Graham Norton: Heimweh
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Beschreibung
vor 1 Jahr
Graham William Walker, geboren in einem Vorort von Dublin und
aufgewachsen im Süden Irlands, heute besser bekannt unter seinem
Künstlernamen Graham Norton, zählt zu den erfolgreichsten
Talkmastern der englischsprachigen Welt, ist aber gleichzeitig
auch Comedian und Schauspieler und vielfach ausgezeichnet. Aber
nicht nur das, seit 2016 ist er auch als Autor bekannt und
gefeiert, denn in diesem Jahr veröffentlichte er seinen ersten
Roman Holding, der ein Jahr später auch auf Deutsch unter dem
Titel Ein irischer Dorfpolizist erschien und sofort zum Erfolg
wurde. Er erhielt noch im selben Jahr die Ehrung Irish Book Award
als bester Roman. Seinen dritten Roman – der diese Auszeichnung
ebenfalls erhielt – veröffentlichte er vier Jahre später, also
2020, unter dem Titel Home Stretch. Unter Heimweh, so der
deutsche Titel, wurde er 2021 im Rowohlt Verlag veröffentlicht.
„Es gibt Momente im Leben, die man wertschätzen muss, aber nur
manchmal erkennt man sie, während man sie erlebt.“ (S. 303) Es
ist dieses Lebensgefühl, dass fünf junge Menschen zu Beginn des
Romans an einem unbeschwerten Sommertag vereint. Das sind Bernie
und David, deren Hochzeit am nächsten Tag bevorsteht, sowie die
Schwestern Linda und Carmel und Martin, der seine Freunde mit dem
Auto zu einem Ausflug an den Strand abholt. Hinzu kommt
schließlich noch Connor, der eigentlich nicht zu der Gruppe
gehört, aber von Martin eingeladen wird, sich ihnen
anzuschließen. Es ist ein Nachmittag der harmlos beginnt und
schließlich in einem Unglück endet, der das Leben von Linda,
Connor und Martin grundlegend verändert und die Leben von Bernie,
David und Carmel beendet.
Es ist ein harter Einstieg in den Roman, den Graham Norton wählt.
Die Leichtigkeit und Unbeschwertheit der Jugendlichen wird jäh
durch einen Autounfall zerstört und führt dem Lesenden gleich zu
Beginn die Fragilität des Augenblicks vor. Connor, der sich
bekennt, den Wagen gefahren zu haben, wird in Folge dessen der
Prozess gemacht. Bewährung lautet das Urteil, welches geradezu
milde erscheint, gegenüber der Ausgrenzung, die Connor – ohnehin
schon ein Außenseiter – und seine Familie durch die übrigen
Dorfbewohner erfahren. Der Pub seiner Eltern bleibt größtenteils
verwaist und selbst seine Schwester Ellen, die in einem Baumarkt
arbeitet, wird in ein Büro versetzt, in dem sie keinen Kontakt
mehr mit Kunden hat. Um allen Beteiligten das Leben leichter zu
machen, vielleicht auch aus Angst vor permanenter Konfrontation
und um Connor einen Neuanfang zu ermöglichen, wird er von seinen
Eltern aus seinem Heimatdorf Mullinmore, in Irland, nach
Liverpool in England geschickt. Ein Wendepunkt, ab dem der
Fortgang der Geschichte in zwei Stränge geteilt ist, die parallel
verlaufen und einerseits Connors Leben, andererseits das Leben
seiner Schwester Ellen und ihrer Eltern beschreibt. Dabei gibt es
sowohl immer wieder Zeitsprünge in der Handlung nach vorn als
auch Rückblicke in das Jahr des Unfalls, wodurch sich dem
Lesenden weitere Details eröffnen und sich so langsam ein
Gesamtbild ergibt.
