Studio B Sommerklassiker: Sinéad O'Connor "Rememberings"

Studio B Sommerklassiker: Sinéad O'Connor "Rememberings"

9 Minuten
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Beschreibung

vor 1 Jahr

Sinéad O'Connor ist nicht mehr auf dieser Welt. Das ist sehr
traurig. Und während viele sich an “Nothing Compares 2U” und das
zerrissene Papstbild erinnern, ist das doch ganz schön wenig.
Deshalb sei heute allen noch einmal ihre Autobiographie ans Herz
gelegt und als kleine Zugabe gibt es dieses Interview:


Guten Morgen!


Liebe Hörerinnen und Hörer, liebe Leserinnen und Leser,


vielleicht geht es euch heute früh noch nicht so gut, vielleicht
habt ihr gestern in einer Bar noch einmal ausgetrunken, bevor sie
ab morgen wieder geschlossen sein werden.


Drückt lieber noch einmal die Stopptaste, trinkt einen Kaffee,
wascht den Zigarettenrauch aus den Haaren, geht eine Runde um den
Block, bis ihr wach seid.


Willkommen zurück!


Diese Einleitung war der bereits 2. Versuch über das Werk zu
schreiben, kurz, bevor die Bars wieder einmal geschlossen wurden.


Seit 6 Monaten scheue ich mich vor dieser Rezension und
prokrastiniere, und eigentlich ist die TL;DR Zusammenfassung auch
schnell und voller Überzeugung heruntergeschrieben:


Lest Sinéad O’Connors Autobiographie “Rememberings”, sie ist das
beste Buch der letzten Dekade und die nachfolgenden Zeilen sind
ein paar Hinweise, Zusammenfassungen, Überlegungen, die - leider
- diesem Werk sowieso nicht gerecht werden können. This is no
fishing for compliments, sondern Fakt.


Spoiler Alert/Triggerwarnung: In einer ersten Fassung dieser
Rezension hatte ich es tatsächlich vermocht, mich auf meine
Empfindungen zu beschränken und de facto nichts zu verraten, aber
das heißt nichts anderes, als mich selbst zu wichtig zu nehmen,
wenn es eigentlich um ein wirklich herausragendes Buch geht.


Die Triggerwarnung stelle ich für sehr schwer auszuhaltende
Schilderungen von physischer und physischer Gewalt voran.


In einem Interview in “The View”, einer Show auf dem Sender abc
hat Sinéad O’Connor ihre Autobiographie als “wichtigsten Song,
den sie je geschrieben hat” bezeichnet.


Unschuldig genug geht es los. Sinéad O’Connor beginnt ganz von
vorn. Mit den Augen eines Kindes beschreibt sie ihre
Familiengeschichte, die 1966 in Irland beginnt: wer sind die
Großeltern, wer sind die Eltern, wo haben sie sich getroffen,
wann sind ihre Geschwister geboren, alle Namen werden genannt.
Eine verwirrende Anzahl der männlichen Personen trägt den Namen
John. Dazwischen eingesprenkelt kurze Bilder von Begegnungen und
Beobachtungen: die Eltern des Vaters, die Portwein trinken gehen,
weil sie sich lieben. Die wüsten christlich geprägten Flüche des
Großvaters mütterlicherseits, wenn er Frauen im Fernsehen oder
auf der Straße sieht, die seiner Meinung nach unsittlich
gekleidet sind.


Der Vater lässt sich scheiden und erhält - ein für Irland
außergewöhnlicher Fall - das alleinige Sorgerecht für die
gemeinsamen 5 Kinder. Doch Sinéad und einer ihrer Brüder wollen
zur Mutter zurück. In ruhigem Duktus, offen, ohne Scham oder
Wertung beschreibt Sinéad O’Connor ihre Erlebnisse. Ihre
religiösen Erfahrungen, wenn ihr Jesus erscheint, während ihre
Mutter sie unbarmherzig zusammentritt. Wie sie bei einem Unfall
auf einem Bahnhof schwer verletzt wird, als sich bei einem
fahrenden Zug eine Tür öffnet und sie mit voller Wucht trifft.
Danach kann sie keine großen Plätze mehr ertragen, Angststörungen
sind die Folge. 


Ihre Mutter ist eine Kleptomanin, Sinéad ihre Komplizin. Sie
kommt auf eine Boarding School für “schwierige” Mädchen, auch
dort verstörende Ereignisse, wenn eines der Mädchen schwanger
wird und ihr Kind weggenommen wird. Aber auch die Möglichkeit zu
musizieren. Kurz vor der Veröffentlichung ihrer ersten Platte mit
18 stirbt ihre Mutter.


Sinéad O’Connor wird zur Ikone, ihre Interpretation des von
Prince geschriebenen “Nothing Compares 2U” macht sie weltberühmt
und kommerziell erfolgreich. In einigen Kapiteln von
“Rememberings” geht sie auf einige ihrer Begegnungen mit anderen
berühmten Musikern ein. Die mit Prince ist ohne Zweifel die
verstörendste, Lou Reed ist ein Feiner, über Anthony Kiedis lacht
sie ganz gut.


