Studio B Klassiker: Scott Lynch - Gentleman B*****d Serie

Studio B Klassiker: Scott Lynch - Gentleman B*****d Serie

13 Minuten
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Beschreibung

vor 2 Jahren

Es ist Weihnachten, man muss sich langsam aber sicher um
Geschenke kümmern und so, in der heutigen Ausgabe von Lob und
Verriss, ein wirklich historischer Weihnachtstipp aus dem Jahr..
ähm.. 2011. Wie in unserer Weihnachtssendung dieses Jahr legt
Herr Falschgold Wert auf Erschwinglichkeit, monitär wie
intellektuell, wir alle haben genug Stress gehabt die letzten
drei Jahre, also ab auf’s Sofa und wohlfühlen!


Zwei Phänomene, ok, unter anderem zwei Phänomene sind in der
unterhaltungserzeugenden Industrie der letzten Jahre [geschrieben
2011, A.d.H.FG] zu beobachten: Der Erfolg der Serie, wie meine
Kollegin Irmgard Lumpini auf der Website previously.us immer
wieder zu beschreiben wusste und der gefühlte Verlust moralischer
Wertmaßstäbe in allen gesellschaftlichen Schichten, zur Empörung
des "Bürgers"


Es lag demnach auf der Hand, dass irgendwann einmal ein
Vorkrisenfilm wie Ocean's 11 in TV-Serienform erscheinen sollte,
aber nicht in Deutschland, Gott behüte, wo man moralisch über
alles steht, nein, die BBC brachte vor 7 Jahren mit "Hustle",
z.Z. damals auf ZDFneo zu sehen, dem Zuschauer das wohlige
Gefühl, zur Abwechslung mal guten Betrügern bei der Arbeit zu zu
sehen - NBC statt CNBC gewissermaßen.


Zur selben Zeit muss der aspirierende Autor Scott Lynch, Jahrgang
78, nach einem Stoff für sein Debut gesucht haben und roch den
Braten, projektierte, nicht kleinmütig, und "Harry Potter sei
Vorbild" eine siebenteilige Romanserie, die er mit "The Gentlemen
B******s" treffend überschreibt und deren erster Band "The Lies
of Locke Lamora" ("Die Lügen des Locke Lamora") 2006 erschien und
auf dass sich der Kreis schließe, dessen Filmrechte prompt von
Hollywood gekauft wurden (und bisher in Schubladen
versunken  blieben).


Was besten Sinn macht, hat das Buch doch alles, was es zu einem
vergnüglichen Gaunerstück braucht: ein grandioses Setting,
wunderbare Charaktere, saftige Dialoge und das bisschen
angedeutete Romanze, im Buch kann Hollywood eh viel schlimmer,
damit hält sich ein Jungautor heutzutage gar nicht mehr auf.


Das Setting der Story ist nicht Las Vegas, aber nicht minder
grandios, das CGI Budget kann man, wenn man will, locker auf
Avatar-Niveau prügeln - was dem 3D-Kino-gehenden Leser das
Vergnügen bereitet, ein paar konkrete, phantastische Bilder vor
Augen zu haben. Camorra, die Stadt, in der die Gentlemen B******s
im ersten Band ihr Werk verrichten, ist von einer längst
untergegangenen Zivilisation erbaut wurden, zu grossen Teilen aus
Emberglas, einer unzerstörbaren Substanz phantastischer
physikalischer Eigenschaften, die in der Dämmerung zu Leuchten
beginnt. Diese Substanz bildet filigrane Brücken über die Kanäle
der Venedig-gleichen Stadt Camorra, und 5 riesige, durchsichtige
Wolkenkratzer aus Emberglass über der Stadt werden bewohnt von
einer kleinen Kaste adliger Herrscher.


Drunter, aber noch erhöht gegenüber den stinkenden Kanälen der
gemeinen Stadt, lebt die reiche Bürgerlichkeit und diese ist es,
die den Gentlemen B******s ihre Haupteinnahmen verschafft. 


Auf den verschiedenen Inseln der Stadt gehen verschiedene Kasten
und Gewerke unter dem Schutze von 12 Gottheiten ihrem Tagewerk
nach. Beziehungsweise 13 - von Gott +1 wissen nur die wenigsten,
ist er doch der Schutzherr der Ganoven, der Crooked Warden.
Diesem zu huldigen - oder vielleicht doch seinem Hedonismus -
kauft Vater Chains, nach außen Priester des "Gottes der vom Glück
Übersehenen", dem Boss der Kinderbanden vom Friedhofstal, ab und
an dessen talentierteste kleine Diebe ab und bildet sie in
jahrelanger Schule zu gebildeten, geistvollen, phantasievollen
Genießern aus - die noch jeden Kaufmann  das letzte Hemd vom
Leib klauen können - während sie mit ihnen plaudern. Nackt. Mit
gefesselten Händen. Auf dem Kopf stehend, wenn es sein muss.


