Daniel Kehlmann - Lichtspiel
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Beschreibung
vor 1 Jahr
Daniel Kehlmanns diese Woche erschienener Roman “Lichtspiel” ist
zum größten Teil angesiedelt im Kinobetrieb der dreißiger und
vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ein Betrieb der
Täuschung und Intrige, der Eitelkeiten und Verletzungen. Aber ein
Filmdreh ist auch eine Unternehmung, die den Kompromiss fordert,
zu viele bewegliche Teile sind voneinander abhängig, zu viel kann
schief gehen und was schiefgehen kann, geht es im Allgemeinen
auch. Und es sind die dreißiger und vierziger Jahre. Im Deutschen
Reich. Nazideutschland.
Doch im ersten Kapitel befinden wir uns zunächst in Wien, in den
1960er Jahren. Wir begleiten den offenbar dementen ehemaligen
Kameramann Franz Wilzek zu einer TV-Show, live im
österreichischen Fernsehen. Wilzek namedroppt die Regisseure,
Schauspieler und Produktionen seiner nun hinter ihm liegenden
Schaffenszeit und ich, der ich weniger Cineast und schon gar
nicht Filmhistoriker bin als viel mehr durchschnittlicher Freund
der gepflegten Kinounterhaltung, habe so das Gefühl, es sind
keine ausgedachten Titel und Namen. Peter Alexander gab es
definitiv (wie mir die Ariola-Schlagerschallplattensammlung
meiner Großmutter beigebracht hat), die Filme “Die Büchse der
Pandora” und “Paracelsus” sagen mir etwas und auch von Georg
Wilhelm Pabst, dem Regisseur, habe ich schon gehört. Kehlmann
arbeitet also wieder reale Begebenheiten und Personen in eine
fiktive Geschichte ein (wie u.a. schon im von uns rezensierten
Tyll). So vermute ich es und bin’s zufrieden. Zumal ich kaum Zeit
habe darüber zu urteilen. Zu atemlos und begeistert bin ich von
Kehlmanns virtuoser Komposition: Gedanken, Worte, Situation, die
ein Dementer sieht, denkt und zu erfahren glaubt - gebrochen von
der tatsächlichen Handlung um ihn herum. Wir schlüpfen in den
Protagonisten und sind gleich selbst ganz wirr. Es ist brillant.
Kehlmann ist aktuell einfach der beste deutschsprachige Autor.
Dieser Rhythmus, die Sprache - es ist eine Kunst!
Zurück zur Handlung: das mehr schlecht als recht ablaufende
Interview ist ein Set-Up im doppelten Sinne. Der joviale
Moderator der Sonntagvormittagsshow liest nur die Fragen ab, die
ihm sein Regieassistent, ein gewisser Rosenzweig, auf die
Karteikarten schreibt und somit stellt er Wilzek eine Frage zum
Film “Der Fall Molander”, bei der er dem weltberühmten Regisseur
G.W. Pabst als Regieassistent doch zur Seite gestanden habe,
nicht wahr? Wir bekommen aus dem Kopf von Franz Wilzek plötzlich
ein paar Filmbilder. Eine opulente Konzertszene mit hunderten
Komparsen, einem Geiger - und Soldaten? Irgendetwas stimmt nicht;
mit der Szene, mit Wilzek, seinem Kopf, der Welt. Der Film ist
real und irreal gleichzeitig, bis Wilzek in anscheinender
Verwirrung stottert, dass der Film nie gedreht worden wäre: “Gibt
es nicht!” - entgegen dem, was der Herr Moderator da auf der
Karte stehen habe, “Nicht gedreht!” wiederholt er immer und immer
wieder. Es ist ein Set-Up für die kommenden 480 Seiten bester
deutschsprachiger Literatur, erschreckender Literatur,
notwendiger Literatur, zeitgemäßer Literatur.
Und so befinden wir uns plötzlich in Kapitel 2 im Jahr 1934. Der
weltberühmte Regisseur G.W. Pabst ist in Hollywood und radebrecht
sich durch ein Gespräch mit einem Produzenten, und der Plot
erscheint uns nun vorhersehbar: gab es den Film “Der Fall
Molander” oder gab es ihn nicht und was ist bis zu seinem
vorgeblichen Dreh geschehen? Man muss kein Cineast sein um zu
wissen, was aus der deutschen Filmindustrie in der Zeit des
Nationalsozialismus geworden ist, wie viele jüdische (und
nicht-jüdische) Filmschaffende geflohen sind oder es nicht
geschafft haben. Die Story steht fest und somit wird die Sprache
und das Szenische, nicht der Plot, die Hauptlast im Roman zu
tragen haben. Wir meinen schon früh zu erkennen, worauf es
hinausläuft. Es wird darum gehen, wie die vom verwirrten Wilzek
erinnerten Personen sich ins verhängnisvolle Jahr 1945 finden.