Connors Aufenthalt in Liverpool ist jedoch nur von kurzer Dauer,
da er nach einer Konfrontation mit einem Kollegen und Mitbewohner
die Stadt verlässt. In seine Heimat kehrt er jedoch nicht zurück,
was ein zentrales Motiv des Romans ist. Er ist immer auf der
Suche nach einem Ort, an dem er möglichst unauffällig leben kann,
was, wie sich schnell herausstellt, weniger an seiner
Vergangenheit liegt, sondern viel mehr an der Tatsache, dass er
homosexuell ist. Der Umstand, dass er nicht mehr in der
Kleinstadt leben muss, aus der er stammt, befreit ihn
gleichzeitig von der Scham und der Verachtung der Menschen, derer
er sich dort ausgesetzt sieht. Der Liebe seiner Eltern könnte er
sich ebenfalls nicht mehr sicher sein, was er sich anhand von
Aussagen derer über Homosexuelle erschließt.
Auch wenn er schließlich in New York lebt und sesshaft wird,
heftet ihm die meiste Zeit eine Rastlosigkeit an, die er nicht
abschütteln kann. Als schließlich seine langjährige Beziehung
scheitert, wird er auf sich selbst zurückgeworfen und begreift
allmählich, dass er auch in dieser Verbindung nicht er selbst
gewesen ist. Es ist auch das Ende jener Beziehung, das ihn eines
Abends in eine Bar führt, in der seine Vergangenheit und
Gegenwart schließlich wieder zusammengeführt werden.
Das Leben seiner Schwester, die sich vom Weggang ihres Bruders
eine Verbesserung ihrer Lage erhofft hatte, läuft unterdessen
ebenfalls nicht erwartungsgemäß. Das unverhoffte Werben Martins
um sie, lässt sie zunächst hoffen, dass das Glück nun endlich auf
ihrer Seite ist und es kommt tatsächlich so weit, dass die beiden
heiraten. Doch eine Verbesserung von Ellens Leben führt dies
nicht herbei, im Gegenteil, es stellt eher den Beginn von
jahrelangem Unglück dar:
„In einer Ehe, so schien es Ellen, ging es gar nicht darum,
glücklich zu sein oder jemand anderen glücklich zu machen.
Anscheinend war es vor allem wichtig zu entscheiden, wessen
Unglück sich leichter ertragen ließ. Und das war ihr eigenes. Ihr
Unglück schien ein angemessener Preis dafür zu sein, nicht mit
Martins Unglück leben zu müssen.“ (S.111)
Ob oder wie es die Protagonisten schaffen, ihr Leben noch zum
Besseren zu wandeln, soll an dieser Stelle noch für alle offen
bleiben, die diesen Roman gern lesen möchten.
Es ist eine lange und emotionale Reise, die man als Lesende mit
den Protagonisten zusammen antritt, aber Graham Norton versteht
es ziemlich gut, den Spannungsbogen zu halten und diverse
Wendungen einzubauen, die zwar manchmal, aber oft nicht
vorhersehbar sind. Thematisch bewegt er sich dabei in einem Feld,
in dem es viel um die Themen Identität, Sexualität und Heimat
geht, die auch eng miteinander verknüpft sind. Es ist dramatisch,
wie ein Ereignis ein oder mehrere Leben auf einen Schlag
verändert. Für Connor bedeutet der Unfall den Verlust seiner
Heimat und damit den Verlust seiner gewohnten Umgebung, seiner
Familie, ja sogar seiner gewohnten Sprache. Sein Weggang markiert
den Anfangspunkt einer Suche nach Identität. Da diese losgelöst
von seinem bisherigen Lebensumfeld geschieht, ist es ihm aber
auch möglich, seine Sexualität ohne Scham ausleben zu können.
Welche Tragweite diese Scham dabei für die Entwicklung der
kompletten Story hat, erschließt sich dem Lesenden zwar nur
allmählich, macht aber schließlich umso deutlicher, wie
unterschiedlich die Leben der Protagonisten hätten verlaufen
können. Wobei Graham Norton sich nicht mit dem klassischen Was
wäre, wenn Gedankenspiel aufhält, sondern seine Figuren
vorantreibt, sie leiden lässt und sie, wie im echten Leben ja
auch unausweichlich, sich entwickeln lässt. Für mich war es
definitiv ein Pageturner und ist damit eine eindeutige
Leseempfehlung. Oft ging mir während der Lektüre eine Strophe aus
Mascha Kalékos Emigrantenmonolog durch den Sinn, mit der ich nun
enden möchte:
„Mir ist zuweilen so als ob
Das Herz in mir zerbrach
Ich habe manchmal Heimweh
Ich weiß nur nicht, wonach...“
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