Richard David Precht, Harald Welzer: Die vierte Gewalt
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Beschreibung
vor 2 Jahren
Alte weiße Männer können per se nichts für ihren alten weißen
Schniedel, aber wofür sie etwas können ist, wenn dieser
raushängt, mitten in einer deutschen Talkshow, metaphorisch im
Gesicht einer deutschen Journalistin und per Bildfernübertragung
damit auch in unserem. So war das äußerst unangenehm geschehen,
kürzlich, in der TV-Talkshow “Markus Lanz”. Der Schniedel gehörte
Richard David Precht, den wir hier kürzlich noch als “den
Perückenträger aus Solingen” milde belächelt hatten. Ein zweiter
weißer Schniedel hing, das muss gerechterweise gesagt werden, nur
halb raus und gehörte dem frisurtechnischen Nacheiferer Prechts,
dem Soziologen Harald Welzer.
Besprochen werden sollte deren gemeinsam geschriebenes Buch “Die
vierte Gewalt: Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird – auch wenn sie
keine ist”, ein wissenschaftliches Werk, wie gerade Welzer immer
wieder betonte. Eingeladen zur kritischen Textanalyse waren zwei
Journalistinnen, die im Buch, so wurde schnell klar, wohl selbst
wissenschaftlich beleuchtet wurden, Melanie Amann vom “Spiegel”
und Robin Alexander von der “Welt”.
Das Buch, nicht nur im Titel ein Frontalangriff auf den Deutschen
Journalismus, kam bei den anwesenden Betreibern desselben
erwartungsgemäß nicht an und da diese genug Zeit hatten, sich auf
die Konfrontation vorzubereiten, sahen die Autoren beide nicht
besonders gut aus, zumindest aus der Perspektive dieses
unparteiischen Beobachters des Gemetzels. Zwar hatte ich kurz
nach der Wende keine Zeitung unter einem Kilogramm Papiergewicht
konsumiert, schon weil man in der Mittagspause, die Süddeutsche
oder die FAZ auf dem Tisch konzentrierend sein partymüdes Haupt
auf diese betten konnte, um ein paar Minuten leise in die
Kommentarspalten sabbernd zu ruhen. Aber wann ich das letzte mal
ein solches Leitmedium überhaupt in der Hand hatte, geschweige
denn darin intensiv gelesen, kann ich wirklich nicht mehr sagen.
Es muss ein Jahrzehnt her sein. Aber natürlich bilde ich mich
politisch intellektuell, nur halt nicht, wie die Autoren Precht
und Welzer das von mir erwarten. Die Einzigen, die damit
umzugehen in der Lage schienen, waren die beiden leitmedialen
Journalisten. Und während diese ein Argument nach dem anderen aus
dem Buch auseinander nahmen und den Buchautoren um die Ohren
hieben, zogen sich bei Precht die Hodensäcke in den Unterbauch
zurück, die Beine wurden breiter und breiter aufgestellt und mit
scharfer Stimme ergoss sich des Intellektuellen Mansplaing in’s
Gesicht der Spiegel-Chefredakteurin. Diese lachte ihn aus, Harald
Welzer zog sich aufs Wissenschaftliche zurück und Robin Alexander
wurde spontan zum Feministen.
Die erste Amtshandlung des Rezensenten muss nun sein, sich von
den verstörenden Bildern der Veranstaltung zu reinigen und das
Buch als solches zu lesen und zu besprechen. Ich verspreche
nichts, aber gebe mir Mühe.
Das Buch beginnt einleitend mit besagtem Frontalangriff auf die
deutsche Presse, die sich vom willfährigen Berichterstatter des
Regierungshandelns zum politischen Akteur emanzipiert habe. Es
wird ein bisschen Verständnis gezeigt: Internet, das sog.
Twitter, Kapitalismus. Es wird viel befußnotet, damit man gleich
sieht, dass was man hier liest, auch wirklich Wissenschaft ist.
