Siri Hustvedt: Mütter, Väter und Täter
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Beschreibung
vor 10 Monaten
Siri Hustvedts Arbeiten zu rezensieren, stellt für mich ein ums
andere Mal eine Herausforderung dar. Das liegt zum einen daran,
dass ich sie für eine äußerst intelligente Frau halte und ich ihr
mit dem, was ich über sie schreibe, gerecht werden möchte. Zum
anderen bin ich fasziniert von dem breiten thematischen Spektrum,
mit dem sie sich befasst und den interdisziplinären
Verknüpfungen, die sie herstellt.
Bekanntheit erlangte die amerikanische Literaturwissenschaftlerin
zunächst durch ihre Romane, zu denen unter anderem Was ich liebte
zählt und 2003 in Deutschland veröffentlicht wurde. Längst ist
sie jedoch auch für ihre Essays bekannt und hat ihr
wissenschaftliches Feld um Neurowissenschaften und Psychiatrie
erweitert, wobei sie für zweiteres auch einen Lehrauftrag an der
Cornell University hat. 2018 erschien im Rowohlt Verlag ihr
Essayband Die Illusion der Gewissheit – ebenfalls von mir
rezensiert – und im vergangenen Jahr, also 2023, ihr aktueller
Essayband Mütter, Väter und Täter, der im Original bereits 2021
unter dem Titel Mother, father and other erschien. Es ist mir
einmal mehr rätselhaft, wie ein deutscher Verlag von other auf
Täter kommt und erinnert mich an einen Roman der britischen
Autorin Bernardine Evaristo mit dem Titel Girl, women, other –
ebenfalls im Studio B rezensiert – der in Deutschland unter dem
Titel Mädchen, Frau etc. veröffentlicht wurde. Aus other wird
also einmal etc. und einmal Täter. In unterschiedlichen Verlagen
wohlgemerkt. Ich lasse das an dieser Stelle so stehen.
20 Essays umfasst ihr neuer Band, wobei der früheste aus dem Jahr
2011 stammt und die ältesten 2020 geschrieben wurden. Der
Großteil bewegt sich irgendwo dazwischen. Anhand ihrer eigenen
Biografie und Familienhistorie kreist sie verschiedene Themen
ein. Am Beispiel ihrer Großmutter stellt sie die Frage, wie wir
Dinge und Geschehnisse erinnern und wie diese Erinnerung sich im
Laufe der Zeit verändert. Dabei fällt ihr beispielsweise auf,
dass die Identität ihres Vaters vor allem vom Erinnern und seinen
Nachforschungen über die väterliche Linie geprägt war, während er
die mütterliche Linie völlig außer Acht ließ. Darüber stellt sie
folgende Beobachtung an:
„Erst als Erwachsene war ich imstande, über das Problem der
Auslassung nachzudenken – eher darüber, was fehlt, als darüber,
was da ist – und allmählich zu verstehen, dass das Ungesagte
ebenso laut spricht wie das Gesagte.“ (S. 11)
Eine Feststellung, die simpel anmutet und doch ertappe ich mich
dabei – während ich es lese – dass auch ich sie bisher gar nicht
so konkret in meinen Reflexionen über meine eigene Familie
beachtet habe. Auch Gedanken zum Tod spielen in verschiedenen
Kontexten eine Rolle, sei es, wenn es um ihre Eltern oder ihre
eigene Sterblichkeit geht, aber auch allgemein, wie in
verschiedenen Kulturkreisen der Tod auf unterschiedlichste Weise
zelebriert und die Toten geehrt werden. In einem späteren Essay
vom 23. April 2020, also dem Beginn der Corona Pandemie,
erscheint das Thema Tod noch einmal in einem ganz anderen Licht,
denn es ist verknüpft mit politischen Entscheidungen – oder
Fehlentscheidungen – politischer Rhetorik und damit
einhergehendem, bereits vorhandenem oder geschürtem Rassismus,
oder „virale[n] Redefiguren“. Dabei stellt sie fest:
„Der menschliche Körper ist ein Ökosystem, das von den
Ökosystemen seiner Umgebung abhängt. Und wir sind soziale Tiere,
die zum Überleben in hohem Maße von anderen unserer Art
abhängen.“ (S. 136)
Gleichfalls lernen wir, dass der Ausdruck social distancing
bereits 2003 entstanden ist und – das ist uns weniger neu – ein
Privileg ist, wie sich während der Pandemie gezeigt hat. Auch dem
Stellenwert von Lesen während der Pandemie widmet sie einen
Essay, in dem gleich zu Beginn deutlich wird, welch intimes und
freiheitliches Erlebnis die Lektüre ist und ich möchte
hinzufügen, dass sie das natürlich auch außerhalb von Seuchen
ist.
Siri Hustvedt befasst sich in ihren Essays mit einer Vielzahl
unterschiedlicher und komplexer Themen, deren aufmerksame Lektüre
dazu führen kann, den Zusammenhang vermeintlich gar nicht
miteinander in Verbindung stehender Gedanken und Fragen zu
begreifen. Abgesehen von den bereits genannten Thematiken geht es
auch immer um zwischenmenschliche Beziehungen und Wahrnehmung.
Dabei gelangt sie zu so vermeintlich schlichten wie treffenden
Erkenntnissen, wie der, dass, wie ich einen anderen wahrnehme und
sehe, auch immer davon abhängig ist, wie ich mich selbst sehe.
Aber sie stellt auch die Frage, was Weiblichkeit eigentlich ist;
wie sie sich definiert. In einem, bereits 2019 verfassten Essay,
befasst sie sich mit dem Ursprung und Diskursen zum Thema
Misogynie, ein Thema, das leider keineswegs neu ist, uns aber
dieser Tage, auch aufgrund von social media, immer mehr
beschäftigt und immer neue, erschreckende Ausmaße annimmt.
Es soll sicher nicht das Ziel dieser Rezension sein, sämtliche
Themen ihres Essaybandes Mütter, Väter und Täter darzulegen, aber
das kurze Anreissen, zumindest einiger Themen, soll
verdeutlichen, wie breit sie thematisch aufgestellt ist. Dadurch
ermöglicht sie der Leserin sich mit jedem neuen Essay auch
gedanklich in eine neue Materie einzudenken, etwas Neues zu
erfahren, ihre eigenen Ansichten zu prüfen, zu hinterfragen oder
neu zu überdenken und zu erweitern. Dabei sind ihre Essays stets
von ihrer feministischen Perspektive geprägt, durch die sie uns
vor Augen führt, wie Frauen über die Jahrhunderte hinweg
benachteiligt wurden und immernoch werden und Schlimmeres. Mit
teilweise sehr persönlichen Texten, in denen wir lernen, dass Wut
auch etwas Gutes sein kann und anderen sehr komplexen Texten, die
sich thematisch beispielsweise mit Kunst, Neurowissenschaften,
Literatur oder Politik befassen, schafft sie ein weites Feld,
dass dem Lesenden Denkanstöße ermöglicht – ja geradezu aufdrängt
– und ihm dadurch die Möglichkeit eröffnet, seinen eigenen
Horizont zu erweitern. Eine unbedingte Empfehlung!
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