Benjamin von Stuckrad-Barre: Noch wach?
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Beschreibung
vor 1 Jahr
Benjamin von Stuckrad-Barre, ein Name wie ausgedacht. Ein
Lebensweg vorgezeichnet in vier Worten. In den Neunzigern war er
der Liebling der Medien, so frisch, so
Harald-Schmidt-Show-Witzeschreiber, so unkonventionell, so
talentiert. "Doch dann kam das Koks / Dann kamen die Nutten /
Dann kamen die falschen Freunde / Und dann die kaputten /
Gedanken dazwischen", ollischulzt es sich Faust in die
Magengrube. Kokser sind unangenehm, aber sie kommen rum. Kokser
sind anstrengend, aber nur für diejenigen, die auch mal was sagen
wollen. Für den Konsumenten sind sie perfekt. Sie MOVEN
hyperaktiv von Thema zu Genre zu Kunst zu Buch zu TV-Show zum
Schreiben des Jubiläums-Theaterstücks zum 100. Geburtstag des
Verbrecherverlagsgründers. Nicht zum 100. Geburtstag von Jörg
Sundermeier, (Mit-)Gründer des Berliner Verbrecher Verlags mit
der klügsten Auswahl an Büchern ever. Der ist noch 47 Jahre in
der Zukunft, und wir gratulieren schon jetzt. Nein, zum 100.
Geburtstag von Axel Springer, dem Gründer des gleichnamigen
Verlags, schrieb der damals schon abstinent lebende
Stuckrad-Barre ein Theaterstück, dessen Wikipedia-Zusammenfassung
man nur auf leerem Magen lesen kann: Es gehe um ein Stück, “das
Springers Eigenschaften als Visionär, Lebemann und Tycoon
herausstellen sollte, mit besonderem Schwerpunkt auf die
Liebesgeschichte zwischen Springer und seiner letzten Ehefrau,
der Mehrheitsaktionärin Friede Springer, ihre aufopferungsvolle
Pflege in den Krankheitsjahren und das "Glück", das sie ihm
gebracht habe.” S**t, wo ist der Eimer. Dass Stuckrad-Barre auch
aus diesem gequirlten Kack ein brillantes, witziges und rasantes
Stück Theater gemacht hat, ist gesetzt. Wichtiger für das hier
besprochene Buch ist, dass er diesen Auftrag von einem gewissen
Mathias Döpfner bekam, dem bis heute Vorstandsvorsitzenden des
Axel Springer Konzerns. Mit dem war der Benjamin damals eng
befreundet, was nur auf den ersten Blick seltsam erscheint. “Was
will so ein bekannter linker Ex-Kokser mit so einem Nazi-Onkel?”
fragt man sich. Aber genau das arbeitet im wichtigsten
Nebenstrang von "Noch Wach?", dem jüngsten Roman von Benjamin von
Stuckrad-Barre, ebendieser auf, und es ist seltsam herzwärmend
und tragisch. Doch der Reihe nach.
“Worum geht es in ‘Noch wach?’”
“Um Sexismus.”
“Das war’s?”
“Und um den Machtmissbrauch, der darauf basiert.”
“Oookay… Von Stuckrad-Barre? DEM Stuckrad-Barre? Mutig, als
Mann..” ist der erste Gedanke.
Der zweite: “Wenn das einer stemmt, dann ‘the wunderkind’
Stuckrad-Barre”.
Angesiedelt zwischen dem Hotel "Chateau Marmont" in Los Angeles
und dem Springerhochhaus in Berlin verarbeitet BSB - wie er
todsicher genannt wird und es ihm ein bisschen peinlich ist, aber
auch nur ein bisschen - also zwischen dem historischen
Skandalhotel der Reichen und Schönen in Hollywood und dem Turm
von Mordor, aus dem täglich die BILD-Zeitung geistig brandschatzt
und mordet, erzählt der Autor mit starker Anlehnung an die
Realität über den Machtmissbrauch in der BILD-Redaktion, so dass
der Roman mit einem derart strikten Embargo erschien, dass selbst
Jan Böhmermann erst einen Tag vor der Veröffentlichung das
Inhaltsverzeichnis twitterte. Denn als zwar nicht ganz dichter
Monsterpromi, aber doch offenbar supersweeter Typ, der mit der
Trifecta der deutscher Supersympathinnen
Ulmen-Schlingensief-Roche zusammengearbeitet hat und gleichzeitig
Best Buddy von Springer-Chef Mathias Döpfner war, erhielt
Stuckrad-Barre von verzweifelten Opfern des damaligen
Chefredakteurs der BILD-Zeitung Julian Reichelt Belege für dessen
unzählige sexuelle Übergriffe auf Mitarbeiterinnen.