Wir ahnen Schlimmes, doch es folgt das erste Kapitel, das den
Begriff “Öffentlichkeit” definiert und angenehm historisch,
neutral, sachlich ist und damit offensichtlich geschrieben wurde,
als keine aufmüpfigen Frauen im Raum waren. Oder -
wahrscheinlicher - von Harald Welzer. Auch hier wird ordentlich
befußnotet, wissenschaftliche Quellen wie der “Deutschlandfunk”
und die Wochenzeitschrift “Die Zeit” müssen herhalten, weil
Wikipedia als Fußnote unwissenschaftlich ist . Das alles, um
Zitate zum US-Amerikanischen Herausgeber Hearst zu belegen, einem
Kriegstreiber, wie wir lernen. Und wir ahnen, worauf der Kritiker
der Waffenlieferungen an die Ukraine abzielt.
Im darauf folgenden Kapitel wird das fehlende Vertrauen des
Bürgers ins “System” aufgrund Unterrepräsentanz besagten
“Bürgers” im Verhältnis zum “Politiker” in den Leitmedien
analysiert. Das passiert, wir hatten es schon befürchtet, anhand
der Flüchtlingskrise 2015 und der Coronakrise 2020. Untersucht
wird das Ganze mit “inhaltsanalytischen Studien”, also
Textanalysen von Veröffentlichungen der “Leitmedien” und der
Aufschlüsselung nach darin auftauchenden Themen, Personen,
Gesellschaftsschichten. Was Precht und Welzer dabei versuchen
herauszufinden ist, ob alle Gesellschaftsschichten in der
Berichterstattung zu Wort kommen, und ob diese inhaltlich
“ausgewogen” ist, also ob alle öffentlichen Meinungen
repräsentiert sind.
Problematisch dabei: Studien von Extremsituationen als Grundlage
zur Beweisführung von Thesen zu verwenden ist generell schwierig
und speziell in diesem Fall fragwürdig, denn bei den Fragen, die
diese beiden “Krisen” aufgeworfen haben, gibt es nun mal
anerkannte moralisch-ethische Grundhaltungen in unserem Land, die
eben nicht fifty/fifty "Kieken wa ma, was det Volk so denkt!” zu
beantworten sind, sondern im Rahmen der Bundesdeutschen
Grundordnung schon eindeutig beantwortet sind: “Flüchtlinge
aufnehmen Ja!”, sagt das Asylrecht, “Impfen Ja!”, sagt das
Infektionsschutzgesetz. Was zu den Themen in den Leitmedien
stand, war also recht erwartbar.
Die Haupterkentnis aus den Textanalysen (hier beispielhaft zur
Flüchtlingskrise) ist, so das Buch, dass hauptsächlich Politiker
zu Wort kamen (zu bis zu 80%), nicht jedoch die Helferinnen oder
gar die Betroffenen, also die Flüchtenden. Das klingt dramatisch,
ein wirklich kurzes Überlegen kann einen aber darauf bringen,
dass in einer unübersichtlichen Situation, einer Krise eben, in
der vornehmlich um Ordnung gerungen wird, diejenigen zu Wort
kommen, deren Job das praktische Errichten von Ordnung ist.
Politiker zum Beispiel. Stattdessen wird beklagt, dass die
lokalen Helfer in der Berichterstattung unterrepräsentiert wären
und passend zum Ton des ganzen Buches werden gleich mal
Parallelen gezogen zu obrigkeitshöriger Wilhelminischer
Berichterstattung, no s**t. Das Problem ist doch aber: Wie löst
man eine nationale Krise? Diese den “Nothelfern” überzuhelfen ist
eine Option, aber sinnführender ist es, in einem solchen Fall
nationale (und noch besser europäische) Lösungen zu etablieren.
Und darüber wurde berichtet. Verrückt.
Hier geht also mit den Autoren der Wunsch nach Sensationalismus
durch, sie wählen exakt die nicht repräsentativen Beispiele zur
Untersuchung aus und schießen sich damit selbst ins Bein. Wie
viel interessanter wäre es, ein medial weniger präsentes Thema
zur Textanalyse zu wählen, idealerweise eines, welches nicht in
statistisch kaum verwertbaren, minimalen Zeiträumen aufflammt und
wieder erlischt. Ich bin sicher, die aufmerksame Leserin unserer
gesammelten Rezensionen kommt auf ein paar Ideen.
Und am Ende des Abschnitts zur Inhaltsanalyse “Flüchtlingskrise”
merken das die Autoren sogar, Zitat: “Aber könnte es nicht sein,
dass die leitmediale Berichterstattung der Presse zur sogenannten
Migrationskrise diesbezüglich ein Ausnahmefall war?”. So close.