Und im Groben wird das so passieren, es wird die Handlung sein im
Buch, mitunter beklemmend, ja schmerzhaft, denn wie man denkt,
man weiß, was kommt: der Horror der Nazizeit, liest man wie er
kommt, der Horror, und Kehlmanns mächtige
Sprache macht, dass man das Gefühl hat, man erlebe ihn selbst,
den Horror. “Horror” nicht in seinem popkulturellen, modernen
Sinn, sondern im archaischem, zerebralen. Einer Qual ob der
Quälerei, nur sehr schwer auszuhalten und er beginnt, als G.W.
Pabst mit seiner Familie ein paar Tage vor Kriegsausbruch - wie
dumm, man schreit beim lesen “Nein!!” - nach Österreich, jetzt
Ostmark genannt, zurückkehrt, und nicht mehr rauskommen wird. Ein
Horror.
Und es wird eine Geschichte über die mögliche Niedertracht in uns
allen werden. Ob es der kunstsinnige Sohn G.W. Pabsts ist oder
der hilfsbereite Verwalter des kleinen Schlosses, welches sich
der Regisseur von seinen ersten Filmerfolgen gekauft hat. Der
eine wird von einem malenden Kind zum begeisterten Hitlerjungen,
der andere vom geachteten “Mann für Alles” im Dorf zum Chef der
NSDAP Ortsgruppe. Nur der Spitzel Kuno Krämer, der G.W. Pabst
schon in L. A. “Heim ins Reich” locken möchte, überrascht nicht,
als er seinen Hund einschläfern lässt, weil er ihn nicht mit nach
Deutschland nehmen kann. Ein armes, dummes Schwein.
G.W. Pabst wird in Deutschland bleiben und Filme drehen, und
somit kann und wird das Buch wohl so gelesen werden, als ob es um
das gehe, was das Feuilleton mit den Fragen “Was hätte ich getan?
Wie weit wäre ich gegangen?” beschreibt. Aber wer nur das sich
fragt, hat sich die Antwort in seiner Ignoranz schon gegeben.
Kehlmann verweigert sich dieser Nabelschau, im Buch geht es fast
immer um die Opfer. Zum Beispiel, handlungsbedingt vornehmlich im
ersten Teil, DRAUSSEN betitelt und vor dem Krieg spielend: um
Flüchtende. Wie sie manchmal gut, oft weniger so aufgenommen
werden. In den 1930ern waren das Deutsche. Heute sind es Syrier,
Ukrainer, Leute aus Myanmar oder Gaza. Wer sich nur fragt, wie er
DRINNEN überlebt hätte, fragt sich offensichtlich nicht, wie die
Flüchtlinge das in ihrem DRAUSSEN tun. Wer das “nur” weglässt und
beides im Blick halten kann, ist auf der richtigen Spur. Denn wie
es Fliehende gibt, die um ihr Leben rennen gibt es Länder, wo
sich Künstler exakt heute die exakt gleichen Fragen stellen
müssen wie G.W. Pabst und Co damals im Dritten Reich. Künstler,
Aktivisten, die bleiben oder bleiben müssen. Und wie man mit
diesen Gehaltenen und Gespaltenen umgeht, das ist die Frage, die
wir DRAUSSEN uns beim Latte Macchiato stellen müssen. Verurteilt
man radikal jeden, der Kompromisse im eigenen, unterdrückten Land
macht, der versucht sich von den Gefahren einer Diktatur
fernzuhalten, als Mitläufer und Opportunisten und fordert damit
von jedem DRINNEN in einer Diktatur das volle Pussy Riot
commitment? Das sind die für mich interessanteren und
praktischeren Fragen, die “Lichtspiel” aufwirft. Die
egozentrische Nabelschaufrage: “Hätten wir mitgemacht?” ist
sinnlos, weil gleichzeitg hypothetisch und eindeutig zu
beantworten: natürlich hätten wir alle mitgemacht. “Wir” als
Menschen sind heute nicht besser als vor achtzig Jahren, ein
Blick auf die Wahlergebnisse von Wisconsin bis Warschau zeigt uns
das. Warum sollten wir kompromissloser gewesen sein? Warum
“besser”? B******t.
Das “Warum” - warum wir mitgemacht hätten - ist die
interessantere Frage. Dafür geht Kehlmann, wie G.W. Pabst, dicht
ran an seine Subjekte. Das tut weh, denn man kann sich nicht mit
zwei Metern Abstand zum Fernseher eine kluge BBC-Doku reinziehen,
die erklärt, was alles schief gelaufen ist, damals. Man ist
selbst Pabst, man ist selbst sein Sohn Jakob, seine Frau Trude.
