Stephen Markley - The Deluge
23 Minuten
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Beschreibung
vor 1 Jahr
Der hier besprochene Roman “The Deluge” von Stephen Markley ist
bisher nur in englisch erschienen und da er thematisch doch recht
USA-spezifisch ist vermute ich wenig Interesse hiesiger Verlage,
das wirklich brillante Werk zu übersetzen (obwohl das mit ein
paar erklärenden Fußnoten ohne weiteres möglich wäre). Was ich
aber vermute ist, dass sich ein Netflix/HBO/Disney findet, das
Werk in einem Sechs- bis Sechzigteiler zu verfilmen. Wer sich
Spannung und absolutes Nichtwissen über Plot und Ausgang auf
diese unbestimmte Zukunft bewahren möchte, höre hier auf zu lesen
und erinnere sich, wenn es soweit ist, an meine ausdrückliche
Empfehlung dieses Buches. Selbiges gilt für diejenige, die es
heute schon in Englisch lesen möchte. Für alle anderen hier die
totale Spoilerung. Es muss.
Das Genre “Ecothriller” ist inhaltsbedingt ein eher junges. Zwar
hatte schon im Jahr 1824 kein anderer als Joseph
“Fouriertransformation” Fourier berechnet, dass das zu dem
Zeitpunkt gerade schwer im kommende Verbrennen von Kohle zwecks
Erzeugung meist kinetischer Energie die Atmosphäre der Erde wohl
thermisch negativ verändern werde, aber a) sah Monsieur Fourier
das “in Jahrhunderten” und b) weiß man es hinterher immer besser.
Das Problem ist: Das ist jetzt fast die Mehrzahl von
“Jahrhundert” her und wir wissen spätestens seit Juli 1977 sehr
genau, dass Herr F. recht hatte. Das heißt, nicht unbedingt
“wir”, denn der Auftraggeber der Studie, die sehr eindeutig
bestätigte, was Fourier damals nur vermutete, war der größte
Ölproduzent der Welt und Exxon Mobile behielt die Ergebnisse
erwartbar für sich.
So ein Informationsembargo hält nicht ewig, weshalb wir am Ende
doch alle davon erfuhren, dass wir den Planeten zu s**t
verbrennen, wenn wir so weiter machen. Das war in den 1990ern und
man erfuhr es nicht unbedingt von den Mahnern sondern, zwischen
den Zeilen lesend, in ganzseitigen Anzeigen und Werbespots gegen
die “Klimalügen” und von den seltsam immer gleichen
Wissenschaftlern in Talkrunden und deren Gegenargumenten, die
immer mit “Ja, aber..” begannen. Und wer “Ja, aber..” sagt hat,
niemals recht! Wissen wir alle, aus der Zeit, als wir dem
Nachbarskind die Luft aus dem Fahrradreifen gelassen haben. “Ja,
aber.. der war auch ein Arschloch!”
Nun war der Faschistenharry aus dem Nachbarhaus nichts gegen die
Arschlöcher, die in eben diesen 90ern Lobbygruppen mit so harmlos
euphemistischen Namen wie “Americans for Prosperity” oder “The
Heartland Institute” mit Milliarden von Dollars ausstatten um den
mittlerweile feststehenden Tatsachen, dass, wenn wir nicht
sofort, also wirklich jetzt, gleich, now, aufhören Öl, Gas und
Kohle zu verbrennen in ein paar Jahrzehnten auf einem anderen
Planeten leben werden. Und damit war nicht der Mars gemeint,
sondern ein Hellhole namens Erde, spätes 21. Jahrhundert.