Sie setzen fort: “Schauen wir deshalb auf andere Krisenereignisse
und ihre mediale Bearbeitung."
Es folgt also die gleiche Übung zur Coronakrise ohne jeglichen
Erkenntnisgewinn: Politiker stehen während einer Krise im
Mittelpunkt der medialen Berichterstattung. Wer sonst, fragt man
sich.
Und weil man auf durchschossenen zwei Knien immer noch irgendwie
ins Ziel robben kann, folgt die exakt gleiche Argumentation zur
nächsten Krise, der aktuellen, jetzt gleich ganz ohne
wissenschaftliche Untersuchungen, weil, ist ja noch im Gange: der
Ukrainekrieg. Es lohnt kaum, die gleichen Argumente nochmals zu
besprechen, zumal sie diesmal nicht analytisch unterlegt sind.
Dass dieses Fehlen einer Analyse das Thema für ein nach
wissenschaftlichen Methoden erstelltes Buch ausschließen sollte,
ignorieren die beiden Wissenschaftler und so müssen wir ein
dutzend Seiten Meinung über uns ergehen lassen, die, wie es
Meinungen so an sich haben, teilweise Übereinstimmung erzeugen,
hier z. B.: das Fehlen der Berichterstattung in deutschen Medien
zur Haltung zum Krieg aus anderen Teilen der Welt. Viele der
Meinungen führen jedoch zu entschiedener Ablehnung aufgrund von:
Blick auf die f*****g Landkarte.
Das nächste Kapitel “The Unmarked Space” greift die Erkenntnisse
aus dem vorigen auf und will laut Untertitel extrapolieren, “was
Leitmedien nicht thematisieren” und man ist, leicht erschöpft,
geneigt hier zum Rotstift zu greifen wie der alte gestrenge
Mathelehrer und den Rest des Buches ungelesen wie einen
misslungenen mathematischen Beweis durchzustreichen und mit einer
5 zu benoten. Denn wer im ersten Schritt der Beweisführung einen
solchen entscheidenden Fehler begeht, wie die beiden Autoren,
namentlich Textanalysen nicht repräsentativer Ereignisse für den
allgemeinen Erkenntnisgewinn heranzuziehen, begeht etwas, was man
in der Philosophie Fallazien nennt, aber da man selbst aus denen
noch etwas lernen kann und wir 20 EUR überwiesen haben, nehmen
wir die Herausforderung an, das Ding zu Ende zu lesen. Es wird
zum Beispiel spannend sein zu sehen, ob der “Fehler” im ersten
Schritt nur gemacht wurde um die Thesen wirksamer an den Leser zu
verkaufen, die Thesen also trotzdem und im Grunde so vertretbar
sind und nur sensationsheischend eingeführt wurden, oder ob die
Autoren tatsächlich ihre Integrität als Wissenschaftler aufs
Spiel setzen und uns einen großen Wissenschaftsblabla überhelfen,
nur um publikumswirksam ihre jeweiligen Lieblingssäue durchs
Internet zu ranten, Waffenlieferungen an die Ukraine im Fall
Welzer und dass ihn keiner ernst nimmt, den Richard David Precht.
Und zugegeben ist das Buch, wenn immer es von Welzer im Erklär-
und nicht im Argumentationsmodus (und von Precht gar nicht)
geschrieben wird, lesbar und milde interessant.
Wohlan, was also wird von unseren Leitmedien nicht thematisiert?
Tipps werden angenommen.
Zunächst setzt sich ein Pattern fort. In den Einleitungen, hier,
“was bedeutet Realität in der Medienlandschaft?”, wimmelt es von
Fußnoten, die Eindruck machen, in den anschließenden
Behauptungen, die die Grundlage für den Beweis der eigenen Thesen
legen sollen, fehlen sie plötzlich. Da wird mal eben in einem
Nebensatz die Behauptung aufgestellt, dass Informationen, die nur
mit großer Mühe, Aufwand und sorgfältiger Recherche zu erlangen
sind, immer seltener würden, eine Behauptung, die nach einer
Fußnote mit Belegen dafür schreit, aber ohne diese auskommen
muss. Vielleicht liegt es daran, dass erkennbar am anprangernden
Schreibstil (“erschreckend”, “Vereinseitigung der Perspektive”,
“vorauseilender Gehorsam”) der Solinger Intellektuelle P. die
Klinge schwingt und sich erwartbar selbst mutiliert. Der Zweck
dieser Operation am eigenen Hirn ist ein rant mit dem Tenor, dass
Journalisten lieber Feuilleton-Pingpong mit sich selbst spielen
denn zu Recherchieren, lieber mit Eliten kuscheln statt sich dem
unsichtbaren Teil der Bevölkerung, den Unterschichten und Derlei,
zu widmen.
