Navid Kermani: Entlang den Gräben
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Beschreibung
vor 1 Jahr
Rewilding ist gerade sehr in. Auf deutsch “verwildern”,
überlassen Leute, die es sich leisten können, ihre privaten
Ländereien bewusst der Mutter Natur. Aber da der planende Mensch
ohne Plan nicht kann, sitzt er nicht einfach auf dem Feld und
schaut zu, was passiert, oder dreht ihm gar den Rücken zu und
lässt die Mutti endlich in Ruhe. Nein, er legt erst mal einen
Teich an, für die Fische. Und dann einen Zulauf für die Biber.
Und stellt Bienenkästen drauf und schlägt einen Pfad zur
Wildparzelle, denn die will er seinen Bankerfreunden zeigen und
auf der Aussichtsplattform beim Grauburgunder über ökologische
Marktwirtschaft schwätzen.
Es konnte nicht lange dauern, bis die Ersten den Begriff zur
Metapher machten und nun rewilden wir, die wir uns das leisten
können, also Leute, die noch Zeit haben Bücher zu lesen und
darüber zu schreiben, wir rewilden also unser Hirn. Ok, unsere
Timeline, unsere ToDo-Apps und unsere geshareten Kalender. Denn
auch wir, also ich, können nicht einfach in den letzten
verbliebenen Zeitungskiosk im Viertel gehen und eine zufällig
gewählte Superillu durcharbeiten, auf dass wir inspiriert werden.
Wir abonnieren stattdessen Blogs, die uns Google zum Thema
“rewilding” vorgibt und führen Notiz-Apps, in denen wir die
Ergebnisse notieren und zur Verwertung vorhalten. Und doch, wenn
wir Freunde haben und wie ich gerade im rewilding mode sind,
lassen wir uns auf einmal Bücher empfehlen und legen Sie nicht
nur auf dem Kindle ab, sondern lesen sie auch. Wirklich! Fast
sofort! Wild.
So geschehen mit dem hier zu besprechenden Buch “Entlang den
Gräben” von Navid Kermani, empfohlen vom Freund der Show und
notorisch reisenden Mirko Glaser of the Blue Note Fame.
Worum geht’s? Navid Kermani bereiste im Jahr 2016 eine Gegend,
die wir alle damals eher ignorierten, bis sich am 24.2.2022 auf
einmal alles änderte. Ab da hießen diese uns bisher nur milde
interessierenden Länder jenseits der Oder auf einmal
“NATO-Ostflanke”. Für weit über 100 Millionen Menschen blieben
sie “die Heimat”. Diese Länder, vom Baltikum über Polen, die
Ukraine, mit einen Abstecher nach Russland durch Georgien bis zum
Iran hinunter hat der Autor bereist und berichtet uns in seinem
Tagebuch.
Navid Kermani, Jahrgang ‘67, ist für diesen Zustandsbericht des
östlichen Europa prädestiniert, wuchs er zwar im tiefsten Westen
der BRD auf, jedoch als Sohn von Eltern, die nur acht Jahre
vorher aus dem Iran eingereist waren. Er hat Philosophie studiert
und Orientalistik, er hat als Reporter, Essayist, Schriftsteller
gearbeitet. Wenn man sich jemanden für einen Reisebericht bauen
könnte, Navid Kermani käme dabei heraus.
Doch wir bekommen nicht nur ein Reisetagebuch. Kermani ist
Journalist, kein Backpacker, und somit liest er vor und während
der Reise Bücher zu Thema und Gebiet und tut damit dankbar nicht
allwissend, sondern zitiert, empfiehlt und kurzrezensiert ein
halbes Dutzend weiterführende Werke. Das wohl prägendste für den
ersten Teil der Reise ist “Bloodlands” des US-amerikanischen
Historiker Timothy Snyder, führte uns dieser doch in dem 2010
erschienenen Sachbuch durch eben diese Gebiete, in denen Deutsche
(und natürlich auch Russen) unter der Zivilbevölkerung gewütet
haben - gemordet, vertrieben, verschleppt. So führt fast jeder
Tag an eine neue Stelle des Grauens, ob in Polen, den baltischen
Staaten, Belarus oder der Ukraine, einfach weil in jedem Dorf und
jeder Stadt ein Denkmal an die Zeit zwischen ‘39 und ‘45
erinnert.