Wegen dieser Verbrecher hat sich wohl auch das Genresuffix
Ecothriller eingebürgert, man findet leider keine Ecolovestories,
auch wenn zumindest einer das natürlich versucht: Neal Stephenson
in “Termination Shock”. Das Buch ist kaum eine Rezension wert und
sei hier nur erwähnt. Stephenson ist bei diesem Buch komplett
unter die Räder gekommen. Vielleicht war es Corona, vielleicht
liegt Stephenson, dem Utopianer, die Dystopie nicht. Fakt ist,
dass das Buch, bereits 2021 auf Englisch erschienen, bisher noch
nicht mal einen deutschen Verleger gefunden hat und bei Amazon
für knapp 3 € verramscht wird. Stephenson erzählt in einer nahen
Zukunft ca. 2029 bis zur Hälfte des 700 Seiten dicken Buches
ausführlich wie das politische System der, no s**t, Niederlande
funktioniert, um den Rest des Buches eine technologische Lösung
des Klimaproblems zu erfinden, deren einziger Nachteil ist, dass
sie das Klima durch in die Atmosphäre schießen von Schwefel
regional unterschiedlich verändert und es den Indern nicht
wirklich gefallen wird, wenn der Monsun ausbleibt und die Böden
vertrocknen, damit in China die Wiesen wieder grünen. Nicht ganz
verständlich kämpfen deshalb Jugendliche an der
Indisch-Chinesischen Grenze im Himalaya mit Stöcken gegeneinander
und die niederländische Königin verliebt sich in… nein, das ist
alles zu bekloppt: “Termination Shock” von Neal Stephenson ist
kein gutes Buch und abzulehnen.
Aber: Ecothriller sind auch schwer. Der Handlungsbogen muss ein
langer sein und ein verworrener: wie uns die Kachelmänner dieser
Welt immer wieder erklären, ist eine Flut, eine Schneelawine noch
kein Klimawandel und manchmal eben doch, und bis wir alle daran
störben kann es schon noch ein paar Jahrzehnte dauern - eine
ziemliche Herausforderung für einen Thriller, der doch von
überraschenden Wendungen, Mord, Totschlag und einem Happy End
lebt. Vielleicht braucht es einen anderen Ansatz.
Im Jahr 2016 habe ich für ebendiesen Podcast eine eher strange
Buchreihe aus den US of A rezensiert: “Left Behind”, ein ganz
unglaublicher Bestseller im Herkunftsland und hierzulande eher
nicht so. Wird Dir doch “Finale - Die letzten Tage der Erde” beim
“Amazon Unlimited” Ramschladen für 0 EUR hinterhergeworfen. Es
ist ein ziemlich ewig langer Thriller über die unter
Evangelikalen sehnlichst herbei gesehnte Apokalypse, bevor der
Herrgott diese zu sich holt und uns Ungläubige und Sünder uns
selbst überlässt. Das alles ist gut lesbar geschrieben, ein
Pageturner wie der englisch sprechende Leser sagt und der
deutsche immer noch nach Entsprechung sucht, ich bin davon nicht
zum Christ geworden, es war alles ein bisschen zum Kopfschütteln
und dennoch irgendwie schwer weglegbar und, nun ja, spannend! Wie
man sich als Christ so vorstellt, wie die Welt endet, ist nun mal
faszinierend, zumal, wenn man weiß, dass es einen nicht betrifft.
An diese “Left Behind"-Serie fühlte ich mich erinnert, irgendwann
zur Hälfte des vorliegenden Romans “The Deluge”. Das wird Stephen
Markley, dem Autor, nicht gefallen, obwohl “The Deluge” betitelt,
auf Deutsch übersetzbar mit “Überschwemmung”, “Sintflut” gar, ist
es doch ein fundiert recherchierter Ecothriller und keine
spinnerte Bibelverwurstung. Aber wir können nichts für unsere
Gefühle, so, hear me out:
Zum Zeitpunkt der deprimierenden Endzeitahnung sind wir 400
Seiten im Roman. Ja, “The Deluge” ist ein Brett, ein dickes. Aber
ich bin gebannt, die pages turnen. Wir befinden uns im Buch
mittlerweile im Jahr 2034, begonnen haben wir im Jahr 2013.
Damals, drei Jahre vor Trump, hatte der fiktive Wissenschaftler
Tony Pietrus erschütternde und unglaubliche Zahlen auf dem Tisch.