Dabei kommen die Autoren mittelbar zum Thema der engen Vernetzung
zwischen Politik und Journalismus und haben dort an sich die
richtige Fakten bei der Hand und zitieren auch daraus, hier eine
Studie aus 2014, die damals über den Umweg der Satiresendung “Die
Anstalt” die Runde machte und die Vernetzung von NATO-nahen
Stiftungen und Journalisten wie Joffe und Bittner von der “Zeit”
aufdeckten. Wie sich herausstellt, hatte aber Harald Welzer
mittlerweile das Worddokument geblockt und kommt, nicht ohne
vorherige Absicherung, dass hier keinesfalls ein
Lügenpressevorwurf erhoben werden soll (besser ist das) zum
erwartbaren Punkt: Waffenlieferungen an die Ukraine.
Dass sich die beiden Autoren ausgerechnet den Ukrainekrieg als
Beispiel für verengte Pluralisierung in den Medien vornehmen, ist
tragisch. Sie gehen damit in die gleichen Fallen, die sie den
kritisierten Medien vorwerfen. In Welzers Fall, als Unterzeichner
des “Emmabriefes” gegen die Waffenlieferungen in die Ukraine,
nimmt er ein Thema, in welchem er selbst die Öffentlichkeit
manipulieren möchte als Beispiel dafür, dass die Medien die
Öffentlichkeit manipulieren. Und die Rampensau Precht sagt
natürlich “let’s go for it” denn er weiß, wann ihr Buch rauskommt
und ist sich sicher, dass zu diesem Zeitpunkt der Krieg noch das
Thema No 1 sein wird und damit Medienpräsenz garantiert ist. Das
ist tragisch, denn die Vorwürfe der Verengung der medialen
Informationsvermittlung sind es wert, dass man ihnen auf den
Grund geht, aber, mal abgesehen vom Holocaust, ist jedes Thema
geeigneter, das zu diskutieren als ein Krieg, in dem Angreifer
und Verteidiger auf einer f*****g Landkarte zu erkennen sind.
Das Ende des Kapitels deutet an, welches Mitglied des Autorenduos
gleich den Textprozessor beackern darf: mit bestechender Logik
schreibt Precht: “Wer in der Politik nicht vorkommt, kommt auch
in den Medien nicht vor. Und umgekehrt.” Das stimmt, a) immer, b)
wenn doch nicht, dann doch, indem man “zwangsläufig” davor
schreibt und c) “Zur Sicherheit machen wir das jetzt kursiv!”.
Es geht also um “Gala-Publizistik”, wie das Kapitel überschrieben
ist und jetzt geht’s zur Sache, denn “Politischer Journalismus
sei Journalismus über Politiker, weniger über Politik”. Es riecht
nach Futterneid und Brusttrommellei und es wird im ersten Absatz
klar, wer der andere Gorilla sein soll: Robin Alexander,
Chefredakteur der Welt: jemand der so prototypisch wie ein
CDU-Wähler aussieht, dass ihm CDU-Politiker wohl immer alles
erzählen müssen und der das dann also weitererzählt. Doch wir
werden überrascht. Nicht Precht hat beef, der bisher so fundiert
schreibende Welzer nimmt sich das Mitglied des FC Schalke 04
Fanclub “Königsblau Berlin” zur Brust, und zwar anhand einer
Story, in der Robin Alexander Informationen aus einer
CDU/CSU-Fraktionssitzung zuerst auf Twitter veröffentlichte,
statt am nächsten Tag in der “Welt”. Das sei ein Skandal,
unjournalistisch und ein Beispiel für das Grundübel, weil man in
Realtime in die Fraktionssitzung zurück funke, statt hinterher
darüber zu berichten und damit Politik beeinflusse. Man dankt als
Leser Harald Welzer leise dafür, dass es nicht darum ging, dass
er den Alexander nicht leiden kann (ok, wissen wir nicht)
sondern, dass er Twitter nicht leiden kann. Das wissen wir genau,
weil Harald Welzer kein Twitterprofil hat. Vielleicht hat er
Twitter auch einfach nicht verstanden.
