Beschreibung

vor 4 Jahren

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Altstadtcafé


Wie jeden Freitag betritt er kurz vor 15.00 das Altstadtcafé
und setzt sich an den Tisch in der Ecke am Fenster.


Seit über 20 Jahren ist dieser Tisch von 15.00 bis 16.30
reserviert. Für ihn und seine Frau. Sie lieben dieses Café, und
vor allem diesen Tisch, weil die Sonne zu dieser Zeit so schön
auf ihn scheint und sie mit einem herrlichen Spiel aus Licht
und Schatten sowie Wärme beschenkt.


Als sie anfingen diesen Tisch so liebgewinnen, dass sie ihn
reservierten, ging er noch auf dem Amt arbeiten. Freitags
konnte er immer eher Feierabend machen und sie begannen ihr
Wochenende bei einem Kännchen Kaffee und einem Stück russischen
Zupfkuchen an ihrem Tisch, in ihrem Altstadtcafé.


Mittlerweile ist er seit über 5 Jahren Pensionär. An ihrem
Ritual, Freitags um 15.00 das Wochenende bei Kaffee und Kuchen
zu beginnen haben sie unverändert festgehalten.


Seit er nicht mehr arbeiten geht, bringt er Freitags vormittags
das Leergut weg und besorgt neue Getränke. Danach füllt er den
obligatorischen Lottoschein aus, kauft, wie seit über 20
Jahren, dieselbe Fernsehzeitung und geht zur Bank um ihr
wöchentliches Haushaltsgeld abzuholen. Mit EC Karte zu zahlen
ist ihnen ein Gräuel. Eine Kreditkarte haben sie noch nie
besessen und Euroschecks gibt es ja schon seit vielen Jahren
nicht mehr. Sie zahlen am liebsten alles in bar. Dann weiß man
stets was man ausgibt und sieht, wie viel noch im Portemonnaie
ist.


Während er Freitags vormittags seinen Erledigungen nachgeht,
geht sie in dieser Zeit in die Damensauna. Immer von 10.00 bis
14.30. In diesem Zeitraum gibt es den Frühbucherrabatt. Da
spart man bei jedem Besuch 4 Euro. Im Laufe eines Monats, vor
allem eines Jahres summiert sich das. Die gesparten 4 Euro
wandern stets in ihrem Sparschwein, welches auf der Kommode im
Flur steht.


Einmal im Jahr, in der Adventszeit, wird es geleert und sie
gehen von dem Geld ins Weihnachtsoratorium in den
altehrwürdigen Dom und danach führt er sie richtig chic und
galant in eines der besten Restaurants der Stadt aus.


Die Bedienung kommt an den Tisch. Sie ist die Besitzern und sie
kennen sich mittlerweile seit vielen Jahren. Das Altstadtcafé
ist seit Jahrzehnten ein Familienbetrieb. Einer von vielen
Gründen, warum ihnen dieser Ort so sehr ans Herz gewachsen ist.


Wie jeden Freitag bestellt er mit dem Hinweis, dass seine Frau
gleich kommen wird, 2 Kännchen Kaffee und 2 russische
Zupfkuchen. Er mag es, wenn alles schon auf dem Tisch bereit
steht, wenn sie reinkommt.


An diesem Tisch lassen sie seit über 20 Jahren die vergangene
Woche Revue passieren. Das gibt ihnen das Gefühl, dass das
Vergangene hier in diesem Café bleibt, wenn sie es verlassen
und sich händchenhaltend, wie zwei frisch Verliebte Teenager,
auf den Weg nach Hause begeben.


Zuhause ist für sie der Ort der Gegenwärtigkeit. Ein
Zusammenleben im Hier und Jetzt. So ist jedenfalls ihre
Ideologie, die sie fortwährend versuchen mit Leben zu füllen.
Mal klappt es besser, mal schlechter. Wie alles im Laufe eines
langen Lebens. Sie sind sich jedoch beide sicher, dass es viel
häufiger schlechter klappen würde, wenn sie nicht jeden
Freitag für eineinhalb Stunden an ihrem Tisch im Altstadtcafé
sitzen würden.


Die Bedienung kommt und serviert die bestellten 2 Kännchen
Kaffee und zwei Stücke russischen Zupfkuchen. Er blickt wie
jedes mal auf seine Uhr, lächelt die Bedienung an und sagt ihr:
„Sie wird gleich kommen“. Die Bedienung lächelt, nickt
zustimmend und zieht sich leise wie immer zurück.


Er schaut auf den gedeckten Tisch. Auf das allmählich
ausbleichende weiß-blaue Geschirr mit Zwiebelmuster, welches
hier in all der Zeit verwendet wird. Der Kuchen sieht wie immer
köstlich aus und man sieht den Dampf des frischen heißen
Kaffees aus dem Kännchen steigen.


Er fängt natürlich noch nicht an. Er warte auf sie. Das ist
selbstverständlich. Das gehört sich einfach so.


Um 16.30 sitzt er immer noch da. Weder der Kuchen noch der
inzwischen kalt gewordene Kaffee sind angerührt. Er steht auf,
zieht seine Jacke an und geht zur Kuchentheke.


„Ihr ist wohl heute was dazwischen gekommen“ sagt er zu der
Bedienung. „Das ist aber schade.“ entgegnet sie. Er gibt ihr
20€ woraufhin sie ihm Wechselgeld herausgeben will. Mit den
Worten „Stimmt so“ schüttelt er wie immer den Kopf dreht sich
um, ohne ihr „Danke“ abzuwarten und verlässt das Altstadtcafé.


Die Bedienung geht zu dem Tisch, den er gerade verlassen hat,
und räumt die nicht angerührte Bestellung ab. Das macht sie
seit mittlerweile über 3 Jahren so. Jeden Freitag um kurz nach
16.30.





Schlockback

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