Es geht um Methan, den Klimakiller unter den Klimakillergasen,
CO2 schaut hier nur neidisch zu. Methan wird zum Beispiel frei,
wenn man Erdgas verbrennt, wenn man als Kuh furzt und rülpst, es
ist aber ebenso gebunden im arktischen Eis und auf dem
Meeresgrund. Und zwar in Unmengen. Und seine Modelle zeigen ihm,
was passiert, wenn sich die Erde erwärmt wie prognostiziert. Dass
ab einer bestimmten Temperatur das gesamte gebundene Methan
zusätzlich zu den üblichen Kuhfürzen frei wird und damit die Erde
nochmal extra erwärmt, was zu einem noch schnelleren Abschmelzen
der Polkappen führt und zu einem Anstieg des Meeresspiegels um
nicht nur die eh schon ziemlich katastrophalen 1 - 1,5 Meter, die
ja schon den Exitus für ein paar Städte bedeuten, für Miami zum
Beispiel, oder New Orleans. Wenn dieser Kipppunkt also erreicht
ist, steigt der Meeresspiegel um lockere fünf bis sechs Meter,
was die USA mal eben so um ein Drittel ihrer Landfläche bringt.
Und natürlich auch alle anderen Länder des Planeten, die sich auf
festem Grund befinden.
Alles auf den ersten 400 Seiten von “The Deluge” hat die Welt
fast an diesen Punkt geführt, alles was ein fiktiver
Wissenschaftler 2013 zu Papier brachte um damit als Spinner
geächtet oder ignoriert zu werden, ist auf bestem Wege
einzutreten, Schritt für Schritt, Punkt für Punkt, Unwetter für
Flächenbrand, Flutkatastrophe für Fischsterben. Und es läuft
fiktiv im Buch ziemlich genau wie im realen Leben - viele Worte
wurden geäußert und noch viel mehr Bedenken, Initiativen wurden
initiiert und mit viel “Ja, Aber…” wieder einkassiert. Endlich,
endlich jedoch stehen sie auf, die Mahner, die jungen Leute, die
sehen, wie ihre Zukunft verbrennt, ertrinkt, vergiftet wird und
sie belagern die US-Amerikanische Hauptstadt, das Weiße Haus, das
Capitol. Nicht nur ein bisschen occupy wall street ,sondern
richtig occupy wall street, organisiert, originell, über Monate
hinweg legen sie die US-amerikanische Hauptstadt lahm. Nichts
geht mehr in Washington DC. Wir sind in der Hälfte des Buches
angekommen und sind sehr sicher, dass uns Stephen Markley jetzt
die erlösende Perspektive, ja, eine Handlungsanweisung, eine
Anleitung gibt, wie wir das Ende der Menschheit, wenn auch spät,
doch gerade noch so abwenden können, durch Solidarität, ein Ende
der kapitalistischen Extraktionslogik und durch ein Konzentrieren
auf das was nötig ist. Dass wir mal die Profitinteressen zurück
stellen, das es nicht so schwer sein kann auf seine zweite
Fünfhundertmeterjacht zu verzichten, Jeff. Dass man den Jet mal
stehen lässt und Homeoffice macht, Elon.
Doch, im August 2034 überzieht eine erneute Hitzewelle Washington
DC, 47 ℃ im Schatten über Wochen, das hält kein Aktivist aus,
schon gar nicht deren 50.000 - denn so viele sind es mindestens,
die die Hauptstadt belagern. Die Besetzung löst sich auf, und als
es nur noch ein paar Tausend Demonstranten sind, schickt der
aktuelle US-Präsident, ein erwartbar korruptes Arschloch, sein
privates Sicherheitsunternehmens rein und erschießt den Rest der
Protestierenden. 736 Tote. Mitten in DC. Und mit diesen letzten
Aufrechten stirbt die geforderte radikale Gesetzgebung, die
letzte legislative Chance, nun doch endlich etwas gegen die
mittlerweile katastrophale Erderwärmung zu tun, ja, die
Menschheit zu retten.