"Was tun damit? Dem Freund und Chef des Chefredakteurs geben? Für
sich behalten? An die Öffentlichkeit gehen? Was passiert dann mit
den Frauen? Was mit meiner Freundschaft mit Döpfner? Was passiert
mit mir?", fragte sich Stuckrad-Barre.
Was er damit gerne gemacht hätte beschreibt er in “Noch Wach?”
und der Konjunktiv ist nur zum Schutz vor der Armee der Anwälte
des Axel-Springer-Verlags, es ist wohl ziemlich genau so
abgelaufen.
Der Titel des Buches ist ein Zitat, eine WhatsApp Nachricht von
Bild-Chef Reichelt an eine seiner Untergebenen früh um vier.
“Noch Wach?” lässt einen Mann beim Aufschlagen des Buches nur die
Schultern zucken, “Warum nicht? Haben wir alle schon gesimst”.
Wenn man den Kindle sechs Stunden später ausschaltet, weiß man,
dass einer Frau, zumal einer abhängig beschäftigten, jungen,
möglichst blonden, die gleichen Worte wie ein Omen sind, es ihr
kalt den Rücken runter läuft und wenn man einen Puls hat, uns
jetzt auch. Sollte das der einzige Verdienst des Buches (und
damit des Autors) bleiben, hat es sich gelohnt.
Aber Stuckrad-Barre hat sich mehr vorgenommen, wer immer da
“Schlüsselroman” in seinen Wikipedia-Artikel geschrieben hat (es
war ChickSR), es ist was dran. Ich, der ich Benjamin von
Stuckrad-Barre aus den Augen verloren hatte, habe ihn wieder im
Fokus und lese einen nicht weniger brillanten und lustigen
Schriftsteller als in den Neunzigern und einen Mann, der sich
jetzt seinem Leben stellt und davon ironisch gebrochen berichtet.
Eine Formulierung von oppulentem Blödsinn. Ok, nochmal:
Das Buch erzählt von Sophia, einer jungen, klugen,
großstädtischen und, versteht sich, bildhübschen TV-Moderatorin
in einem unbenannten deutschen Krawall-TV Sender nach
amerikanischem Fox-News Vorbild, der im Buch kaum verhohlen für
die BILD-Zeitung steht. Das Ganze passiert aus der Sicht eines
unbekannten Erzählers, also des Alter-Egos Stuckrad-Barres, der
sich im Winter normalerweise in Kalifornien im Promi-Hotel
“Chateau Marmont” dem hässlichen Berliner Grau entzieht. Dort
sitzt er mit Künstlern, Kiffern und Kinopromis am Pool und es ist
unklar und man möchte auch nicht wirklich darüber nachdenken, ob
Stuckrad-Barre im real life im “Chateau Marmont” gelebt hat oder
gar lebt. Geschrieben sind die Szenen aus dem Luxushotel mit
einer aufreizenden Gelassenheit und Normalität, man ist hin und
hergerissen zwischen Neid und einfach nur sauer sein, dass sich
jemand aus Niedersachen sowas leisten kann. Aber diese
interessante Lässigkeit im Bericht über ein so privilegiertes
Leben zwischen der gassigehenden Drew Barrymore und
Am-Pool-Buch-Lesenden Harry Weinstein-Whistleblowerin Rose
McGowan bringt uns, gewollt oder ungewollt, in einen Modus;
bereitet uns vor auf einen Blick in eine Welt, die genauso
seltsam und fremd ist, dafür deutlich ekelhafter und näher: die
des Machtmissbrauchs im Axel-Springer-Hochhaus. Sie trainiert uns
gewissermaßen, mit unerwartetem, wenn man naiv ist
“unglaublichem”, S**t umzugehen. Dieser S**t heißt
Machtmissbrauch. Dieser S**t heißt sexuelle Belästigung. Von
abhängig Beschäftigten bei der BILD im Speziellen und dem
generellen S**t, den Frauen so erleben, in der alltäglichen
Ausführung, überall.
