Haben wir wirklich keine Zeit?

Haben wir wirklich keine Zeit?

7 Minuten

Beschreibung

vor 2 Jahren




Zeit ist relativ. Letzte Woche ist es mir wieder ganz bewusst
geworden. Eine sehr gute Bekannte ist gestorben und plötzlich
wurde das Leben für einen kurzen Augenblick angehalten. Wir waren
nicht sehr eng befreundet, aber wir haben uns immer sehr gut
verstanden und regelmäßig ausgetauscht. Sie war genau zehn Jahre
älter als ich. Und als sie vor über 12 Jahren an Krebs erkrankt
ist, habe ich oft angerufen und wir haben uns immer wieder sehr
intensiv unterhalten. Ich war damals mehr als beschäftigt, aber
das Bewusstsein, dass jedes Gespräch das letzte sein kann, hat
mich stets einen Moment finden lassen, um mich kurz bei ihr zu
melden. Mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt, dass sie nie
ganz gesund wird. Es ging ihr gut und so verschwand auch meine
Befürchtung, dass wir uns eines Tages nicht mehr hören. Unsere
Gespräche wurden seltener und kürzer. Das letzte mal haben wir
uns im April gesprochen, ganz kurz ….Immer wieder wollte ich mich
bei ihr melden, ich hatte den Impuls mal wieder anzurufen, aber
irgendwie kam ständig etwas dazwischen …Ich hatte mir auch
vorgenommen sie zu besuchen. Seit unserem letzten Umzug wohnten
wir zwar über 100 km voneinander entfernt, aber es war nicht aus
der Welt und ich war auch zu anderen Anlässen in ihrer
Heimatstadt. Es ist aber bei einem Vorsatz geblieben, denn ich
hatte keine  Zeit … meinte ich.


Die Zeit ist eben relativ. Letzte Woche war ihre Beerdigung und
oh Wunder, obwohl ich sicher nicht weniger beschäftigt war als im
Dezember,  November, Oktober oder September, hatte ich
plötzlich die Zeit. Ich habe Pläne geändert und Termine
verschoben und mir die Zeit ganz einfach genommen. Es ist mir
wichtig gewesen Abschied zu nehmen. Wäre es nicht sinnvoller
gewesen, ich hätte meinen Vorsatz umgesetzt und sie besucht, als
sie noch gelebt hat? Jetzt ist es zu spät, wir werden uns nie
wieder unterhalten und ich kann die Zeit nicht zurückdrehen.


Wie oft ist unser Leben bis zum Anschlag vollgestopft mit
Terminen und Aufgaben? Wie oft haben wir keine Zeit? Wir haben
keine Zeit für unsere Liebsten, für unsere Freunde und Bekannten,
keine Zeit für die Dinge, die uns wichtig sind und keine Zeit für
uns selbst! Wir arbeiten hart, den ganzen Tag. Häufig fangen wir
extra früh an, um mit dem Tagesgeschäft einigermaßen fertig zu
werden, oder bleiben lang nach Feierabend im Büro, damit wir
halbwegs den Aufgaben hinterherkommen, die unsere Tätigkeit so
mit sich bringt. Am Wochenende sind wir dann oft so kaputt, dass
wir keine Kraft mehr haben für die Menschen und für die Dinge,
die uns im tiefsten Inneren wirklich wichtig sind.


Tragisch daran ist, dass wir vor lauter Arbeit vergessen, was uns
wirklich, wirklich wichtig ist und was tatsächlich wertvoll ist
in unserem Leben. Wir sind beschäftigt und völlig absorbiert
davon, unseren Alltag zu bewältigen und unsere Tätigkeit zu
meistern.
Wir versuchen unser Leben im Griff zu haben, und je mehr wir das
versuchen, desto mehr entgleiten uns seine wichtigsten Aspekte
aus unserer Hand.


Aus der Perspektive des Todes ändert sich so manches. Und
vielleicht sollten wir uns öfter die Endlichkeit des Lebens vor
Augen führen und auch ohne einen traurigen Anlass innehalten und
uns die Frage stellen: Nehme ich mir genug Zeit für das, was
wirklich wichtig und wertvoll ist in meinem Leben?

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