Haben wir uns bis hierhin im Buch noch wohlig gegruselt, erfahren
wir jetzt, dass die dramatisch beschriebenen Katastrophen:
Waldbrände, Stadtbrände (Das HOLLYWOOD sign brennt!), Fluten, die
östlich vom Mississippi 200 Millionen Menschen betreffen, aber
auch politische Katastrophen wie das immer wieder und wiederholte
Scheitern von Klimalegislation, der Aufstieg von christlichen
Fundamentalisten, die Ermordung von politischen Gegnern, dass all
das nur den Spannungsbogen aufspannt und wir ahnen, dass er in
der Katastrophe endet. Und dennoch sind wir noch nicht zu 100%
entsetzt, denn wenn auch alles erschreckend plausibel klingt
(weil es das ist) sind wir als Leser dennoch irgendwie sicher,
dass das im realen Leben alles nicht so schnell gehen wird wie im
Buch beschrieben. Diese zeitliche Verdichtung, diese Dystopie,
macht der Markley doch nur, um die handelnden Personen
zusammenzuhalten, man kann ja schlecht einen Ecothriller mit
einem Handlungszeitraum von 150 Jahren schreiben. Mit ein
bisschen wissenschaftlichem Augenzudrücken bekommt der Markley
die Klimakatastrphoe also auf 30 Jahre runterkomprimiert, aber
nie im Leben wird das in unserem, dem realen Leben so schnell
gehen, das alles wissen wir, sind wir todsicher, und deshalb
nehmen wir das Buch als Fabel, als Gleichnis, als Warnung. Das
wird schon. Und dann wird fünfzig Prozent im Buch die letzte
Chance auf ein Happy End zusammengeschossen und schonungslos
beschrieben und wir wissen, das wird hier kein Wohlfühlroman
mehr. Das wird hier ein Roman über die letzten Tage der Erde. Und
uns wird ein bisschen schlecht. Was ist, wenn der Zeitrahmen im
Buch doch stimmt? Wenn in 2035 wirklich der Südpol schmilzt, die
Nordpolpassage ganzjährig frei ist. Wir leben doch aktuell im
Jahr 2023, holy s**t, das sind ja nur noch 12 Jahre. S**t.
Nun bin ich Hedonist, wenn es um Literatur geht. Ich muss keine
Bücher darüber lesen, wie des Autors Katze vom Auto überfahren
wurde, seine Freundin ihn verlässt und er zum Schluss an
Darmkrebs stirbt. Trotzdem kann, ja, muss ich diesen düstersten
aller dystopischen Romane so komplett und ohne Vorbehalt
empfehlen. Wie hat Stephen Markley das geschafft? Durch schieres
schriftstellerischen Vermögen. Das ist umso beeindruckender, da
“The Deluge” erst Markleys zweiter Roman und das hier keine
Novella, sondern ein ausgewachsenes Buch von 800 Seiten ist, das
eine hochkomplexe Story über einen langen, langen Zeitraum
beschreibt. Und ein wirklich deprimierendes Thema hat.
Markley wirft uns zu Beginn des Buches mitten in ein
Rekrutierungsgespräch. Eine mittzwanziger LatinaX hört sich in
einem anonymen Fast Food Joint die Story eines dicken,
prototypischen Redneck-Amis an. Der war in der Army, im Irak und
in Afghanistan. Dort hat er IEDs, Minen und alles, was sonst noch
Arme und Beine abreißt, entschärft. In zunächst leicht
irritierenden, typographisch hervorgehobenen Einschüben bekommen
wir Einblick in Fühlen, Denken, Geschichte und Lebensentwürfe der
am Gespräch Beteiligten. Ich persönlich bin da nicht der größte
Fan von, aber die Einschübe hier fesseln. Sie geben uns in kurzen
Schüben ein Bild von dem, was zum Beispiel die US-Army heutzutage
ist: Ein Auffangbecken für die Abgehängten, die, die es zu Hause
nicht mehr aushalten, die es zu Hause nie schaffen werden und die
sich aus ebendiesen ökonomischen und sozialen Zwängen in
Situationen begeben, die scheisse-gefährlich sind. Dass das
systemisch ist weiss man, aber Markley macht es plastisch. Wie
abgefuckt muss eine Gesellschaft sein, Millionen von Menschen die
Lebensgrundlage zu entziehen und ihnen dann den Ausweg “Army,
Navy oder Marine?” zu geben. Das “Thank You for Your Service.”
ohne Zynismus auszusprechen, braucht schauspielerische Leistung.