Diese Gräuel sind im kollektiven Gedächtnis jetzt achtzig Jahre
her und es wird oft nur noch von Gedenksteinen erhalten, schon
weil diese nun mal an Menschen erinnern, die es dort oder
überhaupt nicht mehr gibt. Aber auch, weil das Dorf, der Friedhof
in den Mühlen des Krieges, des Nachkrieges, des Sozialismus, des
(Oligarchen-)Kapitalismus, schon wieder des Krieges, irgendwann
mürbe geworden und diesen zum Opfer gefallen war. Also sucht und
findet Kermani Überlebende, letzte Statthalter eines Dorfes,
einer Religion, einer umgebrachten oder vertriebenen Gemeinde und
spricht mit ihnen - selten eigentlich über Vergangenheit und
Herkunft, fast immer über Gegenwart und das Leben im Ort. Da
wären zum Beispiel die letzten Karäer, eine der ältesten jüdische
Kleinsekten, wie wir lernen um 1100 aus Ägypten vertrieben, die
es erstaunlicherweise in Litauen gibt, wie auf der Krim und von
denen ich noch nie etwas gehört habe und deren Entdeckung somit
ein gelungener Beitrag zum persönlichen Rewilding-Projekt sind.
Überhaupt, die Krim: auf einmal weiß jeder alles über sie, aber
sie ist immer noch ein bisschen wilder: Sie ist der originale
melting pot, New York ist ein Scheissdreck: Krimtataren,
Griechen, Russen, Ukrainer, Polen, Litauer, Engländer, Deutsche -
alle verorten irgendetwas Ursprüngliches ebenda und kämpften und
kämpfen um die paar Quadratkilometer.
Soweit klingt das alles wie ein Reisebericht für politisch
Interessierte, aber Kermani schafft hier mehr: Durch die
intelligente Auswahl der Gesprächspartner, denen er die richtigen
Fragen stellt, verbunden mit den Verweisen auf interessante und
oft überraschende Stellen in der von ihm gelesenen Reiselektüre
erhalten wir Erkenntnisgewinn - bedingt natürlich auch durch so
einige blinde Flecke, die man hierzulande östlich der Neiße hat.
Das beginnt mit der Ignoranz, mit der wir im Westen gefühlt
“Europa” mal so eben an der Polnischen Außengrenze aufhören
lassen und wenn wir ehrlich sind, manchmal schon eine Grenze
eher. Dazu kommt die fatale Tendenz, uns fremdes Ansinnen
irgendwie in das eigene Weltbild pressen zu müssen. Es ist meiner
Ignoranz geschuldet, aber ich vermute nicht der Einzige in meiner
Bubble zu sein, der bass erstaunt sein wird, wenn er in “Entlang
der Gräben” aus dem Mund eines Mitglieds einer ethnischen
Minderheit eine Verteidigung des Nationalismus hört, über den wir
oft genug empört urteilen, und der hier schlüssig begründet wird.
Sie geht zusammengefasst so: Ja, wir sind Nationalisten. Nicht
Patrioten, nein, Nationalisten, denn wir brauchen die Identität
einer Nation um zu überleben. Wenn die Deutschen einen Krieg
führen, oder die Russen, egal ob als Aggressor oder Verteidiger,
ob sie verlieren oder gewinnen - am Ende wird es Deutschland
geben und Russland. Vielleicht etwas kleiner, vielleicht etwas
schwächer. Aber es wird sie weiterhin geben. Wenn wir
[Moldawier/Ukrainer/Krimtataren/Polen etc.] in einem Krieg sind,
geht es ums Überleben. Wenn wir verlieren, sind wir weg. Und wir
verlieren nur dann nicht, wenn wir paar Hanseln alle an das
absolut Gleiche glauben, nicht an Fortschritt oder
Konservatismus, an Ökologie, Frauenrechte oder die Vielehe. Wir
brauchen den kleinsten gemeinsamen Nenner: “Hier in unseren
Grenzen, gibt es nur [Moldawier/Ukrainer/Krimtataren/Polen..] Und
ausserhalb den Feind.“
Da schlägt sich die Hand von selbst auf die Stirn. Ich habe
verstanden. (Und wer mit dieser Begründung deutsche Nazis
verteidigt, ist dumm.)
