T.C. Boyle - América

T.C. Boyle - América

7 Minuten
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Beschreibung

vor 2 Jahren

Der Mensch hat eine Neigung dazu sich abgrenzen zu wollen. Vor
allem gegen Dinge die ihm zuwider sind, weil sie beispielsweise
seinen Besitz oder einfach seinen Komfortbereich bedrohen. Ein
probates Mittel dafür scheint das Errichten einer Mauer zu sein.
Dass gerade wir Deutschen uns mit diesem Thema auskennen muss
nicht betont werden, dass wir dieses Jahr das 30jährige Jubiläum
des Mauerfalls feiern können dagegen schon. Stellt sich nur noch
die Frage was das alles mit T.C. Boyles 1995 erschienenen Roman
América , oder im Original The Tortilla Curtain zu tun hat.


Schauplatz der Handlung ist das Los Angeles der 90er Jahre in
denen Boyle zwei Familien agieren lässt, die unterschiedlicher
kaum sein könnten. Auf der einen Seite finden wir Delaney und
Kyra Mossbacher mit Sohn Jordan, deren Leben sich in der schicken
und den Wohlhabenden vorbehaltenen Wohngegend von Arroyo Blanco
Estates abspielt, die auch namensgebend für das erste Kapitel des
Buches ist. Das Familienleben gestaltet sich jedoch nicht nach
den klassischen Rollenbildern, denn Kyra ist erfolgreiche
Immobilienmaklerin und die Beste auf ihrem Gebiet, was lange
Arbeitszeiten und hohen Aufwand inkludiert. Delaney hingegen, der
ein großer Naturfreund ist, kann sich, auch aufgrund eines Erbes,
den Luxus gönnen seinem Beruf als Journalist insofern
nachzukommen, als dass er eine monatliche Kolumne in einer
Naturzeitschrift veröffentlicht. Ansonsten kümmert er sich um den
Haushalt und seinen Stiefsohn.


Auf der anderen Seite siedelt Boyle den Mexikaner Cándido Rincón
und dessen Partnerin América an. Sie sind illegale, mexikanische
Einwanderer die, wie so viele, versuchen in den USA Arbeit zu
finden, um sich endlich ihren Traum von einem eigenen kleinen
Häuschen und einem besseren Leben erfüllen zu können. Da ihr Geld
momentan jedoch nicht einmal für eine kleine Wohnung reicht,
kampieren sie in einem Canyon, der sich noch dazu unweit des
Wohnviertels Arroyo Blanco befindet. Erschwerend hinzu kommt die
Tatsache, dass América schwanger ist.


Das erste und entscheidende Aufeinandertreffen der Protagonisten,
sofern man es denn so nennen kann, findet statt, als Cándido von
Delaney auf einer viel befahrenen Straße angefahren und verletzt
wird. Der ausschließlich spanisch sprechende Cándido gibt zu
verstehen, dass er weder Krankenwagen noch andere Hilfe möchte
und so lässt Delaney ihn, nachdem er ihm 20 Dollar gegeben hat,
zurück. Der Unfall bildet den Ausgangspunkt für die Geschichte,
die sich in drei Kapiteln entfaltet, wobei sich die
Erzählperspektiven innerhalb der Kapitel abwechseln.


Einige zentrale Themen tauchen dabei immer wieder auf, haben
aber, je nach Lebenssituation, völlig unterschiedliche
Bedeutungen. Da wäre beispielsweise die Natur. Für die beiden
Mexikaner Cándido und América, die sich täglich, so wie viele
andere Mexikaner auch, bei einer Arbeitsvermittlung anstellen, um
wenigstens für einen Tag Arbeit zu bekommen und sich etwas Geld
zu verdienen, ist die Natur ihre Unterkunft. Ihre finanziellen
Mittel reichen nicht aus, sich eine Wohnung zu mieten, weshalb
ihnen nichts anderes übrig bleibt, als unter freiem Himmel zu
kampieren. Es ist ihr Zufluchtsort, weil sie nirgendwo anders hin
können. Für Delaney hingegen verkörpert die Natur Schönheit und
Erholung. Er liebt seine Ausflüge und Beobachtungen, die ja auch
Teil seines Jobs sind und verklärt die Natur regelrecht. Und es
widert ihn an, dass Menschen wie Cándido und América in seinem
geliebten Canyon hausen und ihren Unrat und Exkremente
hinterlassen.