Von solchen Schlaglichtern auf die US-Amerikanische Gesellschaft
lebt das Buch, ja, ist das Buch. Wir lernen die Rekruiterin Shane
kennen, sie wird die nächsten Jahre als überarbeitete Kellnerin,
alleinerziehend mit Kind im Nirgendwo von New Hampshire leben.
Allein diese Schilderungen des amerikanischen Alltags, mit nur
3,5% Arbeitslosenrate ohne dass jemals eine Fußnote dran wäre,
die berichtet, dass ein großer Teil der amerikanischen
Mindestlohn-Workforce zwei oder mehr Jobs arbeiten um über die
Runden zu kommen, was schon wieder beschissen euphemistisch ist,
denn sie machen das um zu überleben. Aber Shane macht das
freiwillig, trotzdem sie monatlich Geld von einem anonymen
Sponsor bekommt. Denn es ist eine Tarnung, deep cover im immer
dichteren Überwachungsstaat USA, um aller Jahre Anschläge auf
Kohlekraftwerke, Erdölpipelines und was sonst noch die Umwelt
verschmutzt, zu begehen. Murdock, der Sprengstoffexperte, wird
diese Anschläge materiell vorbereiten, zusammen mit einem
Universitätsprofessor, einer Hackerin und einem Banker bilden sie
die erste Zelle einer ökoterroristischen Vereinigung, die klar
die RAF reminisziert. Jahrzehnte später, hunderte Seiten im Buch,
wird Shane nach Virginia fahren, um Allen zu töten, einen der
Mitbegründer. Er wollte aussteigen. Es wird der manifeste Verlust
der Unschuld sein, die sie emotional und intellektuell schon
lange verloren hat. Und sie wird nicht Allen töten. Das machen
die erwartbar radikalisierten Mitglieder der zweiten Generation,
denen das Credo vom bewaffneten Kampf ohne menschliche Opfer
nicht mehr zu vermitteln ist. Aber sie werden übersehen haben,
dass Allen einen zwölfjährigen Sohn hat, der bei ihm wohnt.
Dieser türmt aus dem ersten Stock des Elternhauses, Shane
verfolgt ihn, es gibt keine Alternative, ein Zeuge würde die
gesamte, über Jahrzehnte aufgebaute Operation dem Untergang
weihen. Die Welt wird untergehen ohne ihr Handeln. Er muss
sterben. Shane rennt hinterher und weil sie noch nie eine Waffe
auch nur gehalten hat, schießt sie dem Teenager aus versehen in
den Bauch. Er schreit wie am Spieß. Und nochmal in den Bauch, und
dann erst ins Gesicht. Es bricht uns das Herz.
Von dieser Tragik sind die Geschichten in “The Deluge”. Markley
schont uns nicht, denn das ist hier keine Wohlfühlstory mit Happy
End, es ist das f*****g Ende der Welt.
Wir werden noch viele mehr dieser Haupthelden kennenlernen.
Markley malt ein Gemälde der USA zu Beginn des 21. Jahrhunderts
bis zu deren absehbarem Ende im Jahr 2040. Wir lernen Matt
kennen, in 2017 ist er ein Teenager, der sich in die sexy, freie,
kluge und bald telegene radikale Aktivistin Kate verliebt und sie
erst Jahrzehnte später erschöpft verlassen wird.
Wir lernen “Keeper” kennen, einen anfangzwanzigjährigen
abgehängten weißen Dude aus Ohio, dem Epizentrum des white trash
in den USA, mit deindustrialisierten Kleinstädten, deren
Industrie, deren Rohstoffextraktion nicht mehr gebraucht wird in
einer globalisierten Welt. Wir werden ihn von Drogendeal zu
Gefängnisstrafe, von Vergewaltigung (er) zu Vergewaltigung (ihn),
von S**t zu S**t verfolgen. Wir werden ihn hassen und bedauern,
er wird zu Gott finden und doch kein wirklich guter Mensch
werden.