Precht übernimmt schnell wieder, schließlich hat er sich die
Überschrift des Kapitels ausgedacht. Es folgen freie
Assoziationsketten in bildreicher Sprache zum Thema Medien und
Politik, die komplett frei von Begründung und komplett
zustimmungsfähig sind: Politik wird unipolarer, Politiker
unschärfer, Medien lauter. Das ganze unterlegt mit altbekannten
(und richtigen) Beispielen aus der Zeit der neunziger und nuller
Jahre, wie die Rot-Grünen das gemacht haben, was auch die
Schwarz-Gelben gemacht hätten: Kampfeinsätze in Jugoslawien,
Dosenpfand und Hartz IV. Kanzlerduelle seien US-Cosplay,
polarisierte Wahlkämpfe bringen Einschaltquoten und die bringen
Geld, wobei auch hier wieder die Fußnoten mit den Belegen fehlen,
angesichts des Autors wohl aus Faulheit, denn wegen fehlender
Zahlen, die aber in Deutschland vielleicht nicht ganz so
aussagekräftig wären, wie die in den USA, was z.B. die Profite
von Spiegel oder RTL in Wahlkampfjahren vs. dazwischen
betrifft. Aber es wäre interessant gewesen, das zu vergleichen.
Nichts von dem tut weh, nichts von dem macht uns schlauer, aber
Precht liest gerne Precht und da müssen wir jetzt alle durch. Was
schade ist, weil sich aus diesen Plattitüden und bekannten
Weisheiten etwas entwickeln lässt. Dazu muss man natürlich seine
Metaphernsucht im Griff haben und vielleicht nicht nur Beispiele
aufzählen, die wir alle auch so im TV sehen und die uns alle
genauso aufregen, wie z.B. das aufs Wort vorhersagbare Frage- und
Antwortspiel zwischen Journalisten und Parteivorsitzenden an
Wahlabenden. Da sollte schon mehr kommen, also besser zurück zu
Welzer.
Aber: F**k! S**t! Der hatte 2012 im Fernsehen den TV-Psychologen
gegeben und war damals mit einer psychologischen Fernanalyse des
amtierenden Bundespräsidenten Christian Wulff zum
Medienschaffenden geworden. Autsch. Das muss natürlich proaktiv
erwähnt werden, und zwar mit dem wirklich grandiosen humblebrag,
dass man nicht wissen könne, ob Welzer damals zum Rücktritt des
Bundespräsidenten beigetragen habe. Man sagt “mea culpa” und
macht das Beste draus: man bestätigt seine Tätigkeit als Jäger im
Fall Wulff und beschreibt, wie man sich so fühlt als Teil der
Meute (Zugehörigkeit, Anerkennung, Komplizenschaft) und haut uns
damit allen auf den Kopf. Uns allen heißt in dem Fall: uns allen
in der “Wahlverwandtschaft” bei Twitter, wenn es uns auf dem
Socialmedia-Dienst nicht um Aufklärung oder gar Wahrung des
Gemeinwesens vor Schaden gehe (what?), sondern darum, jemanden
zur Strecke zu bringen und dafür Beifall zu bekommen. So schreibt
das der R.D.P. Oder der H.W. Ja, HW und RDP, so nennen sich die
Bros im Buch. Yo.
