Jeanine Cummins - American Dirt
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Beschreibung
vor 2 Jahren
Der Sommer neigt sich schon langsam wieder dem Ende zu und das
Studio B Kollektiv ist aus dem Urlaub zurück, den ich für meinen
Teil dazu genutzt habe, endlich eine lang geplante Reise zu
unternehmen. Das Ziel: die Vereinigten Staaten von Amerika. Vor
nunmehr fast drei Jahren entschlossen sich zwei mir sehr lieb
gewonnene Menschen, Deutschland den Rücken zu kehren und ihr
Leben in den USA fortzusetzen. Damit stand für mich schnell fest,
dass ich sie eines Tages dort besuchen würde und so begann ich –
mit den ersten fünf Dollar, die ich als Trinkgeld bekam – meine
Spardose allmählich zu füllen, um mir diesen Traum zu
verwirklichen. Schon längst hätte ich bzw. hätten wir diese Reise
angetreten, wenn nicht äußere Umstände dies immer wieder
verzögert hätten. Doch Anfang August war es endlich soweit und
die Frage nach der Urlaubslektüre war ebenfalls so gesetzt wie
das Reiseziel. Heiko Schramm, auch bekannt als Hesh, geschätzter
Freund und ehemaliges Studio B Mitglied empfahl nicht nur mir,
sondern auch Irmgard Lumpini und Herrn Falschgold, einen Roman
der Autorin Jeanine Cummins und ich dachte mir, was könnte
passender sein, als nach Amerika zu reisen und ein Buch mit dem
Titel American Dirt zu lesen.
Im Jahr 2020 erschien Jeanine Cummins Roman American Dirt sowohl
im englischen Original als auch in deutscher Übersetzung im
Rowohlt Taschenbuch Verlag. Während ich in den Flieger steige und
es mir bequem mache, mir noch einen Schal und eine Strickjacke
aus dem Handgepäck zurecht lege, damit ich während des Fluges
nicht friere und dem Beginn einer komfortablen Reise
entgegenblicke, beginnt für die Protagonisten in Cummins' Roman
ein Albtraum, der ihr Leben komplett verändern und sie ebenfalls
auf eine Art Reise schicken wird, die sich grundlegend von der
meinigen unterscheidet, bis auf die Tatsache, dass unser Ziel das
Selbe ist: Amerika.
Die Reise der Protagonisten Lydia und ihres 8-jährigen Sohnes
Luca beginnt in Acapulco, Mexiko. Unvermittelt befinden sich
Cummins' Leserinnen und Leser in einem Kugelhagel, ausgelöst
durch ein mexikanisches Kartell, dass während eines
Grillnachmittags innerhalb kürzester Zeit Lydias und Lucas
Familie auslöscht, genauer gesagt 16 Angehörige, darunter auch
Lydias Mann Sebastián und ihre Mutter, während sie es schafft,
sich und Luca im Bad vor den Killern zu verstecken und somit ihr
Leben zu retten. Nachdem sich die Mörder zurückgezogen haben und
das ganze Ausmaß des Schreckens deutlich wird, wird Lydia aber
auch schnell bewusst, dass ihr Sohn und sie fliehen müssen, da
sie von der Polizei – die ohnehin korrupt ist – keine Hilfe zu
erwarten haben und das Kartell so lange nach ihnen suchen wird,
bis sie auch sie getötet haben. Während Lydia ihre Flucht
organisiert, weiß sie nicht, wie knapp sie dem Kartell entgeht,
bevor sie sich mit ihrem Sohn Luca auf den Weg nach el norte
macht, wie der Norden im Roman genannt wird.
Wir sind inzwischen im Bundesstaat Washington angekommen, der als
Evergreen State seinem Namen alle Ehre macht und mit seinem
vielen Grün, den Wäldern, den Bergen, aber auch dem Meer ideal
ist, um viel Zeit in der Natur zu verbringen. Auch der kleine
Ort, in dem meine Freunde leben, hat es mir angetan und könnte
mit seiner Beschaulichkeit und seinen kleinen Häuschen glatt
einer amerikanischen Serie entsprungen sein.
Auch Lydias Leben ist einmal beschaulich gewesen. Sie führte
einen kleinen Buchladen in Acapulco durch den sie auch Javier
Crespo Fuentes kennenlernt, mit dem sie sich anfreundet und von
dem sie zunächst nicht weiß, dass er der Chef des Los Jardineros
Kartells ist. Er ist kultiviert und über seine regelmäßigen
Besuche, gemeinsame literarische Vorlieben und Gespräche,
entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden. Problem
ist nur, dass Lydias Mann Sebastián Journalist ist, dessen
Steckenpferd es ist, über Kartelle zu berichten und der eine
große Story über Javier und Los Jardineros zu veröffentlichen
plant. Was er schließlich auch tut und damit eine Reihe von
Ereignissen in Gang setzt, die letztlich dazu führen, dass er
selbst tot in seinem Garten liegt und seine Frau und sein Sohn
auf der Flucht sind.
Im weiteren Verlauf des Romans wird Lydias und Lucas
beschwerliche Reise beschrieben, deren Ziel es ist, dem langen
Arm des Kartells zu entkommen und sich gezwungenermaßen in den
Strom anderer Flüchtlinge einzureihen. Dabei lernen sie die
beiden Schwestern Rebeca und Soledad aus Honduras kennen, die
ihnen auch dabei helfen, die Fahrten auf dem berüchtigten
Todeszug La Bestia – langen Güterzügen, die das Land durchqueren
– zu überstehen. Denn sie sind die einzige Möglichkeit, den
langen Weg von Mexiko in die USA nicht zu Fuß bestreiten zu
müssen. Doch das Aufspringen auf die Züge ist gefährlich und auf
ihnen tummeln sich meist schon viele Migranten. Daher versuchen
sie stets so unauffällig wie möglich zu bleiben, denn jeder
Mitreisende könnte ein Gesandter des Kartells sein, der nach
ihrem Leben trachtet. Und auch die spontanen Einsätze der Polizei
sind ein Faktor, der die Flucht jederzeit in Gefahr bringen und
scheitern lassen kann.