Der Stil der Erzählung ist.. seltsam. Auf fast bewundernswert
naive Art und Weise kritisiert Stuckrad-Barre zum Beispiel den
deutschen Medienbetrieb, als hätte das noch nie jemand getan. Für
einen Fast-Gar-Nicht-Konsumenten deutscher Medien, wie ich es bin
- ob Zeitungen, TV oder deutsches Social Media, all das ist mir
meist wurscht - ist das natürlich irgendwie interessant. Für
alle, die dort täglich zu Hause sind, wahrscheinlich eher zum
Gähnen. Dabei müssen Phrasen gedroschen werden, bis der Flegel
bricht, so spricht man nun mal in der Branche - was man keiner
Leserin zumuten kann. Stuckrad-Barre verstärkt diese Klischees,
zunächst krude anmutend, indem er, wann immer der Autor oder eine
Handelnde im Buch Plattitüden ablässt, er diese GROSS schreibt,
damit wir auch wissen, dass es eine PLATITÜDE ist, und dass er
diese Wendung ja eigentlich NIE verwenden würde. Dieser Bruch im
Lesefluss ist (mir) zunächst unangenehm, aber wie an die
Rechtschreibreform und die vierte Variante des Binnen-I gewöhnt
man sich auch hier schnell, es sei denn man heißt Friedrich mit
Vornamen, oder Horst. Der Sinn der typographischen
Verkehrszeichen wird klar, wenn im Buch immer mehr moderne
Sprachformen kollidieren: Instagramspeech vs. Corporatespeech vs.
Auf-Drogen-Sein vs. BILD-Hetze und nur noch der präzise,
ironisch-abstandswahrende innere Monolog von Stuckrad-Barre den
Leser vor dem Weinen bewahrt. Man fragt sich: “What the f**k ist
aus unserer German language geworden?!”
Auch die Berichte über Weinstein/Hollywood/#meetoo werden
nacherzählt für viele naiv klingen, als hätte man den S**t nicht
gelesen, damals. Aber habe ich, zum Beispiel, tatsächlich nur
peripher, ich ignoranter Macho, ich, und für mich ist es
interessant, das zusammengefasst zu bekommen. Auch der
Stuckrad-Barre im Buch, obwohl doch so vernetzt, so sensibel und
so aufmerksam, ist immer wieder überrascht und wir haben nicht
das Gefühl, er mache das “für den Leser”. Metaphern, Satzbau und
Witzischkeit sind dabei zu Beginn des Buches nicht immer
treffsicher, was hier zu erwähnen ein Kompliment ist, man
erwartet es einfach ein bisschen besser von Stuckrad-Barre. Aber
das wird. Nach der Mitte des Romans ist die Sprache deutlich
konziser, die Dialoge stilgenau (und damit durchaus schmerzhaft
für Menschen, die jetzt nicht so gerne in Berlin-Mitte sind und
den Influenzern beim Instagrammrecorden zuhören). Es ist nun
endlich der gleiche, genaue und bis zum letzten Wort kürzende
Pointenmeister der späten 1990er am Werk.
Das wird auch sehr nötig, denn wenn nach ein paar das Setting
gebenden Kapiteln der Erzähler das milde Los Angeles mit dem
selbstmordgrauen Berlin tauschen muss, weil seine mittlerweile
gute Freundin Sophia, die sich, wie so viele, mit dem
Chefredakteur des SENDERS, eingelassen hat, nun fallen gelassen
wurde und das nicht hin nimmt. Nicht das Fallengelassenwerden ist
ihr Problem, ihre eigene Dummheit und Naivität und Scham ist ihr
schmerzhaft bewusst. Sophia wird willkommen geheißen im
vieldutzendstarken Club derjenigen, denen es genauso ergangen ist
vor ihr. Und sie beschließt, dem ein Ende zu bereiten. Der Autor
kommt also zum Thema und wenn man spätestens jetzt nicht in Buch
und Stil gefangen wäre, würde so mancher “Ach, come on, nicht
schon wieder #meetoo” Leser, männlich, den Kindle weg legen. Kann
er aber nicht mehr. Es ist zu funny. Es ist zu gut. In Teilen
geschrieben wie vom letzten verbliebenen Spex Redakteur,
sprachlich brillant und faszinierend und immer irgendwo auch ein
bisschen peinlich. Wie dass Thema. Sophia berichtet dem Erzähler
“die ganze Story”, wie man sich mit einem Chef einlässt, warum,
was das beinhaltet, was man wie denkt, fühlt, macht und nicht
macht. Der literarische Trick, einen Mann erzählen zu lassen, wie
eine Frau ihm erzählt, was Frauen mit Männern so erleben, ist
clever und verstärkt den Schock. Die literarische Tonlage wird
einfach eine Oktave tiefer, der Duktus unaufgeregter, das
Geschehen wird nicht aus der Opfer-, sondern aus Zeugensicht
übersetzt, und damit gleichzeitig erträglicher und
unerträglicher.
