Florian Illies: 1913. Was ich unbedingt noch erzählen wollte

Florian Illies: 1913. Was ich unbedingt noch erzählen wollte

7 Minuten
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Beschreibung

vor 1 Jahr

Florian Illies, nicht nur deutscher Autor, sondern auch
Kunsthistoriker, Journalist und Kunsthändler, veröffentlichte
2012 seinen Roman 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, welcher in
kürzester Zeit zum Bestseller wurde, mittlerweile in 28 Sprachen
übersetzt wurde und sein bislang größter kommerzieller Erfolg
ist. 2017 wurde es durch mich bei Studio B. Lob und Verriss
wohlwollend besprochen, jedoch entging mir lange Zeit, dass
Florian Illies bereits ein Jahr nach meiner Rezension einen
Nachfolgeroman mit dem Titel 1913. Was ich unbedingt noch
erzählen wollte, ebenfalls im S.Fischer Verlag, veröffentlichte.


Wir tauchen also erneut ein in das Vorkriegsjahr 1913, in dem uns
Florian Illies, wie auch schon im Vorgängerband, anhand meist
kurzer Anekdoten, in die umfangreichen Kreise bestehend aus
Künstlern, Musikern, Literaten, aber auch Politikern einführt.
Wie umfangreich das Personal ist, dessen er sich dabei bedient,
macht schon das Register deutlich, das sich am Ende des Romans
befindet und ja, um bei der Wahrheit zu bleiben, auch die
Handelnden aus dem ersten Band werden hier aufgeführt, wobei die
Schnittmenge der Personen, die in beiden Romanen vorkommen sehr
hoch ist. Dieses Mal gliedert Illies sein Buch jedoch nicht in
Monate, sondern in Jahreszeiten, beginnend beim Winter 1913.


So erfahren wir beispielsweise über diesen Winter, dass die
Zigarettenmarke „Camel“ in North Carolina gegründet wird, die die
erste ist, die Zigaretten in Zwanzigerpackungen anbietet und das
20. Jahrhundert der Zigarettenindustrie beginnt. Und für alle,
die es bis heute nicht wussten, ziert das Cover der Marke „Camel“
entgegen des Namens kein Kamel, sondern ein Dromedar.


Wir lernen aber auch das Tilly Durieux, Lou Andreas-Salomé, Alma
Mahler, Coco Chanel, Ida Dehmel und Misia Sert – letztere war mir
bis dato gänzlich unbekannt – zu den zentralen Frauenfiguren
dieser Zeit gehören. Illies liefert aber nicht nur eine Unmenge
an Informationen ab, sondern schafft es auch immer wieder, sie
auf komische Weise zu verpacken, wie die Information, dass der
26-jährige Inder Srinivasa Ramanujan es zwar schaffte, hundert
der größten Rätsel der analytischen Mathematik zu lösen, mit
seinem kurz darauf folgenden Tod aber nicht gerechnet hatte. Oder
als weiteres Beispiel:


„1913 ist das Jahr, das das 19. Jahrhundert und das 20.
Jahrhundert unauflöslich miteinander verbindet. Kein Wunder, dass
deshalb am 29. April 1913 Gideon Sundback das Patent für den
Reißverschluss erhält.“ (S.92)


Darüber hinaus erfahren wir, dass die Neurasthenie nicht nur die
Krankheit des Jahres 1913 ist, eher undefiniert und „für jedwedes
psychosomatische Unwohlsein und Nervenleiden“ (S. 67) steht, so
dass viele der großen Dichter wie Rilke oder Kafka, sich die
Diagnose gleich mal selbst stellen, sie aber in der Literatur
auch viel Spott auf sich zieht. Und apropos Rilke, seinem Running
Gag, den es auch schon in Der Sommer des Jahrhunderts gab, bleibt
Illies sich auch in diesem Band treu. Er lautet ganz einfach:
„Rilke hat Schnupfen“ und verweist natürlich auf seinen stets
kränkelnden Zustand.


Während der Chemiker T.L. Williams im Frühling nicht länger mit
ansehen kann, dass seine Schwester unglücklich in ihren Chef
verliebt ist und daraufhin Kohlenstaub und Vaseline mischte,
wodurch er die Wimperntusche Mascara erfand, was nicht nur zur
Folge hatte, dass seine Schwester ihren Chef eroberte, sondern
auch, er mit der Firma Maybelline den Weltmarkt. Veröffentlichte
einige Zeit später Blanche Ebutt in Amerika den Ratgeber mit dem
Titel „Dont´s for Husbands“ der schon damals den wichtigen und
revolutionären Rat beinhaltet:


„Hören sie auf, sich die ganze Zeit Gedanken über ihre Gesundheit
zu machen. Wenn sie wirklich krank sind, suchen sie bitte einen
Arzt auf, anstatt die Frau an Ihrer Seite die ganze Zeit mit
Vermutungen darüber verrückt zu machen, was Ihnen eventuell
fehlen könnte.“ ( S. 121)


Amen!


Es ist diese Fülle an Ereignissen und Informationen, die Florian
Illies zusammen trägt, die dieses Buch so lesenswert machen.
Neben zahlreichen Erfindungen und Patenten dieser Zeit, über die
Illies uns in Kenntnis setzt, führt er uns auch das Leben der
großen Dichter, Maler und Musiker vor Augen. Auf ihre engen
Verbindungen und Entwicklungen kommt er, in meist wenigen Sätzen
bzw. Episoden, immer wieder zurück, wodurch sie einem beim Lesen
regelrecht nah und anschaulich erscheinen. Durch die Dichte an
Informationen und Geschehnissen scheint das Jahr 1913 greifbar zu
werden. Ein gewisser Fokus auf die Liebschaften, Affären,
Bettgeschichten und ähnliche zwischenmenschliche Gegebenheiten,
die Potenzial für Spannung bieten, ist dabei unverkennbar. Man
gewinnt den Eindruck, dass die Prominenz dieser Zeit frei nach
dem Motto „Wein, Weib und Gesang“ lebte. Aber es ist ein
Lebensgefühl, das Florian Illies versucht, dem Lesenden nahe zu
bringen, weg von der Bedrohlichkeit, die diese Jahreszahl im
Allgemeinen suggeriert. Das Tempo ist dabei rasant, da man durch
die permanenten Szenenwechsel auch gedanklich immer wieder
umschalten muss. Aber kein Detail ist unwichtig, einzig durch die
Fülle derer, fielen viele schon kurz nach dem Lesen wieder der
Vergessenheit anheim. Dennoch schwappt Illies Faszination für das
Jahr 1913 auf einen über. Es muss den Autor unfassbar viel Zeit
gekostet haben, all diese winzigen Details und Kleinigkeiten zu
recherchieren, die der Leser innerhalb kürzester Zeit verschlingt
– schon allein dafür hat er meinen Respekt.


Es wird daher auch nicht verwundern, dass ich für Florian Illies'
1913. Was ich unbedingt noch erzählen wollte, das so wunderbar
kurzweilig, informativ, witzig und charmant geschrieben ist,
meine Empfehlung ausspreche. Ich ende mit einem Zitat aus dem
Sommer des Jahres 1913, welches eine Erkenntnis Florian Illies'
ist und mir viel Freude bereitet hat: „Es ist keine Freude, Frau
eines kubistischen Malers zu sein.“ (S.135)


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