Zum Glück sind wir in der Twitterfamilie gleich wieder aus der
Schusslinie, R.D.P., also der Richard, hält wieder auf seine
eigentlichen Feinde, es fallen Worte wie “Enthemmung”,
“Moralverlust”, “Anstandsniveau”, “Verunglimpfung” und
“Treibjagd”. Das alles explizit auf den deutschen politischen
Journalismus bezogen. Unter solchen Substantiven macht es der
Precht nicht und wir hoffen im nächsten Kapitel auf Antworten,
warum das so ist. Der Titel lässt nichts Gutes hoffen. Er lautet:
Cursorjournalismus
Nicht nur das schwache Kunstwort, auch die ersten Sätze im
Kapitel lassen uns wissen, wer jetzt schreibt. Denn es geht um:
Waffenlieferungen an die Ukraine. Ok, die Marke ist gesetzt und
Harald Welzer gibt uns also einen Abriss über den Unterschied
zwischen unrealistischen Verschwörungstheorien (Lügenpresse,
Coronaleugner) und der tatsächlichen und durchaus belegbaren
Regierungsnähe von Journalisten. Das ist der Stuff, wegen dem wir
hier sind. Welzer belegt und beschreibt, ordnet ein und ist auf
dem besten Wege uns Erkenntnisgewinn, wenn nicht Lösungen zu
präsentieren, und muss doch immer wieder auf den Ukrainekrieg
zurückkommen, als hätte er einen alten Aufsatz zum Thema
zweitverwertet und mit seinem aktuellen beef befüllt. Das ist,
wie schon einige Male im Buch, schade, denn natürlich hat Welzer
was zu sagen zum Thema und wäre er nicht so abgelenkt, würde er
es tun, wir sind sicher. Und tatsächlich, nach und nach bekommen
wir interessante Abrisse aus der bundesdeutschen Geschichte, als
man noch wusste, wer journalistisch rechts und wer links stand,
kongruent zur Polarisierung der politischen Lager. Seit dem
Mauerfall ist nichts mehr links oder rechts und alles strebe zur
Mitte und das führe dazu, dass die Medien wichtiger würden. Ok.
Warum genau? Welzer wird konkreter und führt, man möchte fast
sagen “plötzlich” eine stimmige, bedenkenswerte und gut erklärte
Theorie der Medien in einer Zeit hoher Komplexität und geringer
Aufmerksamkeitsspanne ein. Ziemlich genau zur Hälfte des Buches
sagt mein Kindle. Ich komme mir vor wie ein Bergarbeiter, den
Abraum hinter sich, die Silberader im Blick. Leider greift Kumpel
Precht zur Hacke und meint, statt uns Welzers gut gefügten
Ansichten zu überlassen, brauchen wir jetzt schnelle und rassig
formulierte Schlussfolgerungen und begründet mit diesen (mal
wieder) seine persönlichen Ansichten, die aktuellen Leitmedien
wären eine Meute von Bluthündinnen. Es folgen Absätze mit den
folgenden Worten, die immer aktuelle TV- und Pressepublikationen
beschreiben: “Jagdfieber”, “Marschtakt”, “über jemanden
herfallen”, “Verunglimpfen”, “hysterische Ausgrenzung”. Die
Pressemeute erzeuge so ein “Wir”, werde also zur homogenen Massen
und Welzer übernimmt gerne die Vorlage und verdächtigt diese der
unisono Kriegstreiberei durch das Befürworten von:
Waffenlieferungen in die Ukraine. Es ist ein bisschen traurig.
Was Cursorjournalismus eigentlich ist? Es ist zu bescheuert. Und
auch irrelevant. Es lohnt kaum die folgenden Kapitel einzeln
durchzugehen, auch wenn das verdächtig Precht-faul klingt. Das
Pattern ist immer das gleiche: Welzer doziert und befußnotet
sozialpsychologisch mäßig interessant auf eine Schlussfolgerung
hin, die immer in etwa darauf hinausläuft, dass Journalisten
einfach nicht mehr das sind, was sie einmal waren. Dann übernimmt
Precht und denkt sich ein paar scharfe Adjektive und Metaphern
aus, um die Schlussfolgerung für den beschränkter vermuteten Teil
der Leserschaft nach Hause zu prügeln. Der klopft sich vermutet
auf die Schenkel und wirft Facebook an um die saftigen
Formulierungen dort reinzuposten, damit Reichweite werde.
“Der Journaille haben wir’s gezeigt!” denkt Precht privat
und formuliert für die Öffentlichkeit seriös um.
“Worauf habe ich mich bloß eingelassen” denkt Welzer, und
versteckt sich öffentlich hinter seiner Wissenschaftlerkarriere
und hofft, dass Putin bald den Löffel abgibt und die
Öffentlichkeit seine peinlichen intellektuellen Entgleisungen zum
Thema vergisst.