Es gibt in “Entlang der Gräben” natürlich auch die klassischen
Aha-Momente auf der Reisebuchebene und man muss sich nicht immer
dumm fühlen, weil man etwas so nicht wusste, dafür sind solche
Bücher da und Navid Kermani lässt hier nie den allwissenden
Weltenbummler raushängen, ist selbst oft erstaunt ob seiner
westelbischen Kurzsichtigkeit. So bekommen wir zum Beispiel einen
Eindruck, wie verlassen und unterentwickelt der Osten Belarus’
ist oder dass es in manchen Dörfern auf der Krim kein fließend
Wasser gibt. Oder dass Grosny, die doppelt zerstörte Hauptstadt
Tschetscheniens, mittlerweile eine potemkinsche Stadt ist. Mit
einem Mördergeld versucht Russland diese Stadt zum Aushängeschild
dessen zu machen, was passiert, wenn man sich der Russischen
Föderation unterwirft, nur damit das Geld in die Taschen
korrupter Bauunternehmer abfließt und diese damit billigst
Wolkenkratzer hin zimmern, in denen keiner wohnt, ja wohnen kann.
Denn es kann sich niemand leisten, mal abgesehen davon, dass in
den Wohnattrappen der Wasserdruck nur bis zum 1. Stock reicht,
die Verkabelung zum Brand neigt und ständig der Stuck von der
Decke fällt. Und die Wolkenkratzer mitten im Erdbebengebiet
stehen. Und so ist Grosny-Downtown komplett leer, kein Mensch
nirgendwo.
Die Osteuropäische Geschichte, die in “Entlang den Gräben”
erzählt wird, ist faszinierend, märchenhaft, ultra komplex - und
in vielen ihrer Details grausam. Soviel Vertreibung und Leid
macht dankbar für unseren Frieden hier. Wenn man über die
Gespräche mit einer relativ jungen Schriftstellerin aus
Tschetschenien liest, die mit ihren dreißig Jahren nur Krieg und
Angst erlebt hat und man dann in hiesigen Zeitungen über die
Verteidigung der Ukraine vom “ersten großen Krieg in Europa nach
dem Ende des zweiten Weltkrieges” liest, fragt man sich und die
Medienlandschaft um einen herum, wer in Geographie tiefer
geschlafen hat. Natürlich liegt Tschetschenien in Europa, so wie
Ossetien, Georgien, Moldau - wie kurzsichtig auf allen
metaphorischen Ebenen kann man sein?
Aber der Krieg in der Ukraine ist der, der uns beschäftigt, noch,
und eben ob der Perspektive aus 2016 geschrieben, ist dieser
Abschnitt der Reise der aktuell natürlich Interessanteste. Navid
Kermanis Buch gibt dabei den Einstieg, der, so spekuliere ich,
auch ohne Krieg im Land mich hätte für dieses interessiert - aber
eben wegen des Krieges macht Tilo Jung ein Vierstundeninterview
mit Ukrainistik-Professor Roman Dubasevych und der von Kermani
oft zitierte Autor von “Bloodlands” Timothy Snyder eine ganze
Vorlesungsreihe über “The Making of Modern Ukraine” die man
komplett auf youtube sehen kann. Und so bin ich angefixt, lese
und schaue und es stellt sich bei mir langsam ein Bild heraus,
wie wichtig das Gebiet der Ukraine historisch war, warum sie das
auch heute noch ist, was Putin dort will. Es wird wahrnehmbar für
mich, welch seltsames und natürlich nicht einfaches Verhältnis
Russen und Ukrainer zueinander haben, schon immer. Kermani
manchmal und Timothy Snyder sehr bestimmt legen hier den
Schwerpunkt der Begründung auf die Kolonialisierung, die jedem
Krieg in der Gegend schon immer zugrunde lag und so logisch mir
das nach der Lektüre vorkommt, so wenig war das auf meinem
Schirm. Was wiederum die Medien, oder deren Versagen, uns diesen
Krieg zu erklären und unsere damit verschobenen Perzeptionen in
den Fokus bringt. Man kommt ins Denken, mein Kopf ist gleich viel
verwilderter und ganz warm und wenn es der Deine sein soll oder
Du einfach endlich mal einen Blick über die Oder hinaus werfen
willst, hat Navid Kermani mit “Entlang den Gräben” ein ganz
hervorragendes Buch geschrieben.
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