sie uns, neben allen möglichen gesunden und weniger
gesunden Sachen, mehrer Kilos Bio Zitronen. Ich liebe meine
Eltern! Und Zitrone ist definitiv meine Lieblingsfrucht. Aber
auch wenn jeder von uns jeden Tag Ingwertee mit Zitrone, Zitrone
mit Honig, Zitrone ins Wasser, Zitrone in den Salat und
Zitronenscheiben pur zu sich nahm, durften wir trotzdem Zitronen
einlegen, damit sie uns nicht kaputt gingen.


Die liebevoll gemeinte Zitronenladung hat mich direkt an den
bekannten Spruch erinnert: Wenn dir das Leben Zitronen gibt, mach
Limonade daraus. Und das wiederum ließ mich an die vielen
positiven und gut gemeinten Sprüche und Ratschläge der Positiven
Psychologie-Szene denken.


Wer mich kennt weiß, dass ein positiver, optimistischer Blick auf
das Leben meiner inneren Haltung entspricht und Dankbarkeit zu
meinen wichtigsten Werten gehört. Ich bin auch überzeugt davon,
dass ein positiver Fokus und ein lösungsorientierter Umgang mit
Herausforderungen uns das Leben wesentlich leichter macht. Auch
mag ich motivierende Sprüche, Affirmation und positive Sprache
und nutze sie in meiner Arbeit ganz bewusst.


Und trotzdem halte ich es nicht nur für wenig hilfreich, sondern
geradezu für gefährlich, wenn wir nicht sorgsam damit umgehen. In
bestimmten Situationen empfinden wir eben Angst, Wut, Trauer ...
Und in solchen Momenten, macht es wenig Sinn, zwanghaft positive
Gedanken zu beschwören, und über unsere Empfindung Glitzerstaub
oder rosa Puder zu streuen, indem wir versuchen, sie mit einem
schlauen Spruch oder einer netten Affirmation schnell
wegzuwischen.


So wie es gefährlich ist, nicht auf seine körperlichen Symptome
zu hören und sich bei Gliederschmerzen und Fieber eine Pille
einzuwerfen und joggen zu gehen, ist es geradezu gefährlich,
Traurigkeit, Wut oder Angst einfach so wegzuaffirmieren oder sie
mit ein paar positiven Chacka-Sprüchen zu unterdrücken und mit
aller Gewalt positive Gedanken zu erzwingen. Unangenehme
Emotionen haben ihren Grund und sie wollen uns etwas mitteilen.
Sie haben eine Botschaft für uns, die wir wahrnehmen dürfen. Und
um langfristig ein gesundes und glückliches Leben leben zu
können, brauchen wir einen differenzierten achtsamen Umgang mit
unseren Emotionen. Wir dürfen uns die Zeit nehmen, sie bewusst zu
fühlen, ihnen den nötigen Raum geben und sie dann auch wieder
ziehen zu lassen.


Manchmal ist es eben sinnvoll, die “Zitrone” Zitrone sein zu
lassen, sie in Achtsamkeit zu würdigen, ohne direkt in
Aktionismus zu verfallen und hektisch anzufangen, Limonade aus
ihr zu machen.

Kommentare (0)

Lade Inhalte...

Abonnenten

15
15
:
: