Celeste Ng - Was ich euch nicht erzählte

Celeste Ng - Was ich euch nicht erzählte

9 Minuten
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Beschreibung

vor 2 Jahren

Everything I Never Told You ist der Debütroman der amerikanischen
Autorin Celeste Ng, die vor dessen Veröffentlichung im Jahr 2014
bereits Kurzgeschichten schrieb, für die sie diverse
Auszeichnungen erhielt. Ng studierte Englisch und Kreatives
Schreiben und ihr zweiter Roman Little Fires Everywhere dürfte
hierzulande vielen auch deswegen bekannt sein, da er 2020 als
Miniserie verfilmt wurde und auf einschlägigen Streaming Portalen
zur Verfügung steht. 2016 wurde Was ich euch nicht erzählte, für
das sie ebenfalls mehrere Auszeichnungen erhielt, ins deutsche
übersetzt und im dtv Verlag veröffentlicht.


Der Roman mutet zunächst wie ein Krimi an. Ein Mädchen ist
verschwunden. Wir wissen, dass es sich um Lydia Lee handelt, die
16-jährige Tochter von Marilyn und James Lee, Schwester von
Nathan und Hannah Lee. Und wir wissen ebenfalls, im Gegensatz zu
den Protagonisten, dass Lydia tot ist. Eine Tatsache, die
überhaupt das Erste ist, was der Leser erfährt. Als schließlich
ihre Leiche gefunden wird – sie ist in einem See nahe des Hauses
ertrunken – beginnt die Suche nach den Gründen oder
Verantwortlichen, nach dem Warum, die Ng als Instrument nutzt, um
ein Familienportrait zu entfalten und das Innenleben der
Beteiligten frei zu legen.


James Lee, der Vater der Familie und selbst Sohn chinesischer
Einwanderer, strebt sein Leben lang nach gesellschaftlicher
Anerkennung und hegt vor allem den Wunsch, durch Anpassung
dazuzugehören und nicht ständig, aufgrund seiner Herkunft,
ausgegrenzt zu werden. Während seiner Tätigkeit als Professor an
der Harvard University lernt er Marilyn kennen, die zunächst
seine Studentin ist und sich gerade aufgrund dessen, dass James
nicht wie alle anderen ist, von ihm angezogen fühlt. Marilyn
selbst möchte Ärztin werden und nichts stößt sie mehr ab, als die
Vorstellung, wie ihre Mutter zu enden und ihre Tage als Hausfrau
zu verbringen – eine Rolle, die sie verachtet.


Doch als sie James kennenlernt, ist das Folgende geradezu eine
selbsterfüllende Prophezeiung. Die beiden verlieben sich
ineinander und Marilyn wird schwanger, woraufhin die beiden
heiraten und Marilyn ihr Studium unterbricht, immer in der
Hoffnung, es in ein paar Jahr wieder aufnehmen und zu Ende
bringen zu können. Doch es kommt nicht so weit. Erst bringt sie
Lydia zur Welt, die das Lieblingskind wird und später Nathan. Als
Marilyn bewusst wird, dass sie nicht weiter von der Erfüllung
ihres Traums Ärztin zu werden entfernt sein könnte und durch den
Tod ihrer Mutter, der ihr schmerzlich bewusst macht, wie sehr sie
ihr schließlich doch ähnelt, trifft sie eine folgenschwere
Entscheidung und verlässt ihren Mann und ihre Kinder, um ihr
Studium doch noch zu beenden. Als sie jedoch nach neun Monaten
merkt, dass sie erneut schwanger ist, ist damit auch der letzte
Versuch gescheitert und sie kehrt zu ihrer Familie zurück.


Die in der Vergangenheit erlebten Enttäuschungen und Rückschläge
der Eltern werden schließlich maßgeblich für deren Erziehung,
getragen von dem Wunsch, dass es ihre Kinder besser haben mögen
als sie selbst und nach dem Klischee, in dem Eltern durch ihre
Kinder ihre eigenen unerfüllten Träume ausleben. Stets jedoch
fest daran glaubend, dass es das Beste für ihre Kinder sei und
sie es einmal besser haben würden. Geradezu quälend erscheinen
dabei die Interaktionen zwischen Lydia und ihrer Mutter Marilyn.
Lydia, die geprägt ist von der Angst um den Verlust ihrer Mutter
– aufgrund ihrer neun monatigen Abwesenheit – hat es sich zur
Aufgabe gemacht, den Anforderungen ihrer Mutter um jeden Preis
gerecht zu werden, um sie nie wieder zu verlieren. Dabei handelt
sie entgegen ihrer eigenen Interessen, gibt vor, sich über jedes
weitere wissenschaftliche Buch, das ihr geschenkt wird, zu freuen
und ist auch zunehmend von Gleichaltrigen isoliert, zu denen sie
ohnehin nur schwer Zugang findet.