Markleys Buch erzählt uns die Lebensgeschichten von einem halben
Dutzend Haupthelden und einem weiteren halben Dutzend handelnder
Personen und nimmt sich für jeden und jede soviel Zeit, wie es
braucht, um ein Bild von deren Denken und Sein zu malen und von
ihrem Handeln im Angesicht der Katastrophe. Jeder hätte ein
eigenes Buch, einen eigenen Band verdient, so interessant,
prototypisch für das finale amerikanische Jahrhundert sind sie.
Die in langen Kapiteln erzählten Lebenswege kreuzen sich über die
Jahrzehnte auf oft unerwartete Art und Weise, halb “Smoke”, halb
“Pulp Fiction” oder besser: “Natural Born Killers”. So trifft
Jackie, eine Designerin in der Werbeindustrie, erschöpft vom
täglichen Anrennen gegen die glass ceiling, in jungen Jahren
einen semi-berühmten TV-Schauspieler (ich hab Rob Lowe vorm Auge)
um ihn ein Jahrzehnt später als ultrakonservativen VR-Prediger
kaum wiederzuerkennen. Der wird später mit Mordaufrufen gegen
alles, was kein Kreuz um den Hals hat, um ein Haar Präsident -
wie das so passiert in den USA.
Alle diese Stories und Lebenswege sind strange, gewalttätig,
haarsträubend und im Kontext des US-amerikanischen Systems 100 %
plausibel. Vor dem Horror eskalierender Umweltkatastrophen
beschreibt Stephen Markley wie verschiedene Akteure verschiedene
Ansätze wählen, das Ende der Welt abzuwenden. Politische pressure
groups, selbstorganisierte Initiativen, Graswurzelbewegungen,
politische Parteien, “Effektive Altruisten”, Ökoterroristen
versuchen mehr oder weniger aufrecht den Klimawandel zu stoppen
und scheitern am System, aneinander und daran, dass die
Methanfelder auf dem Meeresgrund einen s**t geben, ob der
Mehrheitsführer im US-Repräsentantenhaus es politisch für einen
ungünstigen Zeitpunkt hält eine wirksame Klimagesetzgebung zu
verabschieden. Dass die kontinentgroßen Eisschollen an Nord- und
Südpol abbrechen und unbeeindruckt in den respektiven Polarmeeren
schmelzen, als es menschlich zwar komplett verständlich ist, dass
die Klima-RAF nicht mehr an den parlamentarischen Weg glaubt und
genau in dem Augenblick aus Versehen die ersten Menschen bei
einem Anschlag umkommen, als die Klimagesetzgebung endlich auf
dem Weg, ist Realität zu werden. Und dass die Wasservorräte in
weiten Teilen der Welt auch dann verdunsten, wenn in Europa,
getrieben von der durch Wasserknappheit verursachten
Migrationsbewegung, wieder Faschisten an die Macht kommen.
Geführt übrigens von einem gewissen Anders Breivik aus Norwegen,
gerade aus dem liberalsten Gefängnissystem der Welt entlassen.
Und so stehen wir am Ende des Buches betroffen vor dem
Scherbenhaufen unserer (ok, hier speziell und vornehmlich der
US-amerikanischen) systemischen Unfähigkeit, ein paar Jahre in
die Zukunft zu schauen und zusammenzuarbeiten.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Stephen Markley
zu Beginn des Buches noch nicht wusste, wie es endet. Dass er
unsicher war, ob er der Story ein Happy End oder wenigstens einen
unklaren Ritt in den waldbrandroten Sonnenuntergang geben wird.
Ich habe das Gefühl, dass Markley bei der Recherche während des
Schreibens so deprimiert und aussichtslos wurde, wie es uns geht,
wenn wir sein Buch lesen und dass er es nicht fertig gebracht
hat, uns zu belügen.
Aber was machen wir jetzt mit dieser Aussichtslosigkeit?