Denn es ist bekanntermaßen recht schwer für Männer über Sexismus
zu reden (oder gar zu schreiben), denn irgendwas macht man immer
falsch: als Mann verstehe man das nicht, man sei potentieller
Täter, man spreche nur drüber, weil man muss und wenn man nicht
darüber spricht, ist man ignorant. Betroffene wollen gefragt
werden, aber nicht immer, nicht von jedem und wenn, dann
vorsichtig und sensibel und man soll zuhören, aber auch was
sagen. Vielleicht ist die super simple, ein bisschen unsichere
und überstilisierte Art und Weise, wie Stuckrad-Barre das macht,
gar nicht die schlechteste Form - wie ein Schutzschild aus
Naivität.
Als Beispiel: Irgendwann geht der Autor im Selbstgespräch viele
der #metoo Fälle durch. Was ist dran, wie soll man sich
positionieren, aus persönlicher Sicht. Halt wie man das so
durchspielt. Weinstein, Cosby, Trump, Kevin Spacey, Woody Allen,
Louis C.K. Diese Abwägungen haben wir alle schon gemacht,
Stichwort: Trennung von Künstler und Werk. Aber während wir das
mit uns im Stillen tun (oder besoffen zu laut an der Bar),
schreibt Stuckrad-Barre es auf. Es entsteht ein beeindruckendes
Bild des modernen Menschen, der nicht immer, eigentlich nie,
weiß, wofür oder wogegen er sein muss, obwohl das (scheinbar)
permanent verlangt wird. Die ungeschminkte, aber natürlich
sorgfältig editierte, Innenwelt des Homo Stuckrad tröstet mit
seiner generischen Verwirrtheit. Man liest eine Schwester, einen
Bruder. Denn es geht natürlich um Sexismus, primär, dass der
Autor Mann, weiß und mittlerweile alt ist, ist auch sichtbar,
aber er löst sich aus dem Selbstgespräch und im Dialog mit der
fiktiven Sophia wird aus den einsamen inneren Monologen des
modernen Mannes ein integratives Projekt, bei dem Stuckrad-Barre
zu seiner besten schriftstellerischen Form aufläuft.
Denn die Schwere des Themas bricht Stuckrad-Barre mit brillanten
Bonmots, Aphorismen, albernen Vergleichen, Sprüchen. Was er dabei
wirklich hervorragend macht, ist, den Roman im Rahmen zu halten.
Bei einem weniger talentierten Autor wäre das ganze ratzfatz zu
Betroffenheitslyrik geworden oder zu Klamauk oder einer crazy
Stromberg-Parodie “mit Tiefgang”. Stuckrad-Barre aber schafft es,
einen Roman über “Unglaubliches” glaubwürdig und gleichzeitig
extrem lesbar zu schreiben.
Natürlich wird man das Buch gelegentlich als Versuch der
Selbstläuterung verstehen, denn Stuckrad-Barre hat, Max Goldt
ignorierend, “gesellschaftlich absolut inakzeptabel”, zehn Jahre
für den Springer-Verlag gearbeitet, und es wird genug Leute
geben, die ihm das auf den Kopp hauen - alle die, die noch nie
etwas falsch gemacht haben im Leben und schon immer alles
richtig.
Ich kann mich einer gewissen Sympathie nicht entziehen und gerate
dabei gerne mit dem Autor in doppelte, dreifache Stolperfallen,
ja, Sprengfallen. Erstens: kann ein Mann über Sexismus schreiben?
Zweitens: wenn es einem Mann so erscheint, als dass ein anderer
über das Thema ganz gut schreiben könne, kann der das denn
überhaupt einschätzen? Und wenn ich also jetzt diese Rezension
schreibe und der Mann bin, der das Buch von dem Mann, der über
Sexismus schreibt, ganz gut finde, hat das einen glitzekleinen
Hauch von Sexismus? So wir Männer unter uns? It’s complicated,
wie immer. Dabei hat es Benjamin von Stuckrad-Barre mit “Noch
Wach?” geschafft, ein Buch zu schreiben, welches diese Frage
brillant mit “Eigentlich nicht.” beantwortet.
Und das behandeln wir am besten in der Diskussion mit meinen
Kolleginnen des Studio B Kollektivs und ich schaue mutig, weil
klüger, in die Zukunft von drei Wochen, wenn diese Diskussion auf
diesem Kanal erscheinen wird. Und dass “Noch wach?” von Benjamin
von Stuckrad-Barre eines der wichtigsten deutschen Bücher seit
langem ist, stelle ich dann zur steilen These.
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