Ein weiteres zentrales Motiv im Roman ist der Kojote. Wegen des
Angriffs eines Kojoten lassen sich die Mossbachers einen Zaun um
ihr Grundstück errichten und Delaney versucht seine Nachbarn zu
warnen, dass sie die Kojoten nicht füttern sollen, um sie nicht
anzulocken. Auch in seinen Artikeln für seine Fachzeitschrift
befasst er sich mit dem Kojoten als eingeschleppte Art, in dem er
ihn als gerissen, aber auch als angepasst darstellt. Er hat
seinen Lebensraum erweitert und Delaney sieht das Problem vor
allem bei den Menschen, die den Kojoten mit Küchenabfällen und
anderen kleinen Leckerbissen am Rande ihres Rasens füttern und
ihn somit anlocken, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass er
immer wieder in dieses Revier zurückkehrt und sich auch geliebte
Haustiere reißt. Das Motiv Kojote ist aber auch deshalb so
wichtig und zieht sich durch den gesamten Roman, weil er eine
Metapher für die Mexikaner ist. Auch sie durchstreifen
beispielsweise die Gärten auf der Suche nach Essbarem und auch
sie verlassen ihr Land, auf der Suche nach einem besseren Leben
und versuchen sich entsprechend anzupassen, um hier nur einige
Beispiele zu nennen.


Auffällig ist, dass sich die Protagonisten fast ausschließlich in
einem Umfeld bewegen, dass den Mexikanern gegenüber negativ
eingestellt ist. So wollen die Bewohner von Arroyo Blanco eine
Mauer um ihr Viertel bauen, damit sie sich sicherer fühlen können
undzwar nicht nur wegen der Kojoten. Sie sind sich aber
keineswegs zu schade, die günstige Arbeitskraft der Mexikaner zu
nutzen, um sich von ihnen diese Mauer errichten zu lassen. Aber
auch die Mexikaner untereinander sind sich feindselig gegenüber
eingestellt. Sie gönnen sich nichts, sondern berauben und
verprügeln sich gegenseitig, um ihr jeweils eigenes Überleben zu
sichern. Und das ist noch nicht einmal das Schlimmste. Einzig
Delaney scheint, zumindest was ihn und die Menschen aus seinem
Wohnviertel angeht, einen inneren Konflikt zu führen und versucht
auch, zumindest bis zu einem gewissen Punkt, für die Mexikaner
Partei zu ergreifen. Letztlich schreibt er aber einen Artikel
über den Kojoten, der die ganze Problematik sehr gut
zusammenfasst und mit folgenden Worten endet:


„Die Coyoten jedenfalls sind auf dem Vormarsch, sie vermehren
sich, um die Nischen zu füllen, siedeln sich dort an, wo das
Leben am leichtesten ist. Sie sind gerissen, scharfsinnig,
hungrig und nicht aufzuhalten.“


Nichtsdestotrotz sind aber die Wünsche und Vorstellungen der
beiden Protagonistenpaare doch sehr ähnlich und es ist regelrecht
tragisch zu sehen, wie Cándido und América immer wieder scheitern
und Rückschläge erleiden müssen.


Boyles Werk ist geprägt von Themen wie Armut und Natur bzw.
Umweltzerstörung, aber auch Ausländerfeindlichkeit, Ausgrenzung
und damit verbundene Ängste, weshalb sich auch beim Lesen viele
ambivalente Gefühle einstellen. Dennoch konnte ich mich auch in
die teilweise sehr unterschiedlichen Gefühlswelten der
Protagonisten eindenken. Womit Boyle einmal mehr verdeutlicht,
dass es viele Themen gibt, die eben nicht nur schwarz oder weiß
gesehen werden können.


Der Tortilla Vorhang, wie der Titel des Romans eins zu eins
übersetzt heißen würde, meint umgangssprachlich eine durchlässige
Grenze zwischen Amerika und Mexiko. Und wie war das noch gleich
mit der Mauer, die da im Roman errichtet wird? An dieser Stelle
möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass Boyles Werk bereits
1995 veröffentlicht wurde. Was wohl zeigt, dass manche Themen
immer wert sind diskutiert zu werden und América auch heute an
Aktualität nicht verloren hat, weshalb es meine unbedingte
Leseempfehlung erhält.


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