This Must Be the Place
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Beschreibung
vor 1 Jahr
Liebe Leser*innen und Leser,
nun hat Herr Falschgold vor einigen Wochen den
Verwilderungsprozess proklamiert um den fortwährenden Krisen des
stromlinienförmigen Kapitalismus wenn nicht gleich etwas
entgegenzusetzen, dann doch: wenigstens mental klarzukommen,
Schönheit und Aufregendes zu entdecken, weg von den
allgegenwärtigen Empfehlungsalgorithmen der Großen 5.
Easy: Rechner aus. Raus in den Park. Maulaffen feilhalten. Ohne
Rückkopplung 5 Stunden und 42 Minuten auf dem Sofa liegen und ein
Buch von vorne bis hinten lesen.
Ist ja nun wirklich nicht schwer.
Aber gut, auch der Bildungsauftrag bleibt bestehen: Darüber zu
berichten, "was wir in unserem Leben tun, wenn wir keine Bücher
lesen." - So das Versprechen von Lob und Verriss aka Herrn
Falschgold, der zwar gefragt hat, wie wir das finden, aber nun
müssen wir. Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen.
Also: Gestern habe ich mir bei einem lauschigen Grillabend den
Wanst vollgeschlagen, genetzwerkt*, Reiseberichten gelauscht und
mich zu Ausprägungsformen der modernen Ikonographie
weitergebildet.
Aber das ist privat.
Eigentlich wollte ich zunächst über eine - wie von Hr. Falschgold
schon angekündigte - "Experience" schreiben, mit deren Hilfe ich
voller Freude in meine innere Mitte zurückkehre, ohne mir beim
Meditieren mühsam das Zusammenstellen von Einkaufslisten zu
verbieten.
Dann stand ich auf der Prager Straße und sah das Dresden Zentrum
Hotel, und an der Seite stand groß: "This must be the Place".
Darüber freute ich mich sehr und erzählte meiner Freundin davon,
mit der ich zum Mittagessen verabredet war. Ihr fragender Blick
verriet mir, dass sie nicht wusste, woher meine Ekstase kam.
Bummer!
Für die 1970er Jahre Musikaffinen Leser*innen dieser Rezension:
Nein, ich dachte nicht an den Talking Heads Song, weil mir deren
Musik nicht besonders nahe ist. Kleiner Seitenschwenk: Sollte das
der Beweis für die öfter in meinem Freundeskreis aufgestellte
steile These sein, dass überhaupt nur Bands mit vorangestellten
"The" im Namen Musik für die Ewigkeit erschaffen können? [Pls.
Discuss.]
Jüngere Musik Aficionados denken vielleicht an die Version von
Arcade Fire.
Aber nein: für mich ist es der magische Titel eines der
überraschendsten Filme EVER, von Paolo Sorrentino, der damit 2011
ein mit Stars gespicktes (wenn gleich von der Kritik
weitestgehend verrissenes) Juwel der großen Leinwand geschaffen
hat.
Ich behaupte: Paolo Sorrentino war mit diesem Werk seiner Zeit
einfach 10 Jahre voraus. In unseren Zeiten, in denen erbittert
und wütend darüber gestritten wird, wer wie wann und wo und
überhaupt und welchen Platz in unserer Gesellschaft verdient hat
und sich dort vernehmbar äußern darf, setzt er einen Menschen in
den Mittelpunkt, der jeder Beschreibung spottet: der ein*en
erschreckt (kurz), über den man lachen möchte (kurz), und der an
jeder Stelle des Films anders abbiegt als die antrainierte
Erwartungshaltung vermuten lässt. Dazu ein Plot, der jeder
Beschreibung spottet und am Ende alles zu Gold gemacht hat, was
noch nicht mal glänzte. Alas: Magie!
Wie immer werden wir zur monatlichen Diskussion spoilern und
enthüllen, was das Zeug hält. Hier meine ausdrückliche
Empfehlung, sich das Werk zu besorgen und zu schauen, OHNE vorher
irgendetwas weiter darüber gelesen zu haben. Vertraut mir!
___________________
Mir nicht zu vertrauen - oder auch doch neugierig über meine
Empfehlung hinaus zu sein - ist ok, doch noch ein paar
Enthüllungen zum Werk:
Schon der Einstieg ist seltsam: die Buchstaben des Vorspanns sind
in einem die Zeit der Entstehung verratenden seltsam hässlichen
grünen Font gehalten, ein Hund mit Halskrause befindet sich
außerhalb eines inklusive Rosentapeten britisch anmutenden, sich
dann doch aber in Dublin befindenden herrschaftlichen Anwesens,
und Sean Penn lackiert sich die Zehennägel schwarz und legt
Unmengen Schmuck an. Dies getreu der von Bill Cunningham
formulierten Funktion der Mode: "Kleidung ist unsere Rüstung, mit
der wir der Welt begegnen." Protagonist Cheyenne ist dabei eine
Kopie von The Cures Robert Smith. Kann aber
nicht mehr seinen Hüftbeuger strecken und bewegt und näselt sich
als Rockstar im Ruhestand irritierend langsam durch die Gegend.
This Must Be the Place erschüttert unentwegt unseren
Referenzrahmen - unsere Erfahrungen, die unsere Erwartungen und
Möglichkeiten der Voraussage prägen: diese werden nicht erfüllt,
aber nicht in Richtung Enttäuschung, sondern Überraschung. Wir
sehen, wie Leute mit ihm agieren und auf ihn reagieren, wir sehen
seine Freundlichkeit und seine Rachsucht, wenn er zwei ob seiner
Erscheinung im Supermarkt blöde kichernden Frauen schnell und
heimlich die Milchtüten zersticht.
Die Story ist unglaubwürdig, die Dialoge voller Blödsinn und
Weisheit, die Besetzung erstklassig, der Soundtrack sowieso: Wir
sehen David Byrne und Frances McDormand, es geht um Rollkoffer
und den Holocaust, unsere Unkenntnis der Anderen und sehen die
Weite des Himmels in the US of A.
Die deutsche Synchronisation ist in Stimmlage, Ausdruck und
Vokabular sehr eng am englischen Original, und trotzdem doof.
Schwer zu beschreiben, woran das liegen mag: Ähnlich erging es
Buffy - The Vampire Slayer, bei der aus einer coolen
Jugendlichen, die permanent die Welt rettet, im Deutschen ein
blöder Teenager wurde, aber auch Veronica Mars, die durch die
deutsche Synchronisation jede Tiefe und Coolness verlor und dumm
kicherte. Für die noch älteren Leser*innen, die diese Verweise
nicht nachvollziehen können (Oder Buffy und Veronica Mars aus
Arroganz ignoriert haben): der Unterschied zwischen Original und
deutscher Synchronisation ist ungefähr genauso wie zwischen den
ost- und westdeutschen Versionen der Olsenbande: Witz, Cleverness
und Sozialkritik verschwinden und lassen 3 Looser zurück.
This Must Be the Place bringt das Staunen zurück, wenn man sich
auf den Film einlassen kann. Wundersamer Weise besteht der Film
den Test der Zeit und ist auch mehr als 12 Jahre nach seiner
Entstehung der Diamant, den man erinnert hatte. Wild. Und
magisch.
*geklatscht und getratscht
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