Während sich Marilyn für ihre Tochter nichts sehnlicher wünscht,
als dass sie eines Tages Ärztin wird, wünscht sich ihr Vater –
selbst stets Außenseiter gewesen – für sie, dass sie viele
Freunde findet und, im Gegensatz zu ihm, integriert wird. Sätze
wie: „»Versprich mir«, sagte er, »dass du mit allen auskommst.
Freunde kann man nie genug haben.« machen gleichermaßen traurig
wie wütend, denn sie symbolisieren, wie einsam sein eigenes Leben
gewesen ist und auch, dass es ihm weniger um die Befriedigung
ihrer denn seiner Bedürfnisse geht. Ihr Bruder Nathan ist ihr
einziger Verbündeter, der sie auffängt und versteht, unter welch
hohem Erwartungsdruck sie leidet. Doch auch die Beziehung zu ihm
gerät allmählich ins Wanken, denn während Lydia sämtliche
Aufmerksamkeit ihrer Eltern zuteil wird, wird ihm kaum Beachtung
geschenkt. Von seinem Vater James wird Nath abgelehnt, denn er
erkennt sich zu sehr in seinem Sohn wieder, was Naths Eifersucht
auf seine Schwester nur noch befeuert und seinen Wunsch, endlich
von zu Hause ausziehen zu können und in Harvard zu studieren, wo
er sich seinem Ziel – der Raumfahrt – nähern kann, noch
vergrößert. Hannah, die jüngste Tochter, scheint für die anderen
Familienmitglieder fast gar nicht zu existieren. Allein ihr
Zimmer, auf dem Dachboden, wirkt wie eine Metapher für ihre
randständige Position innerhalb der Familie. Dass kaum jemand das
Wort an sie richtet, sie sich meist versteckt und aus sicherer
Entfernung beobachtet, was um sie herum vor sich geht, bestärken
dies nur noch.


Allmählich entfaltet Celeste Ng die einzelnen Charaktere vor dem
geistigen Leserauge und geht dabei der Frage nach dem Warum von
Lydias Tod auf den Grund. Die Geschichte, die daraus entsteht,
ist jedoch viel schmerzhafter, als die tragische
Mutter-Tochter-Beziehung, die davon beherrscht wird, dass die
Eine für die Andere etwas möchte, was sie selbst nicht haben
konnte. Während Marilyns unbedingter Traum Ärztin zu werden und
sich von anderen abzuheben platzt, lebt sie selbst weiter in
Ressentiments und Vorurteilen, denen sie entkommen wollte. So
begegnet sie im Krankenhaus einer Ärztin, die sie für eine
Krankenschwester hält und bedient damit selbst das Klischee, dass
Arzt gleich männlich ist. Aber auch das Thema Rassismus ist
entscheidend für die Entwicklung ihrer Charaktere und Grund für
die Einsamkeit, die wir in ihnen immer wieder erkennen können.
Vor allem an James und seinem unbedingten Wunsch sich zu
integrieren, anzupassen und dazuzugehören wird dies deutlich. Ein
Wunsch und vielleicht auch gleichzeitig Trauma, das er an seine
Kinder weitergibt und eine Tatsache, die, so vermute ich, auch
der Autorin selbst nicht fremd sein dürfte, ist sie doch selbst
das Kind chinesischer Einwanderer. Und so ist die Geschichte auch
immer wieder bestimmt von Rückblenden, die die Anfänge der Eltern
in den USA beleuchten.


Was ich euch nicht erzählte, beschreibt nicht nur auf feinfühlige
und komplexe Art und Weise wie schwer das Nicht-Gesagte wiegt,
sondern auch, wie jeder um seinen Platz in der Gesellschaft, der
Familie oder Beziehungen kämpft und dabei vor allem oft mit sich
selbst. Es geht nicht nur darum, sich selbst zu finden, sondern
auch darum, anderen Raum zu lassen und sie nicht mit Erwartungen
zu erdrücken. Es geht um Betrug und Ablehnung als Reaktion
darauf, dass man sich genau das Gegenteil wünscht, ebenso wie um
Alltagsrassismus und Integration. Das Portrait einer Familie, in
der jeder mit sich selbst um etwas ringt, eingebettet in den Tod
eines Familienmitglieds und den Wunsch, die Gründe dafür zu
erfahren. Eine Innenansicht verschiedener Personen und deren
Beweggründen, die Celeste Ng eindrucksvoll gelungen ist und
mitunter auch wütend macht. Einzig das Ende erscheint mir
angesichts der vorgefallenen Geschehnisse etwas zu euphemistisch,
wenn es auch kein gutes Ende im klassischen Sinne ist. Aber ich
nehme es als Symbol, dass Dinge sich zum Guten wenden können und
Veränderung möglich ist.


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