Susanna Clarke: Piranesi

Susanna Clarke: Piranesi

8 Minuten
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Beschreibung

vor 1 Jahr

Ein Tagebuch zeigt uns die Welt, in der Piranesi lebt, wie er
lebt, was er sieht, was er fühlt, die Fragen, die er sich stellt.


Vorangestellt sind 2 Zitate: Das Erste: “Ich bin der große
Gelehrte, der das Experiment durchführt. Natürlich brauche ich
Versuchspersonen, an denen ich es durchführen kann.” Es ist C. S.
Lewis Prequel “The Magician’s Nephew” der Reihe “Die Chroniken
von Narnia” entnommen, das auf andere Welten verweist.


Das 2. Zitat, ungleich länger, wird  Laurence Arne-Syles
zugeschrieben, der in einem Interview in The Secret Garden,
veröffentlicht im Mai 1976, unter anderem sagt: “Man nennt mich
Philosoph oder Wissenschaftler oder Anthropologe. Ich bin nichts
davon. Ich bin Anamnesiologe. Ich erforsche, was vergessen wurde.
Ich erspüre, was ganz und gar verschwunden ist. Ich arbeite mit
Abwesenheiten, mit Lautlosigkeiten, mit merkwürdigen Lücken
zwischen Dingen. Eigentlich bin ich mehr Zauberer als alles
andere.”


Laurence Arne-Syles, der sich mit den vergessenen Dingen
beschäftigt, mit Leerstellen, von denen unsere Welt voll bzw.
leer ist, wurde nicht vergessen (nur falls die Frage auftaucht,
ob man ihn kennen sollte). Er ist eine Erfindung der Autorin
Susanna Clarke, vielleicht auch eine Erinnerung, die verloren
gegangen ist?


Titelheld Piranesi, der ziemlich sicher ist, dass er nicht
Piranesi heißt, sich aber nicht erinnern kann, wie er einst
genannt wurde, lebt in einer seltsamen Welt.


Wir lernen sie durch die detailreichen und präzise formulierten
Tagebucheinträge Piranesis kennen, aus denen das Werk besteht.


Ein erster Anhaltspunkt, dass Piranesis Welt nicht die unsere
ist, oder doch zumindest verschieden, ist die seltsame Datierung
seiner Einträge: Es gibt Tage und Monate, aber das Jahr ist “ das
Jahr, in dem der Albatros in die südwestlichen Hallen kam.”


Piranesi lebt in einem großen, unendlichen Haus, dass aus so
vielen Hallen besteht, dass er zwar eine Vielzahl bereist, jedoch
- in keiner Richtung - je das Ende erreicht hat und das aus drei
Ebenen besteht: in der untersten sind tiefe Gewässer, Ozeane, die
Ebbe und Flut unterworfen sind. In der obersten funkeln des
nachts die Gestirne und ziehen tagsüber Wolken. Auf der mittleren
Ebene finden sich zahllose Räume unterschiedlichster Größe und
Beschaffenheit, denen eins gemein ist: sie sind von zahllosen
Mamorplastiken bevölkert, die unterschiedlichste Formen, Menschen
und Fabelwesen zeigen, einige scheinen neuer zu sein als andere,
sie bilden unterschiedliche Gefühle, Handlungen und Situationen,
reale Natursituationen und mystische Begebenheiten ab.


In den Tiefen der Ozeane leben Fische, und Vögel begleiten
Piranesi.


Das Haus versorgt ihn, er fühlt sich geborgen und - er hat keine
Wünsche.


Er zeichnet gewissenhaft die Gezeiten auf, um gefährliche Fluten
vorherzusagen. Bevor diese kommen, bringt er seine wenigen
Habseligkeiten, zu denen seine Aufzeichnungen gehören, in einer
Tasche in höhere Gefilde in Sicherheit. Er isst Fisch und nutzt
getrockneten Seetang als Feuermaterial. Sein frugaler Lebensstil
fordert von ihm Planung und Umsicht. In seinen Aufzeichnungen
versucht Piranesi, die Plastiken des Hauses in ihrer
Vollständigkeit zu beschreiben, ein Ziel, dass unmöglich zu
erreichen scheint. Verzweiflung oder Ängste finden sich nicht in
den Tagebucheintragungen.


Zweimal in der Woche trifft er sich mit dem Anderen, dessen
Kleidung Piranesi als elegant beschreibt und den er als ungefähr
20 Jahre älter schätzt. Der Andere besitzt Sachen, die sich nicht
im Haus finden und schenkt Piranesi ab und zu hilfreiche Dinge
wie feste Schuhe und einen Schlafsack. Die Frage nach der
Herkunft dieser Dinge kommt Piranesi nicht in den Sinn.