Nach ihrer 3. Platte dann der Riesenskandal, als sie in Saturday
Night Live ein Bild des Papstes zerreißt. Ich kann mich nicht
erinnern, dass ihre Motive dafür ernsthaft diskutiert wurden. Als
Kritik an der katholischen Kirche wurde es damals als geradezu
terroristische Handlung verurteilt. Aber das war vor dem Internet
und während heute ziemlich sicher ihre Stimme gehört worden wäre,
war es damals einfach erstmal mit der Karriere vorbei. Da wurden
mit Straßenwalzen ihre Platten öffentlichkeitswirksam exorziert,
sprich zerstört, und in den Medien wurde sie als Irre
hingestellt. Für sie ein nicht unwillkommener Abgang von der
großen Bühne, die kein Popstar, sondern ein Protest Singer sein
wollte.


Das Papstbild, dass sie zerriss, hatte im Schlafzimmer ihrer
Mutter gehangen. Fast 20 Jahre danach begannen die weltweiten
Enthüllungen und Skandale über den systemischen sexuellen
Missbrauch, den Umgang mit Sündern, das System von
Strafeinrichtungen in Irland, in denen unverheiratete Mütter
gequält und ihre Kinder entweder weggenommen wurden oder unter
schrecklichen Bedingungen starben. Mit dem Zerreißen des Bildes
in einer großen Show wollte sie gegen die im Namen der
katholischen Kirche verübten Gräueltaten protestieren, die nicht
nur in der Kirche, sondern eben auch in den Häusern stattfanden.
Für uns kaum vorstellbar, wie es sich in der irischen Theokratie
lebte, in der das Verprügeln von Kindern in Schulen und in den
Familien Standard war und  von Generation zu Generation
weitergegeben wurde; in der man keine andere Wahl hatte, als den
1. Boyfriend zu heiraten, keine Verhütungsmittel; in der es
bis 1985 illegal war für Frauen nach der Hochzeit zu arbeiten,
die gezwungen waren, ein Kind nach dem anderen zu gebären, und -
wenn zu offensichtlich unglücklich - auf Valium gesetzt
wurden. 


Fest ihren Überzeugungen verpflichtet, auch wenn es sie zum Paria
macht. Wenn die Geschichte richtet, steht sie ohne Zweifel auf
der richtigen Seite. 


Ihre Schilderungen der Einflüsse auf Irland, nicht nur durch die
katholische Theokratie, sondern auch politisch-historisch durch
Großbritannien, zeigen ein großes Bewusstsein für
Ungerechtigkeit, von den Institutionen zu den Menschen in den
kleinsten Winkel hinein. Nie bezeichnet sie sich als
Antirassistin, ihre individuellen Handlungen, die oft konträr zu
den gesellschaftlichen Erwartungen sind, zeigen sie jedoch als
solche. Die Wucht ihrer Autobiographie entfaltet sich dadurch,
dass sie, die immer Priesterin werden wollte (und irgendwann auch
war) nicht predigt, sondern in ihrer eigenen Stimme schreibt.


Zu ihrer Musik gibt sie in einem Block von “Rememberings” einen
Überblick zu jeder Platte, erklärt das Warum Weshalb Wieso Mit
Wem. Was ich nicht wusste ist, dass eine Vielzahl ihrer Liedtexte
aus Scripture, also biblischen Texten, zusammengesetzt ist. 


Es gibt viele Erzählungen und Beschreibungen ihrer Erlebnisse,
die anrühren ob ihrer Schönheit und auch sehr viele Spass. Nach
dem Kapitel mit dem Zerreißen des Papstbildes gibt es einen
Bruch, der erst gegen Ende des Buches erklärt wird. 


Der 1. Teil ihrer Autobiographie, der bis 1992 reicht, wurde
zwischen 2010 und 2014 geschrieben. Danach sind ihre Erinnerungen
an die letzten 20 Jahre stark eingeschränkt. Aber ich will ja
nicht noch mehr spoilern.


“Rememberings” ist ein besonderes Buch, ein literarisches Werk
allererster Güte. Es hat mich angefasst - das ist Code für “zum
Weinen gebracht”, aber auch wütend, fassungslos und glücklich.
Ein kühles Interesse an der Biographie ist unmöglich. Die
Berichterstattung über Sinéad O’Connor ist nach wie vor
skandalgeprägt, ihre Darstellung in der Öffentlichkeit oft die
einer Irren. Offen geht sie mit ihren psychischen Erkrankungen
um.


Sinéad O’Connor ist eine außergewöhnliche Künstlerin, Musikerin
und Kriegerin.


Danke fürs Hören und Lesen. Wie zu Beginn versprochen, sind meine
Zeilen nicht im Geringsten diesem Werk gerecht geworden. Bitte
lest es selbst. In einer Buchhandlung habe ich in die deutsche
Übersetzung geschaut, die mir - soweit ich das einschätzen kann -
gelungen erscheint.


PS: Hier noch ein relativ neues Interview mit Sinéad O’Connor und
den respektvollen Moderatorinnen von The View:


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