Ottessa Moshfegh: Lapvona
8 Minuten
Podcast
Podcaster
Beschreibung
vor 1 Jahr
Die von mir so gefeierte amerikanische Autorin Ottessa Moshfegh,
die 1981 in Boston geboren wurde und persisch-kroatischer
Abstammung ist, ist eine Meisterin im Erzählen von Geschichten in
denen es oft um menschliche Abgründigkeiten, Süchte, emotionale
Störungen, aber auch den Wunsch nach einem besseren Leben,
Anerkennung und Emanzipation geht. Diese Geschichten finden
mitunter in ungewöhnlichen Settings statt, die auch als Allegorie
auf das Erzählte verstanden werden können. In ihrem neuen Roman
Lapvona, der bereits letztes Jahr im Original erschien und
kürzlich, also Anfang 2023, auch endlich auf Deutsch durch den
Hanser Verlag veröffentlicht wurde, bleibt sie sich treu und
führt dem Lesenden einmal mehr die Ungeheuerlichkeiten ihrer
Protagonisten vor Augen, deren Taten vor Abscheulichkeiten
strotzen.
Angesiedelt ist ihr Roman in der fiktiven – und wir vermuten
mittelalterlichen – Stadt Lapvona, die gleichfalls titelgebend
ist. Zeitlich umfasst die Handlung die Dauer von circa einem
Jahr, wobei das Buch in Jahreszeiten gegliedert ist und mit dem
Frühling beginnt und endet. Zunächst begegnen wir dem
Protagonisten Marek, einem 13-Jährigen, der für sein Alter nicht
nur zu klein ist, sondern auch als missgebildet und verwachsen
beschrieben wird, mit „knallrote[m] Haar, das noch nie gebürstet
oder geschnitten worden war“ (S.13) und seinem Vater, dem
Lämmerhirten, Jude. Die beiden leben in einer bescheidenen Hütte
auf der Weide und ihr Verhältnis zueinander ist vor allem durch
Anteilnahmslosigkeit und Gewalt geprägt, wobei Marek die Schläge,
die er durch seinen Vater erhält, als Zeichen seiner Liebe zu ihm
deutet. Wohingegen Jude vor allem seine Lämmer liebt und es für
ihn das Schlimmste ist, jedes Jahr einen Großteil von ihnen
verkaufen zu müssen, die dann geschlachtet werden.
Da Mareks Mutter Agata angeblich nach seiner Geburt gestorben
ist, wurde dieser als Baby von Ina gestillt. Diese war früher
einmal die Amme des Dorfes und hatte weder einen eigenen Mann
noch Kinder, konnte aber Milch geben, weshalb sie das halbe Dorf
genährt hatte und damit auch den Frauen und Familien half, die
selbst dazu nicht in der Lage waren. Da sie außerdem blind ist,
im Wald lebt und sich sehr gut mit Heilkräutern auskennt, wird
sie deshalb mitunter auch als Hexe bezeichnet. Im Verlauf des
Romans ist sie aber bereits sehr alt und ihre Milch längst
versiegt.
Im Gegensatz zu ihnen und den anderen Dorfbewohnern steht der
Fürst namens Villiam, der auf seinem Schloss lebt und sich an der
harten Arbeit seiner Untergebenen bereichert. Dabei wird er
geradezu als Witzfigur beschrieben, der ständig unterhalten und
belustigt werden will, sich dabei nicht sehr herrschaftlich
benimmt und vom Herrschen zumindest so viel versteht, dass er die
Dorfbewohner regelmäßig durch Räuber überfallen lässt und sie
damit einschüchtert, damit sie nicht gegen ihn aufbegehren. Dabei
wissen die Menschen im Dorf nicht, dass die Überfälle eine
Inszenierung ihres Herrschers sind, um die Dorfbewohner klein zu
halten.
Während man Marek am Anfang vielleicht noch für den stillen
Helden des Romans hält, dessen Leben sich noch zum Besseren
wenden könnte, kommt es schließlich durchaus zu einer
dramatischen Wendung. Nämlich als Marek mit Jacob, dem Sohn des
Fürsten, auf einen Berg steigt, wo er schließlich einen Stein
nach ihm wirft und so dessen Tod verursacht. Der Fürst,
außerstande die Realität um den Tod seines Sohnes zu begreifen –
denn sein ganzes Leben ist ja ein Theater, eine Inszenierung –
fordert dafür, dass Marek an dessen Stelle treten und ins Schloss
ziehen soll, um fortan als Villiams Sohn dort zu leben. Das dies,
entgegen der Erwartung beim Lesen, keinen positiven Effekt auf
Mareks Leben hat, sondern, im Gegenteil, noch seine schlechten
Seiten zu Tage fördert, wird leider allzu schnell offensichtlich.
Moshfeghs Roman strotzt nur so vor Abscheulichkeiten, die sich in
einer endlosen Kette aneinanderreihen. Die Menschen sind voller
Missgunst, Neid und Bösartigkeit ihren Mitmenschen gegenüber
eingestellt und so hofft man vergebens auf einen Protagonisten
oder eine Protagonistin, dem man sein Leserherz schenken kann.