Was vom Anfang bis ans Ende des Buches immer und immer wieder
erstaunt, ist, wie unreflektiert man sein kann und man fragt
sich: ist das, weil oder trotzdem die Autoren sich permanent in
die Öffentlichkeit begeben? Sie schreiben: Man wisse ja, dass es
unseriös sei, Sätze aus dem Zusammenhang zu reißen, wie das auf
diesem Twitter ständig passiere und finden dann ihre Argumente in
Reden von Springer-Chef Mathias Döpfner. Man beharrt auf
Recherche und dem Schreiben über Dinge, von denen man etwas
verstehe und stellt sich dann, wie so ein pickeliger Abiturient
in der Berufsberatung, vor, wie Redaktionskonferenzen in großen
Tageszeitungen ablaufen, statt mal zu recherchieren, was dort
wirklich passiert. Es wird von der ersten Seite an die
“Personalisierung der Debatte” angeprangert und man prangert
permanent konkret Journalisten an. Es wird erklärt, dass die
Journalisten - alle - eine Meute bilden, die sich im groupthink
gegenseitig vergewissern und man vergewissert sich permanent in
gegenseitiger Zustimmung, das man Recht habe, auch wenn das gar
nicht sein kann, weil der eine Autor intellektuell faul und der
andere ein anerkannter Wissenschaftler ist.
Die Frage bleibt: musste man sich wegen dieses Buches so entblößt
in eine Talkshow setzen und ich denke, wir haben sie beantworten
können.
Denn, wer aus Eitelkeit oder Sendungsbewusstsein behauptet, ein
wissenschaftliches Werk zu veröffentlichen, welches bei näherer
Betrachtung nur ein Vorwand ist, die zwei, drei talking points,
die einen gerade beschäftigen, medienwirksam unter die Leute zu
bringen und sich als Thema dieses "wissenschaftlichen Werkes”
ausgerechnet den Medienbetrieb raussucht um dann zu 100%
folgerichtig von den routinierten Samurais ebendieses
Medienbetriebes zu Hasché verarbeitet zu werden, hat an sich nur
zwei Betriebsmodi, mit denen er in eine wahrscheinlich lange
zugesagte Promotalkshow wie die bei Lanz gehen kann. Man kann,
wie Welzer, den gelassenen Wissenschaftler geben und milde
lächelnd alle anderen für dumm erklären oder, weil man halt
keiner ist, wie Precht, die Beine breit machen und mansplained
dann den s**t aus dem eigenen Unsinn, worauf man beleidigt ist,
wenn alle über einen lachen.
Schade ist das vor allem, weil, selbst wenn man das Alter der
Autoren hat, und offenbar nicht anders kann, als den deutschen
Journalismus auf die Leitmedien zu verengen, es an diesem einiges
zu analysieren gibt. Sein Aufstieg und Fall ist faszinierend und
wenn man wirklich nicht mit neuen Medien kann, und hier sind
nicht nur die “Direktmedien” gemeint, wie Welzer begriffsschafft,
was wir Nichtelitären “social media” nennen, hat man locker ein
gutes Buch drauf, wenn man wie Precht in diesen Leitmedien lebt
und wie Welzer was Richtiges studiert hat. Aber nein, man weiß
tief drin, dass es ein ernsthaftes Werk über ein begrenztes Thema
fürs eigene Ego nicht mehr bringt, man will Aufmerksamkeit, tappt
in die Projektionsfalle und postuliert: Alles Egozentriker außer
ich, ich, ich!
Und so sei abschließend die Frage erörtert, die jeder Rezension
als Grundlage dienen sollte: für wen ist dieses Buch? Wer könnte
sich dafür interessieren, wer wird Genuss beim Lesen empfinden,
wer wird sagen “Toll argumentiert!", “Toll formuliert!”?
Nun. Mir fallen eigentlich nur zwei Leserinnengruppen ein: die
Fans von Richard David Precht und die Fans von Harald Welzer. Und
seit dem schniedelschwingenden Auftritt der beiden Autoren in
besagter ZDF TV-Show werden sich diese Gruppen wohl entleert
haben, bis nur noch jeweils ein Mitglied übrig war und bei Harald
Welzer bin ich mir da nicht so sicher.
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