Siri Hustvedt: Die Illusion der Gewissheit
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Beschreibung
vor 11 Monaten
Was macht eigentlich Siri Hustvedt? Schon seit längerem ist sie
meiner Aufmerksamkeit entgangen und nur durch Zufall bekam ich
mit, dass sie bereits im letzten Jahr ein neues Werk
veröffentlicht hat, das den Titel Mütter, Väter, Täter trägt und
eine Sammlung von Essays beinhaltet. Bevor ich dieses in meiner
nächsten Rezension besprechen möchte, gibt es heute als Studio B
Klassiker eine Rezension aus dem Jahr 2018, in der ich mich
ebenfalls mit Siri Hustvedt und ihrem Essayband Die Illusion der
Gewissheit befasse.
Es gibt eine Vielzahl an Sprichwörtern und vor allem Redensarten,
die aus unserem täglichen Sprachgebrauch zwar nicht mehr
wegzudenken sind, von denen wir uns aber längst nicht mehr die
Mühe machen, sie zu hinterfragen oder zu verstehen, worin deren
Sinn liegt. Das kann einem schon ganz schön auf den Geist gehen,
es sei denn, man hat plötzlich einen Geistesblitz. Was ich damit
sagen will? Dass sich Siri Hustvedts kürzlich im Rowohlt Verlag
erschienener Essay Die Illusion der Gewissheit, oder The
Delusions of Certainty, wie er im englischen Original heißt,
genau mit diesem Thema befasst. Nämlich der Frage nach dem Geist.
Was hat es mit diesem Begriff, den wir so leichthin benutzen, auf
sich? Und was verstehen wir eigentlich unter Geist bzw. was ist
die Beziehung zwischen Geist und Körper?
Die Frage ist nicht neu, doch für Siri Hustvedt viel zu spannend,
um sich nicht mit ihr zu beschäftigen. Dies tut sie, indem sie
dem Leser bekannte Fragestellungen und Theorien vorstellt und
sich auf verschiedene Fachbereiche wie Genetik, Psychologie,
Sprache oder die Evolutionstheorie bezieht. Sehr gut recherchiert
und stets mit Beispielen und Gegenbeispielen belegt, führt sie
dem Leser vor, wie Annahmen einfach über die Jahre hinweg
übernommen wurden, ohne hinterfragt zu werden und damit eine
gewisse Allgemeingültigkeit erlangt haben, was sie für die
meisten Menschen über jeden Zweifel erhebt. Doch Siri Hustvedt
will „für den Zweifel und die Vieldeutigkeit plädieren, und zwar
nicht etwa, weil wir nichts wissen können, sondern weil wir
unsere Überzeugung stets prüfen sollten und hinterfragen, woher
sie kommen.“ (S. 30)
Ein zentraler Aspekt ihres Essays ist die Unterscheidung zwischen
angeborenen und erworbenen Eigenschaften, kurz gesagt: Natur
versus Kultur. Unter ihrem Gliederungspunkt „Frauen können keine
Physik“, wird, wie auch im restlichen Essay, deutlich, welch
große Rolle auch der Feminismus in ihrem Werk spielt. Es geht
dabei um die immer wiederkehrende Behauptung, dass Frauen Männern
von Natur aus unterlegen sind und angeblich, aufgrund ihrer
Biologie, in einigen Bereichen schlechter sind als diese – anhand
des Untertitels wird deutlich, auf welche Bereiche sie hier
anspielt. Um dies zu widerlegen, wird sie nicht müde, die
verschiedensten Studien ins Feld zu führen, die sowohl für als
auch gegen diese Tatsache sprechen und wie diese
unterschiedlichen Ergebnisse zustande kommen. Und es ist
wunderbar einfach zu verstehen, wenn man sich nur einmal kurz die
Zeit nimmt, darüber nachzudenken.
Ein weiteres, kurzes Beispiel dafür, womit sich ihr Essay
auseinandersetzt, ist die Frage, wie sehr ein Wunsch körperliche
Auswirkungen mit sich bringen kann. Deutlich gemacht wird dies
anhand der Scheinschwangerschaft. Die Vorstellung, schwanger zu
sein, kann durchaus sichtbare und objektiv nachweisbare
Schwangerschaftsmerkmale erzeugen. Dabei ist aber nicht die
Frage, ob der Wunsch nach der Schwangerschaft zu Veränderungen
des Hormonspiegels führt, sondern vielmehr, wie stark der Inhalt
dieses Wunsches, also dieses Gedanken, den unser Geist
produziert, sein kann, dass er zu physischen Auswirkungen führt.
Hierzu ein Zitat:
„Wie können Vorstellungen, Überzeugungen, Wünsche und Ängste den
Körper verändern? Steht der Geist über der Materie? Haben wir es
hier mit einem Zusammenspiel von psychologischen und
physiologischen Faktoren zu tun? Wenn man die Tatsache
akzeptiert, dass Vorstellungen Körper verändern können, was hat
das dann im Hinblick auf das Körper-Geist-Problem zu bedeuten?“
(S. 134)
Hustvedt verweist darauf, dass es eine Lücke zwischen Körper und
Geist gibt, die der Grund dafür ist, dass wir zwar das Gehirn mit
all seinen Synapsen, Neuronen und chemischen Eigenschaften
irgendwann in Gänze erklären können, doch es bleibt die Frage,
wie sinnvoll es ist, Dinge wie gerade genannte Wünsche, aber auch
Hoffnungen, Träume und Gedanken ausschließlich als neuronale
Prozesse zu bezeichnen?
Was ist nun also die Illusion der Gewissheit? Ich denke, die
Frage ist gleichzeitig die Antwort. Es wird immer Dinge geben,
die für uns Menschen nicht greifbar sind: Was ist der Geist? Was
ist der Verstand und wie unterscheidet er sich vom Körper? Und es
gibt die Illusion, dass wir diese Frage mit Gewissheit
beantworten können. Das wirklich interessante ist aber, zumindest
für mich, die Frage und nicht ihre Antwort. Denn solange es
Menschen gibt, werden diese sich wohl mit dieser Thematik
beschäftigen und genau dieses – sich-damit-beschäftigen – treibt
uns an und bringt uns voran. Genau das ist auch das Wundervolle
an Siri Hustvedts Essay. Sie regt uns an und fordert uns auf,
Dinge nicht als gegeben und feststehend hinzunehmen, sondern zu
hinterfragen. Dabei räumt sie, für mein Empfinden, manchmal fast
etwas wütend mit gängigen Vorurteilen und deren Erschaffern auf.
Wer Die Illusion der Gewissheit auf deutsch liest, dem sei
gesagt, dass die studierte Literatur- und Sprachwissenschaftlerin
(also eine Geisteswissenschaftlerin, haha) Bettina Seifried hier
eine großartige Übersetzung geleistet hat. Die Gliederung des
Essays hätte, für meinen Geschmack, hier und da noch etwas
gebündelter sein können. Nichts desto trotz ist der Text sehr
verständlich und hält sich nicht damit auf, sich einer allzu
wissenschaftlichen Sprache zu bedienen. Eine sehr
geistreiche Arbeit und absolut empfehlenswert.
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