Sibylle Berg: RCE: #RemoteCodeExecution.
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Beschreibung
vor 2 Jahren
"RCE" ist nach "GRM" der 2. Teil einer Trilogie über die Welt, in
der wir leben, und die ein paar Individuen, die nichts zu
verlieren haben, zum Besseren ändern wollen.
Im ersten Teil ging das gründlich schief, weil die (damals noch)
Kinder die Menschheit aufrütteln wollten, indem sie ihr die
allumfassende Überwachung vor Augen führten.
Der gewünschte Effekt trat aber nicht ein, weil die bis ins
Kleinste Überwachten dankbar waren, dass ihnen überhaupt
Aufmerksamkeit zuteil wurde.
Nun also, nach und während der aktuellen Krisen - Corona,
Energie, Ukrainekrieg, der Sieg faschistischer Parteien, die
fortschreitende Erosion hart erkämpfter Frauenrechte, die tötet -
"RCE", die Abkürzung für Remote Code Execution. Das bezeichnet
den Vorgang, aus der Ferne auf Computer und Netzwerke zuzugreifen
und Daten und Vorgänge zu stören, zu manipulieren und grundlegend
zu ändern.
Die Welt ist also immer noch schlecht, und während Sibylle Berg
in "GRM" eine zu Teilen noch fiktive Zukunft beschrieb, ist "RCE"
näher an unsere Gegenwart gerückt.
Der 1. Teil spielte für die Protagonisten hauptsächlich in
Großbritannien, das mittlerweile das unangenehme Gefühl eines
Lebens in einer dystopischen Realitätssimulation für sich
beansprucht: "Years and Years", eine britische TV-Miniserie, die
zwischen 2019 und 2034 spielt und ähnlich wie Sibylle Berg
grausam-gruselige Szenarien entwickelt, die in der Wirklichkeit
verhaftet und damit leider unangenehm realistisch sind, wurde nun
bereits im Oktober 2022 durchgespielt: Liz Truss, die sich
nur 6 Wochen im Amt der Premierministerin hielt, wollte die
britische Wirtschaft durch radikale Steuersenkungen ankurbeln,
ganz so, als ob das jemals etwas gebracht hätte und der Trickle
Down Effekt real wäre, dabei aber den britischen Finanzmarkt fast
zum Einsturz und nicht nur die Renten in Gefahr brachte - dabei
trug sie in ihrer 1. Rede als Premier das gleiche Kleid wie die
in der erwähnten Miniserie durch Emma Thompson dargestellte
Diktatorin, die ihrerseits das Kleid präsentiert, als sie der
britischen Bevölkerung die Errichtung von Konzentrationslagern
mitteilt.
Während im 1. Teil der Trilogie, "GRM: Brainfuck", die
Protagonistinnen mit ihren Schicksalen zwar stakkatohaft, aber
doch detailliert in all ihrem Unglück vorgestellt werden und
nachvollziehbar wird, wer weshalb wozu und warum wurde, spielen
individuelle Schicksale im 2. Teil "RCE" kaum noch eine Rolle.
Die Superreichen haben - sofern in der realen Gegenwart vorhanden
- vollständige Namen (Peter Thiel, Bill Gates). Diejenigen, die
Prototypen der (fast) Superreichen oder der mit ererbtem Vermögen
sind, haben Vornamen, dito die Weltenretter aus dem 1. Teil,
nicht aber der Rest. Deren Unglück oder Rolle in der geplanten
Revolution werden skizziert, knapp umrissen, aber es bedarf
keines Namens, nur der skizzenhaften Beschreibung des
Erlebens/Erlebten. Selbst wenn einzelne handelnde Personen
Assoziationen mit realen Menschen wecken, sind diese doch so
archetypisch, fast grotesk holzschnittartig.