Das zweifellos talentierteste dieser Kinder ist Locke Lamora, der
im Alter von 5 Jahren schon so respektlos die ganze Kinderbande
vom Friedhofstal aufmischt, dass deren Chef aus Angst vor einem
Respektverlust Vater Chains den Bengel fast für umsonst
überlässt, eine solche Plage ist der Locke. Bestes Material also,
für einen Gentleman B*****d.


Zusammen mit den Zwillingen Calo und Galdo, dem Mann fürs Grobe
Jean Tannen und dem kleinen Bug häufen die mittlerweile
Jungerwachsenen Gentleman B*****d nach dem Tod von Vater Chains
für Ganovenverhältnisse unglaubliche Reichtümer an, von denen
niemand etwas ahnt. Das passiert längst nicht mehr durch
Taschendiebstahl und Trickbetrug. Längst sind die Gentlemen
B******s auf elaborierte Long Term Cons spezialisiert, wie sie im
Jargon heißen: sie verwickeln Kaufleute in zufällig aussehende
Situationen, verschaffen sich dadurch Zugang in der Verkleidung
anderer Kaufleute und nehmen ihre Opfer dann mit dem Versprechen
hoher Gewinne aus, wie die Mutti die Weihnachtsgans - bis sie
eines Tages wie vom Erdboden verschwinden und einige Wochen in
ihrem luxuriös ausgestatteten Headquarter das Leben genießen, bis
sich der Rauch verzogen hat.


Dem Gaunerchef der Stadt zahlen sie regelmäßig und unauffällige
Steuern, weit unter Vermögenswert natürlich - und erst als dieser
von einem Konkurrenten bedroht wird, wird aus dem besten aller
Leben der Gentlemen B******s - die Hölle.


Nach dieser - im Buch etwa ein Drittel einnehmenden - Einführung
ist man in einer Fantasywelt, wie man es sich wünscht als Freund
des Genres, nicht mehr und nicht weniger. Was von Seite eins an
Vergnügen bereitet ist die Wortwahl in den Dialogen, wie sie es
wohl nicht in eine eventuelle Hollywoodverfilmung schaffen wird -
blumigste Handlungen mit Fäkalien zur Beilegung von kleineren
Reibereien zwischen Adoleszenten, Vater Chains sarkastische
Verunglimpfungen von Geist und Körperbau der ihm anvertrauten
Kinder und nicht mehr ganz witzige Verstümmelungen von Gliedmaßen
und Schlimmerem werden der Hollywood Zielgruppenzensur im Zweifel
zum Opfer fallen. 


Sie sind aber nur schockierendes Mittel zum Zweck - Scott Lynch
ist für ein Erstlingswerk ein unerschrockener Anhänger der
Theorie, dass man für die Entwicklung der Story nicht davor
zurückschrecken darf, handelnde Personen, und seien Sie noch so
sympathisch und ans Herz gewachsen, sterben zu lassen. 


Die Ernsthaftigkeit, mit der Scott Lynch über 850 Seiten einen
zunächst recht vergnüglichen Plott zu einer fast ernsthaften
Story entwickelt, wie er einen übermütigen Tunichtgut Locke
Lamora von 5 Jahren zu einem ernsthaften jungen Mann von 25
macht, dessen jugendliche Ironie zu einem manchmal bösen
Sarkasmus verkommt, wie aus den Reibereien von Jugendgangs Ernst,
und aus diesem ein Kampf auf Leben und Tod werden, ist unerwartet
und in seiner Ausführung grosses Kino. 


Aber damit wir uns nicht missverstehen: natürlich ist "The Lies
of Locke Lamora" weit von der deutschen
Feuilleton-Eintrittsgrenze entfernt - dafür ist der Roman zu
lustig, zu rasant - und viel zu lebensfroh. 


“Die Lügen des Locke Lamora”, erschienen bei Heyne, sind eine
Entdeckung, zwei der 7 Teile sind bereits geschrieben und
erschienen, der nächste Teil "Die Republik der Diebe" ist für den
Juni dieses Jahres avisiert. 


2022: Ja, leider hat es Scott Lynch irgendwie nicht geschafft.
Teil 3 der Serie erschien im Oktober 2013 und alle folgenden
stehen bei Wikipedia als “forthcoming” gelistet, was wohl zu
optimistisch ist. Dankbarerweise sind die Bände jedoch in sich
abgeschlossen und absolut lesbar ohne das Gefühl, das man am Ende
ob der Unvollendetheit enttäuscht sei. Hier die auf Deutsch
erschienen Bände:


Band 1: Die Lügen des Locke Lamora


Band 2: Sturm über roten Wassern


Band 3: Die Republik der Diebe


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