Margarete Beutler: Ich träumte, ich hätte einen Wetterhahn geheiratet
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Beschreibung
vor 2 Jahren
Wie viel in der Zeit verloren ging. Vergangene Welten zeigen sich
in Musik, die erhalten blieb, in Museen oder in Zeichnungen in
Höhlen, oder in durch Vulkanausbrüchen konservierten Orten. Und
in Manuskripten und schriftlichen Zeugnissen. Durch Sehen, Hören,
Lesen erschließen sich Welten, aber wieviel mehr ist für immer
verschwunden? Wir bewundern Gemälde der Renaissance, können aber
nicht wissen, ob unsere Bewunderung dem Mittelmaß gilt, weil wir
nicht wissen können, was verschwunden ist. Dazu ist unsere Zeit
begrenzt, und wir können nur vermuten, ob das, was wir erfahren,
lernen, entdecken uns anderes gar nicht nicht erkennen lässt,
weil es nicht mehr existiert und die Erinnerung daran ausgelöscht
ist. Manuskripte und Bibliotheken verbrannten oder wurden
verbrannt, Tonaufnahmen begannen erst vor 160 Jahren,
fotografische Verfahren sind, zumindest nicht nur für Einzelne
verfügbar, noch jünger. Durch wirtschaftliche und politische
Interessen getragene Entscheidungen über Publikationen zeigen nur
einen minimalen Ausschnitt der untergegangenen Welt.
Der AVIVA-Verlag hat einen Band mit Erzählungen von Margarete
Beutler veröffentlicht, der den wundersamen Titel “Ich träumte,
ich hätte einen Wetterhahn geheiratet” trägt.
Es ist fast 90 Jahre her, dass Margarete Beutler etwas
veröffentlichte. Zwischen 1897 und 1933 erschienen zahlreiche in
Zeitschriften abgedruckte Gedichte und Erzählungen, 3
Gedichtbände, 1 Versdrama sowie einige Übersetzungen von
Baudelaire, Marot und Molière.
Dem Band in schöner Aufmachung ist eine Zusammenfassung ihrer
faszinierenden Biographie und die gleichsam zufällige Entdeckung
ihres literarischen Nachlasses vorangestellt.
Margarete Beutler wurde 1876 als 2. Tochter des Bürgermeisters
eines kleinen Ortes in Pommern geboren und zu den Großeltern
gegeben, weil man sich einen männlichen Stammhalter gewünscht
hatte. Dort blieb sie die ersten 14 Jahre bis zum Tod der
Großmutter, dann wurde sie von ihren Eltern nach Berlin geholt,
wohin diese zwischenzeitlich mit ihren Geschwistern gezogen
waren. In Berlin besuchte sie das sogenannte Lehrerinnenseminar,
dass ihr höhere Bildung und Zugang zu Verdienstmöglichkeiten und
damit finanzieller Unabhängigkeit ermöglichte.
Ihre erste literarische Arbeit wurde 1897 in der satirischen
Zeitschrift “Simplicissimus” veröffentlicht und erweckte beim
damals noch unbekannten Thomas Mann Interesse, der sie um weitere
Arbeiten bat. Sie trat in Cabarets, Clubs und Kaffeehäusern mit
Lesungen ihrer Gedichte auf und lernte viele Künstlerinnen und
Künstler wie Else Laske-Schüler, Peter Hille oder auch den sie
“glühend liebenden” Erich Mühsam kennen, dessen 1903
veröffentlichte Skizze “Grete” den Erzählungen vorangestellt ist.
Im Jahre 1900 gebar sie ihren ersten Sohn, dessen Vater sie nie
preisgab. 1902 zog sie nach München, wo sie als Redakteurin
arbeitete. In diesem Jahr wurde ihr erster Gedichtband mit
naturalistisch geprägter Lyrik veröffentlicht.
1905 zog sie in das Malerdorf Etzenhausen bei Dachau, wo sie
Christian Morgenstern kennenlernte und sich in den Schriftsteller
Kurt Franz Georg Friedrich verliebte, den sie heiratete, nachdem
sie einen weiteren Sohn bekommen hatte. 1911 erschien ihr
Gedichtband “Leb’ wohl Bohème”, der ihr letzter veröffentlichter
Band sein sollte. Der Titel suggeriert, dass sie versuchte, die
Bohème zu verlassen und ein bürgerliches geregeltes Leben zu
führen. Nach 1913 zog sich Margarete Beutler fast vollständig als
Autorin zurück, arbeitete aber weiter als Redakteurin und
Lektorin. Ihre Ehe scheiterte 1925, geschieden wurde sie 1939.
Zwischen 1930 und ‘33 erschienen lediglich 2 Erzählungen im
Simplicissimus.
Der Herausgeber des heute besprochenen Buches Winfried Siebert,
der die den Erzählungen im Band vorangestellte biographische
Zusammenstellung schrieb vermutet, dass wahrscheinlich sowohl
ihre prinzipielle Ablehnung des Nationalsozialismus als auch die
Ermordung Erich Mühsams 1934 im KZ Oranienburg zu den Gründen
gehören, warum Beutler der Reichsschrifttumskammer nicht beitrat
und deshalb nicht mehr publizieren konnte. 1949 starb sie durch
Herzversagen.
1985 entdeckte ein Enkel bei einem Rundgang vorm Verkauf des
Hauses seiner Eltern “2 große, verstaubte und von Spinnweben
überzogene Kartons in einer hinteren Ecke.” Es handelte sich um
den literarischen Nachlass Margarete Beutlers: über 200 Gedichte,
mehr als 50 Erzählungen, ein großangelegtes Romanfragment, sieben
komplette Theaterstücke, ein vollständiges Opernlibretto,
zahlreiche Briefe und Rezensionen.