Selbst für die geschlagensten Figuren kann man kein Mitleid
aufbringen, denn auch ihre niederen Gedanken werden einem
schonungslos vor Augen geführt. Dabei scheint es für Ottessa
Moshfegh kein Tabu zu geben, das unerwähnt bleiben darf. Es geht
um Mord und Kannibalismus, Vergewaltigung und Pädophälie,
Unterdrückung, Egoismus, Armut und Überfluss, um hier nur einige
zu nennen. Während man in ihren vorangegangenen Romanen immer
auch einen gewissen Witz im Grotesken und Überzogenen finden
konnte, hat man bei Lapvona permanent das Gefühl, sich durch
einen Sumpf an menschlichen Abgründen zu kämpfen, der kein Ende
nehmen will.
Dabei spielt auch die Religion immer wieder eine wichtige Rolle.
Beispielsweise der Priester Barnabas, dessen Name schon ein
Verweis auf seine Bedeutung in der christlichen Religion gibt,
der aber im Roman gar keine Ahnung von seinem Amt hat und der an
der Seite des Fürsten ein Leben führt, in dem ihm zumindest sein
leibliches Wohl garantiert ist. Im Tausch des einen Sohnes für
den anderen erkennen wir das Bibelzitat „Auge um Auge“, wobei es
im Roman weniger eine Form der Vergeltung zu sein scheint,
sondern für Jude eher eine Erleichterung darstellt und für
Villiam Teil seines lächerlichen Schauspiels, welches sein Alltag
geworden ist. Auch die Lämmer stehen im Allgemeinen für Unschuld
und Reinheit, im christlichen Glaube ist das Osterlamm jedoch ein
Symbol dafür, dass Jesus unschuldig für die Menschen gestorben
ist. Während des langen Dürresommers sterben dann auch alle
Lämmer, unschuldig scheint in Lapvona jedoch niemand zu sein.
Dabei hat die Religion für jeden eine andere Bedeutung. Während
Villiam und der Priester sie dazu nutzen, um die Dorfbewohner in
Schach zu halten und Marek sich nichts sehnlicher wünscht, als
eines Tages in den Himmel zu kommen, rechtfertigen die Bewohner
Lavonas selbst ihr Leid mit ihrem Glauben. Auch das
Übernatürliche und Mystische wird durch Ina und ihre Fähigkeiten
thematisiert und somit ein breites Feld dessen geschaffen, was
Religion für jeden einzelnen bedeutet und inwiefern sie das Leben
zu verstehen helfen kann.
„Vielleicht ist es das allergrößte Wunder, wenn Gott
Gerechtigkeit walten lässt, ohne dass ein Mensch dafür einen
Finger krumm zu machen braucht. Oder vielleicht ist es einfach
Schicksal. Im Nachhinein hat alles einen Sinn. Ob wahr oder
falsch, man muss sich für alles eine Erklärung zurechtlegen, um
irgendwie durchs Leben zu kommen. Worin liegt also hier der
Sinn?“ (S.317)
Diese Frage, die der allwissende Erzähler kurz vor Schluss des
Romans an den Lesenden selbst zu richten scheint, wirkt wie ein
Leitmotiv des gesamten Romans, der durch diese Frage umso mehr
einer Parabel gleicht.
Ottessa Moshfegh spricht in ihrem Roman zahlreiche Themen wie
Machtmissbrauch, Korruption, extreme klimatische Entwicklungen
und deren Folgen oder auch Misshandlung und Vergewaltigung an,
denen wir auch in unserer realen Welt gegenüber stehen. Dass sie
die Handlung dabei in ein mittelalterliches Setting versetzt,
verstehe ich als Hinweis darauf, dass sich auch in unserer Welt
Gesellschaften rückschrittlich entwickeln. Die Grausamkeiten,
überspitzten Darstellungen und die permanent aufeinander
folgenden schockierenden Geschehnisse, mag der ein oder andere
als Effekthascherei verstehen und ermüdend empfinden. Ich sehe
sie jedoch als das Recht einer Autorin an, den Lesenden mit dem
Übel der Welt zu konfrontieren und ihn dazu zu bringen, sich
damit auseinanderzusetzen. Viele Erkenntnisse resultieren doch
eher aus der Darstellung des Schockierendem denn des Schönem.
Ottessa Moshfeghs neuer Roman ist auf jeden Fall eine Empfehlung,
wenn auch keine leichte Kost.
This is a public episode. If you would like to discuss this with
other subscribers or get access to bonus episodes, visit
lobundverriss.substack.com
Weitere Episoden
11 Minuten
vor 22 Stunden
35 Minuten
vor 1 Woche
7 Minuten
vor 3 Wochen
16 Minuten
vor 4 Wochen
27 Minuten
vor 1 Monat
In Podcasts werben
Abonnenten
Hamburg
Kommentare (0)