Piranesi assistiert - so seine Annahme - dem Anderen bei einem
andauernden Experiment und unternimmt dafür Reisen in weiter
entfernte Räume. Das Ziel des Anderen kennt er nicht. Brüche und
Spalten in Piranesis zufriedener Existenz erscheinen, wenn er auf
Widersprüche stößt: so scheint er schon immer im Haus zu leben,
kann sich aber nur an die letzten 5 Jahre erinnern.


Die Wahrnehmung des Hauses durch Piranesi und den Anderen ist
grundsätzlich verschieden: dem Anderen erscheint es als
Labyrinth, als potentiell gefährlich, ein Ort, dessen Geheimnisse
er mithilfe von Piranesi entschlüsseln und dadurch Macht gewinnen
will. Ihr erinnert euch: Wissen ist Macht. Während Piranesi sich
instinktiv im Haus bewegt und geborgen fühlt, kann der Andere das
Haus nur durch die Beobachtungen Piranesis verstehen bzw. den
Versuch unternehmen, es über ihn zu verstehen.


Unsere Zweifel an Piranesis Einschätzungen, die allein durch
seine Tagebucheinträge vermittelt werden, nehmen zu. Er erscheint
in seinem Urvertrauen und seiner Gelassenheit kindhaft. Seine
Zufriedenheit scheint seltsam, wissen wir doch um die Bedeutung
zwischenmenschlicher Beziehungen und Erkenntnis, aber wie
definieren und bestimmen wir diese? 


Die Abwesenheit anderer Menschen scheint Piranesi nicht zu
berühren oder zu beunruhigen. Auf seinen Wanderungen hat er die
Skelette 13 anderer gefunden. Er bringt diese an von den Fluten
unerreichbare Höhen und schenkt ihnen Blumen. 


Die Selbstgenügsamkeit seiner Isolation weckt Erinnerungen an die
Zeit unserer Zwangsisolationen, das Werk wurde jedoch weit vor
der Pandemie begonnen. Piranesi zeigt, dass Alleinsein und
Einsamkeit sehr unterschiedliche Gefühle sind. Seine Begegnung
der Welt des Hauses gegenüber kann für das Ideal der Romantik
gelesen werden, dass es der Sinn des Lebens ist, in tiefer
Verbindung mit der Natur zu leben, sich bewusst zu sein, Teil
eines größeren Ganzen zu sein, neben Tieren, Pflanzen, anstatt
sich die Natur untertan zu machen und sich mit ihrer Zerstörung
selbst zu zerstören.


Beispielhaft für Piranesis Verbundenheit mit der Natur steht
seine Begegnung mit dem Albatros, die ihm so wichtig erscheint,
dass er das Jahr nach diesem Ereignis benannt. Der Albatros ist
ein mystischer Vogel, derjenige mit der größten Flügelspannweite,
die bis zu 3,50 Meter betragen kann, und er kann mehrere hundert
Kilometer durch die Lüfte gleiten, ohne mit den Flügeln zu
schlagen. Als Piranesi das erste Mal auf den Albatros trifft,
glaubt er eine Vision zu haben, als dieser versucht zu landen.
Piranesi handelt, wie er es immer tut: Er umarmt die Natur und
ihre Bewohner mit offenen Armen. Beide verlieren ihr
Gleichgewicht, erholen sich, und Piranesi gibt dem Albatros und
seinem Gefährten Seetang, damit sie sich für ihre Brut ein Nest
bauen können.


Zunehmend wird unser Protagonist durch seine Aufzeichnungen,
Träume, Erinnerungen und Unstimmigkeiten in diesen auf
Missverhältnisse zwischen seinen Annahmen über die Welt des
Hauses selbst aufmerksam. Später wird sich das Werk von den
beschreibenden Tagebucheinträgen zu einem Thriller hin
entwickeln, der nach Identität, dem Umgang mit dem Leben und den
Lebenden fragt und neben den Gefühlen der vollkommenen
Zufriedenheit in den Schatten den Horror der Anderen beiläufig
und dann gar nicht mehr beiläufig erahnen lässt.


Der Name Piranesi verweist auch auf einen Graveur, der eine Serie
über imaginierte Gefängnisse schuf. Und er versaute Goethe den
Besuch Roms: dieser war von den Veduten Piranesis zu Rom so
hingerissen, dass er die Realität enttäuschend fand.


Und so ergeht es uns bei der Lektüre: imaginierte Grandezza, die
vor Grausamkeiten liegt. Und die Frage nicht beantwortet, ob es
vorzuziehen ist, die zugrundeliegenden Wahrheiten zu kennen oder
im Frieden mit den Verhältnissen zu leben.


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