Im Vorwort beschreibt der Herausgeber Winfried Siebert von der
“unvorhergesehenen Koinzidenz von Glück und Zufall, dass ein Teil
dieses Nachlasses gut 70 Jahre nach dem Tod der Schriftstellerin
der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann.”
Den ersten Teil des hier vorgestellten Werkes von Margarete
Beutler bilden 13 erstmals veröffentlichten Erzählungen, in denen
sie ihre frühen Jahre bei ihrer Großmutter literarisch
verarbeitet. Es sind verstörende Betrachtungen über ihre Kindheit
in einem eigenwilligen, besonderen Stil, der sich an die
persönliche Entwicklung anpasst und die Werdung des “ich” vom
“es” nachzeichnet: Es handelt sich um Beschreibungen ihrer Welt,
die sie sich selbst erklären muss und dabei zu erschreckenden,
manchmal auch komischen Überzeugungen gelangt, weil eine
Erklärung der Erwachsenen nicht erfolgt. Nicht, dass sie es nicht
versuchen würde. “Nun höre endlich mit der Fragerei auf. Das ist
ja grässlich.”, wird ihr verkündet. Wiederkehrend ist Margarete
Beutlers Erkenntnis ihres Nichtverstehens: “Warum das so ist,
weiß man nicht.” Ihr eigenes Spiegelbild entdeckt sie, während
sie bei ihrer Puppe versucht herauszufinden, warum diese klappert
und ihr dabei die Augen hereindrückt. Die Zerstörung der Puppe
hält sie zunächst geheim. Es gibt die Figur der bösen Tante
Helene, die Margarete körperlich züchtigt, wie man es damals
ausdrückte, also schlug und quälte. Und Margarete entdeckt “Das
absolute Böse” in Gestalt eines ausgestopften Hasen. Die
Beschreibung ihrer Welt und der Versuch des Begreifens zeichnen
das Bild einer Gesellschaft, die wenig Fragen stellt. Manchmal
ist das auch lustig, bis einem das Lachen im Halse stecken bleibt
und man wieder Strafen für die kleine Margarete fürchtet.
Exemplarisch steht hierfür ihr erster Kirchenbesuch, und eine
Vielzahl von Vorschriften, die sie nicht versteht.
Überhaupt ist ihr Unverständnis groß. So weiß sie nicht, was
“meine Mutter” bedeutet, sie fragt ihre Großmutter, die verweist
auf “Wenn du einmal größer bist.” Und Margarete weiß bereits
“Aber es dauert sehr lange, bis man größer wird, Bis man so groß
wird, dass die großen Leute nicht größer sind.”, und sie fragt: “
Mutter! Wie ist das? Wo ist das? Wozu ist das?”
Neben der Entdeckung des “Ich” sind die Erzählungen über die
Kindheit durch das Erlernen der Scham geprägt. “Es gibt uralte
Mauern, vor denen kleine Mädchen sich ratlos und verwirrt mit
nassen Hosen den Bauch vergeblich verrenken.”
Einen Brand in der Stadt beschreibt sie so: “Da ist es wunderbar
schön. Da ist die Luft voller blinkender Blumen und Sterne.
Manche sind wie lange Ähren, die im Bogen am Himmel
entlangrutschen, manche wie runde Teller, die plötzlich nach
allen Seiten auseinanderspringen. Goldene Äpfel sind dabei, die
in der Luft zerplatzen, und große gelbe Salatköpfe, die feurige
Blätter zur Erde fallen lassen. Es stinkt aber sehr, ähnlich wie
in der dunklen Besenkammer. Man muss husten. Ich meine aber, ich
habe noch nie etwas so Herrliches gesehen.” Zitatende.
Die Welt, die Margarete entdeckt, ist ansonsten keine besonders
schöne.
Die späteren Erzählungen Margarete Beutlers zeigen ihr
Experimentieren mit Dialekten, verschiedenen Stilen, überspitzte
und groteske Darstellungen, ihre Auseinandersetzung mit der Welt.
Einer Bekannten, die ungewollt schwanger ist und von ihr Hilfe
bei einer Abtreibung erbittet, gibt sie eine für uns
überraschende Antwort. Sie beschreibt ihre Liebe zur Natur und
einen Orgasmus, den sie sich in der freien Luft schenkt und für
den sie nicht nur ihren Körper und ihre Empfindsamkeit, sondern
auch Bruder Sonne verantwortlich macht.
Es gibt sehr zugespitzte Fiktionen, wenn sich ihre “Freundin
Ludmilla” überlegt, dass man mit der Idee, reichen Männern, die
nur ihre Ruhe haben wollen, fiktive Reisen verkauft, die sie in
aller Bequemlichkeit alleine verbringen ohne das Land zu
verlassen reich werden kann oder in einer weiteren Geschichte
“Die Ehescheidungsschule” betreibt.
Zu einigen Geschichten, Überzeugungen und stilistischen Übungen
fällt der Zugang leicht, zu einigen schwerer, aber: ich möchte
“Ich träumte, ich hätte einen Wetterhahn” mit Erzählungen von
Margarete Beutler empfehlen.
Es verabschiedet sich Irmgard Lumpini, den Link zum Buch findet
Ihr auf unserer Website lobundverriss.substack.com. In der
nächsten Woche besprechen wir die Bücher der letzten Wochen
gemeinsam. Wie immer könnt ihr gerne auf
https://lobundverriss.substack.com/ schmökern!
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