Sibylle Berg selbst beschreibt "RCE" als "verdichteten Blick auf
das Schlamassel, in dem wir stecken." Erschreckend sind die
Zusammenstellungen einer überwältigenden Häufung von
Informationen, deren Prüfung auf Realitätsgehalt leider
überwiegend positiv ausfällt. Plus ein paar Fiktionen, die aber
das Kraut nicht fett machen. Eine literarische Dystopie ist umso
verstörender, je realistischer sie ist und da hat Sibylle Berg
diesmal den Jackpot geknackt. Waren andere dystopische Werke wie
z. B. "1984" von George Orwell oder "Die Maske des Roten Todes"
von Edgar Allen Poe von historischen Ereignissen inspiriert und
geprägt, sammelt Sibylle Berg Informationen der Gegenwart, die in
ihrer Absurdität und Grausamkeit fiktional sein müssten, es aber
nicht sind. Pläne von Politikern, die im Interesse der wenigen
Superreichen handeln, werden nicht verborgen, denn es gibt keine
mehr, nur Ideen, nur Impulse, denen gefolgt wird, ohne vorherige
Reflektion oder Rückfragen an Wissenschaftler oder Journalisten
(die umgebracht werden, siehe Malta).
So geht es von einer Krise in die nächste, es gibt keinen Protest
der Bevölkerung, sondern nur aufbegehrungsloses Hinnehmen. Da
wurde die Verwertungslogik so verinnerlicht, dass man sich der
eigenen Wertlosigkeit für das kaputte System ergibt, nachdem das
Teilnehmen am Wettbewerb nicht mal mehr die Schlafmatte im
"work-and-sleep" sichern konnte.
Die vorherrschenden Gefühle eigentlich aller: Angst und tiefe
Resignation. Denn: gegen wen sollte man kämpfen, wo sich
beschweren? Alle (sofern noch nicht innerlich und äußerlich tot)
sind am dauerempörten Durchdrehen, aber so mit Überleben
beschäftigt, dass nichts passiert. Und nach unten wird getreten,
in der (unberechtigten) Hoffnung, dass es einen damit selbst erst
später erwischt.
Und die Angst ist berechtigt, wie die zunehmenden
Schwierigkeiten, die Unmöglichkeit für viele, ihre Heiz- und
Stromkostenrechnung zu bezahlen, gerade beispielhaft vorführen.
Auch in Westeuropa sind früher eher abstrakte Scheußlichkeiten
wie Überwachung, Klimawandel und schlicht nicht zu stemmende
Kosten nun auch für uns bedrohlich nahe und werden damit
begreifbar.
Leben wir im besten aller Systeme? Natürlich nicht.
Wen braucht es: richtig, die Nerds. Mit einigen von ihnen hat
Sibylle Berg im sehr zu empfehlenden Interviewband "Nerds retten
die Welt" gesprochen, parallel zu ihrer Arbeit an "RCE": mit
Systembiolog*innen, Neuropsycholog*innen,
Kognitionswissenschaftler*innen, Meeresökolog*innen, Konflikt-
und Gewaltforscher*innen, kurz, mit Expert*innen, die wissen, wie
der desolate Zustand unserer Gesellschaft und unserer
Lebensbedingungen nicht komplett den Bach runterrauschen würde.
Nur leider bekommen die ja im aus- und andauernden
Empörungskreislauf wenig Gehör und noch weniger Einfluss auf
politische Entscheidungen, die das Leben besser und schöner
machen würden.
Also dann die Hammermethode: Was braucht es, dass es anders
wird?
Eine Vernichtung des Finanz- und Bankensystems. Eine grundlegende
Umverteilung.
Und hier kommen die Nerds aus "GRM", nun einige Jahre älter,
wieder ins Spiel: sie suchen sich Unterstützung, sie finden
Mechanismen, die das bestehende System desolat machen.
Sibylle Berg schreibt eine Anleitung, kein Held*innenepos. Nie
gelingt - egal wie sehr man darauf auch konditioniert sein möge -
die Identifikation mit den Protagonisten: Außenseiter mit
speziellen Begabungen, die die über das Netz abgebildeten
Zusammenhänge erkennen und diese ändern.
Und dies zunächst erfolgreich. Nach einer harten, fordernden und
aufreibenden Lektüre ein kurzer Moment, in dem Hoffnung keimt:
"Vielleicht wird es diesmal besser. Fortsetzung folgt."
In der nächsten Woche diskutieren Anne Findeisen, Herr Falschgold
& ich die Werke der letzten Wochen.
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