Wir sind mittlerweile in San Diego angekommen und Dank eines
Mietwagens können wir nicht nur problemlos die Stadt und das
dazugehörige Umland, wie die wunderschöne Coronado-Halbinsel
erkunden, sondern finden auch einen höher gelegenen und beliebten
Aussichtspunkt rund um einen alten Leuchtturm, von dem aus man
bei guter Sicht bis nach Mexiko blicken kann. An diesem Tag
herrscht leichter Nebel, doch ich blicke in die Richtung, in der
Mexiko liegt und denke unwillkürlich an das von mir gelesene
American Dirt und bin mir dessen bewusst, dass ich mich gerade an
einem Ort befinde, der das Ziel von vielen ist.
Während des Lesens wird man immer wieder Zeuge unfassbarer Gewalt
und Grausamkeiten die den Migranten, die meist ohnehin schon
traumatisiert sind, angetan werden und die alles über sich
ergehen lassen, wenn sie nur überleben und damit ihrem Ziel – ein
besseres Leben zu führen – etwas näher kommen. Wir lesen aber
auch von Momenten der Nächstenliebe durch beispielsweise
Außenstehende, die den Migranten Wasser und Essen zur Verfügung
stellen und der gegenseitigen Hilfe der Migranten untereinander,
ohne die es vermutlich ein aussichtsloses Unterfangen wäre.
Schließlich führt der unbändige Wunsch, dass alles bisher
Geschehene nicht sinnlos war, das Gefühl seinem Ziel näher und
näher zu kommen und die Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit und
ohne Angst, einen Teil der Menschen, deren Geschichte Jeanine
Cummins erzählt, auf die letzte Etappe einer beschwerlichen
Reise. Es ist der Weg durch die Wüste, den die Migranten mittels
eines Cojoten zurücklegen und der sie all ihre Ersparnisse und
Kraft kostet.
Während wir selbst, auf unserem Weg von San Diego zum Grand
Canyon, in einer 9-stündigen Autofahrt die Wüste und ständig
wechselnde Landschaften durchqueren, muss ich oft an American
Dirt denken. Ich hoffe die ganze Zeit, dass wir mit dem Mietwagen
nicht mitten im Nirgendwo liegen bleiben – obwohl die
Landschaften beeindruckend sind – und gleichfalls hoffe ich, dass
die Klimaanlage nicht ausfällt, denn die Außentemperaturen liegen
wahrscheinlich bei 45 Grad. Ich frage mich, wie es Menschen
möglich ist, solch höllische Torturen auf sich zu nehmen. Frage
mich, wie groß deren Leidensdruck oder deren Angst ist und wie es
der menschliche Körper schaffen kann, solche Strapazen zu
überstehen, was ebenfalls bedeuten muss, dass es Menschen möglich
ist, ein unbändiges Maß an Hoffnung zu empfinden, das sie
weitergehen lässt.
Auch wenn Jeanine Cummins Roman eine fiktive Geschichte ist, ist
es doch sehr real, dass täglich Menschen aus verschiedenen
Ländern flüchten, dass sie Unglaubliches auf sich nehmen und
viele von ihnen dabei sterben oder einfach spurlos verschwinden.
Wie sie selbst in ihrem Nachwort erwähnt, gibt es dazu kaum
belastbare Statistiken. Was Cummins' mit ihrem Roman für mich
schafft ist, dass sie mich als Leserin unvermittelt in ihre
Geschichte zieht, deren Tempo äußerst rasant ist und einem
genauso wenig Zeit gibt zu überlegen, wie der Protagonistin
selbst, die einfach nur handelt, um das Leben ihres Sohnes und
ihr eigenes zu retten. Bis dato hatte Lydia kein schlechtes Leben
geführt, im Gegenteil, und nun zeigt uns Cummins, auch anhand der
vielen anderen Figuren in ihrem Roman, wie unterschiedlich die
Beweggründe sein können, dass Menschen sich solcher Gefahren
aussetzen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Damit nehmen
wir sie nicht nur als gesichtslose Masse von Migranten wahr,
sondern bekommen die Möglichkeit, unsere eigenen Ressentiments zu
erkennen, zu überdenken und in ihnen die Individuen zu sehen, die
sie sind. In meinem Fall ist Jeanine Cummins das sehr wohl
gelungen und für mich besticht ihr Roman neben allem Schrecken
auch durch sein Mitgefühl und den Wunsch, den Menschen gerecht zu
werden und stellvertretend für die zu stehen, die ihre Geschichte
nicht selbst erzählen können. Eine Reise geht zu Ende. Für mich
war es eine wunderbare Reise, auf der ich so viel Schönes erleben
und entdecken konnte, auch deshalb, weil ich den richtigen Pass
und das nötige Kleingeld hatte. Auf der mir aber auch die
Schattenseiten des Landes, der unbegrenzten Möglichkeiten nicht
entgangen sind. Für Lydia und Luca endet eine Tortur, aber
zumindest lässt uns Jeanine Cummins hoffen, dass sie nun ein
friedlicheres Leben führen können.
In der nächsten Woche erfahren wir, wie es Irmgard Lumpini mit
der Lektüre von American Dirt ergangen ist.
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