Nun, so eine Klimakatastrophe ist ja kein Atomschlag, einmal kurz
zu hell, dann auf ewig dunkel. Da kommen schon noch ein paar
Jahre auf uns zu, in denen es zu feucht, zu trocken, zu heiß ist,
mit zu wenig Wasser, nicht genug zu futtern und dann dem
falschen. Mit den resultierenden Fluchtbewegungen, physisch vom
Heißen ins geradeso nicht so Heiße, vom Trockenen ins Nasse und
den mentalen Fluchtbewegungen, von der Gier zur Not zur
“Beschaffungskriminalität”, von der Verzweiflung vor dem Elend
zum Crystal-Meth-Bliss und dem, was das alles für Deine
zweijährige Tochter bedeutet. All diese Dinge sind kaum mehr zu
verhindern, aber man kann sie gemeinsam entschärfen, durchleben
und vollenden. Hauptwort: gemeinsam. In den finalen Zügen der
Umweltkatastrophe im Buch, in denen selbst in den USA der Weizen,
der Mais knapp wird wegen Monokultur, zu viel oder zu wenig
Wasser, hat eine gar nicht so kleine Anzahl von Kommunen
wundersamerweise Obst, Gemüse, Milch und was der Mensch sonst
noch so gerne auf dem Frühstückstisch hat. Das sind Kommunen, die
entstanden sind, als die Klimakatastrophe in noch Jahre
entfernten Horizonten schimmerte und die akuten Probleme in Ohio,
Alabama oder New Mexico “soziale Armut”,
“Beschaffungskriminalität” und “Kapitalismusdreck” hießen, und
schon zu dieser Zeit, irgendwie, sagen wir im Februar 2023,
schlossen Leute sich zusammen, besorgten irgendwoher Geld und
boten den Abgehängten genau dort, wo sie abgehangen hingen,
Lösungen an. Entzugskliniken, gemeinsames Arbeiten für ein
gemeinsames Ziel und wenn es nur ein Maisfeld ist, und ein Bier
am Abend, wenn die Einsamkeit am größten. Kein Mensch muss da auf
die Katastrophen re: Klima warten, die dafür geeigneten
gesellschaftlichen sind schon lange da.
Und mit dieser Erkenntnis hat mich das Buch auch radikalisiert.
Eine Hauptheldin ragt immer ein bisschen über die anderen heraus:
Kate. Eine radikale Feministin, die einen s**t gibt auf
Konventionen, politische, gesellschaftliche, sexuell, ein
anarchischer Firebrand, die der Realität der schwindenen Chancen,
das Ende zu verhindern, ins Gesicht schaut und sich (und anderen)
sagt: “So what, deshalb muss man ja nicht aufhören!”
Deshalb kann man das System und in ihrer Personifizierung, die
f****r, die das alles verursacht haben mit ihrer Gier, ihrer
Dummheit, daran erinnern, dass sie nicht allein sind auf der
Welt. Absurde Gestalten wie Friedrich Merz, die sich über Jahre
ihre Pension beim größten Investmentverein der Welt, und damit
zwangsläufig dem größte Klimakiller ebendieser, verdient haben
und jetzt am Rednerpult des Bundestags wie ein Klempner aus
Heidenau reden, wie jemand, der es nicht besser weiß? Warum soll
der nicht jeden morgen keine Luft im Reifen haben? Und Katrin
Göring-Eckardt, die es offensichtlich nicht besser weiß und sich
dennoch bis zur Vize-Bundestagspräsidentin hochgepeterprinzipt
hat - warum soll die nicht jeden Tag aufs neue, von immer einer
anderen Mindestlohnbarista in jedes mal einer anderen
7-EUR-Kaffeebar alten Kefir statt Sojamilch in den Latte
bekommen? Dafür gibt’s doch Whatsappgruppen? Und wo anfangen mit
dem Unsinn, dem man Schwachmaten wie Christian Lindner antun
kann, damit sie merken, dass sie keiner, wirklich keiner je
leiden konnte?
Rettet das die Erde? Nein. Beschleunigen wir damit das Endstadium
des Kapitalismus? Das schaffen die f****r ohne uns. Ist es
besser, als sich totzuscrollen und dumm zu tweeten? Allemal. Und
für diese Erkenntnis braucht man keine 800 Seiten “The Deluge”
von Stephen Markley lesen, aber es schadet nicht und es macht
ganz unglaublich Blutdruck und es macht damit die Arterien frei,
den Kopf und damit einen selbst.
Deshalb sollte man das Ding lesen. Es ist brillant.
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