Für ein paar Seiten kommt man nicht raus aus Deutschland und auf
den Straßen marschiert die SS.
Oft kann Pabst nur in Gedanken rebellieren, mit Genuss beurteilt
er innerlich Leni Riefenstahls Unvermögen. Der Leser freut sich
über diese paar Minuten der Freiheit. Und wenn die Leni dann den
Mund aufmacht, denn Pabst ist beim Dreh und muss ihr einen Film
retten, wollen wir ihr einfach nur die Fresse polieren. Pabst
trinkt statt dessen noch ein zweites Bier zum Mittagessen. Und
ein drittes hinterher. Und hält die Fäuste still unterm Tisch. Da
müssen wir durch. Doch dankbar sind wir, wenn wir in diesen
Situationen wenigstens kurze Momente der Entspannung finden, wenn
Kehlmann seinen Protagonisten und uns Gedanken in den Kopf legt,
die unserem Hass auf Leni Riefenstahl und ihr ganz Faschistenpack
Ausdruck verleihen. Ein paar Momente des Outlets in einem Buch
über das Grauen.
Die meisten Szenen und Situationen im Buch sind für
Nicht-Cineasten erschreckender als für den Auskenner: denn, fast
immer wenn ich eine Person, die ich auf Anhieb nicht kenne, auf
ihre Realität oder Fiktion überprüfe, erfahre ich, dass immer das
Grausamste stimmt: wenn es um Täter geht, war ihre Niedertracht
genauso wie beschrieben; wenn es um Opfer geht, ihr Ende genauso
brutal und sinnlos. Irgendwann traut man sich nicht mehr, die
Wikipedia aufzumachen.
Der Schlüsselsatz des Romanes ist wohl dieser: “Die Zeiten sind
immer seltsam. Kunst ist immer unpassend. Immer unnötig, wenn sie
entsteht. Und später, wenn man zurückblickt, ist sie das Einzige,
was wichtig war.” Kehlmann legt ihn Georg Wilhelm Pabst zum Ende
des Krieges, wie des Romanes, in den Mund. Ein so weiser Satz,
jeder unterschreibt ihn sofort. Nur - stimmt er nicht. Nicht im
Angesicht von Krieg und von Zwangsarbeit und Genozid. Da wird
Kunst absolut unnötig, sie bleibt auch nicht das Einzige, was
wichtig war. Es bleiben Leichen und Horror und Generationen von
Traumata. Was verschwindet sind Filme, wie “Der Fall Molander”
und wenn sie irgendwie überleben, dann will sie keiner sehen,
solange das Trauma noch existiert.
“Aber, Herr Falschgold, was ist mit den Streichquartetten in
Auschwitz?”
“Really?!”
Kehlmann hat uns in den ersten Kapiteln sanft eingeführt in die
Kunst, in seine Protagonisten zu schlüpfen, als Leser. Ein
dementer alter Mann, ein schlecht englisch sprechender Deutscher.
Wie aus dem Nichts nehmen wir so im Laufe des Romans immer wieder
die 1. Person ein, das Vertigo eines Kindes beim Abstieg in einen
tiefen Keller, die Panik des Regisseurs bei einer Audienz bei
Göbbels. Diese Technik kulminiert in der vollständigen Auflösung
von Zeit und Raum im Angesicht des Grauens des Holocaust. In
diesem Augenblick erlöst Kehlmann seine Protagonisten: er nimmt
ihnen (kurz) den Verstand. G.W. Pabst sieht die Welt nur noch als
Film. Schüsse, Explosionen, Flucht als Abfolge von Schnitten,
Einstellungen und Kamerfahrten. Nur wir, die Leser, haben alle
diese Filme schon gesehen, sie sind unser “Kriegserlebnis”, alles
setzt sich für uns wieder zur “Realität” zusammen und ist nicht
auszuschalten, nicht auszuhalten. Das ist stilistisch stark und
greift mich tief an.
Ich hätte nicht gedacht, dass mich ein Roman über den
Nationalsozialismus noch mal so kriegt. Kehlmann hat achtzig
Jahre nach dem Grauen den Horror nochmal zum Leben erweckt und
ich möchte vermuten, nicht nur wegen des faszinierenden Stoffes
über einen gedrehten und verschollenen Film, und der dieser Story
inneliegenden moralischen Parabeln. Ich möchte glauben, es ist
ein erneuter Aufruf Daniel Kehlmanns, den Anfängen zu wehren und
dass das, achtzig f*****g Jahre später, wieder nötig ist, ist der
eigentliche, unser Horror.
“Lichtspiel” von Daniel Kehlmann ist ein antifaschistischer Roman
- er kommt zur richtigen Zeit.
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