Sven Regener: Glitterschnitter
10 Minuten
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Beschreibung
vor 2 Jahren
Here's a pickup line: Statt in dieser trostlosen Spelunke zu
dieser trostlosen Stunde - oh Gott, ein Reim, egal - wo und wann
würdest Du lieber leben?
Wer sagt, dass er im hier und jetzt eigentlich ganz zufrieden
sei, wird damit klar kommen müssen, dass ich mich unentschuldigt
von ihm abwende und zur Nächsten gehe. Aber da er sich ja
eigentlich ganz wohl fühlt, wird ihm das eigentlich nichts
ausmachen.
Wenn die nächstgefragte Dame von der 19. Jahrhundertwende in
England träumt, ist das eine Chance, endlich mal von jemandem,
der sich auskennt erklärt zu bekommen, what the f**k Jane Austen
soll, aber in Anbetracht der Tatsache, dass die Kinder-, Frauen-
und Männersterblichkeit in allen Gesellschaftsschichten um 1800
herum wirklich unsportlich war, vermute ich einen verstellten
Blick auf die eigene Realität und bedanke mich für's Gespräch.
Der Dude da, der da gerade zu "Monarchie und Alltag" wippt, wer
hat denn die Fehlfarben aufgelegt?!, Du GEILES BIEST, der isses,
denn der Mann weiß, welches die beste deutschsprachige
Langspielplatte aller Zeiten ist und wo sie produziert wurde: In
West-Berlin 1980 - denkt er - und liegt damit falsch, aber er ist
auch erst 20. Und doch ein alter weiser Mann, denn er kann das
ganze Ding auswendig.
Aber close enough für mich, denn seit dem ich am 10. November 89
in die Mauerstadt einritt, um mich von den aus dem gemütlichen
Frontstadt-Dasein herausgerissenen Umständen - für viel zu kurze
Zeit - persönlich zu überzeugen: es waren keine Geister, ist für
mich die Antwort auf die Eingangsfrage einfach: Berlin, West,
1980.
Viel wurde seitdem erzählt von Zeit und Ort, in Film, Funk &
Fernsehen oder aufgeschrieben, auf dass die Verklärung ihren Lauf
nähme. "B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979-1989" aus
dem Jahr 2015 ist zu nennen und zu empfehlen, mit einem erst
heute möglichen digitalen Mix, der den Protagonisten perfekt in
alte, semiprivate Videokameraaufnahmen mit Bowie und Bargeld
schneidet. Wer noch näher an die Realität möchte, findet auf
Youtube eine Dokumentation, die ausgerechnet Radio Bremen mit dem
Titel "Endstation Schlesien - Eine Reise mit der Berliner U-Bahn
Linie 1" 1986 produzierte. 75 Minuten lang darf der Praktikant
relativ unmotiviert die Kamera auf alles halten, was in und neben
den gelben Wagen kraucht, es ist ein Fest!
Aus der gleichen Stadt wie die ARD-Anstalt kamen 1980 Protagonist
wie Autor von "Glitterschnitter", Frank Lehmann respektive Sven
Regener, in die Stadt, womit das Buch nicht zwangsläufig
autobiographisch ist, denn das Leben schreibt keine guten
Dialoge, Regener aber schon.
Wir werden in die Frühschicht einer der klassischen Kiezkneipen
geworfen, die Unbeleckte und Phantasielose in der Verfilmung von
Regeners Erstling "Herr Lehmann" mit Christian Ulmen visuell
beispielhaft gezeigt bekamen. Der Herr heißt hier noch Frank und
will von diversen Akteuren "Frankie" genannt werden, denn, wie
ein Protagonist später am Beispiel eines anderen ausführt,
sollten alle Vornamen am besten zwei Silben haben. "Heinz-Rüdiger
ist nicht gut, das hat vier Silben,vier Silben ist zwar immer
noch besser als drei, aber nicht so gut wie zwei". Ok.
Frank Lehmann, und auf gar keinen f*****g Fall "Frankie", macht
eigentlich die Putze im "Einfall", aber da die Frühschicht,
Connie aus Stuttgart, mit ihrer Mutter bei IKEA ist, schäumt er
halt den Milchkaffee auf. "Der eigentlich Melange heißt!"
unterhalten sich P. Immel und Kackie, gebürtige Wiener, bevor
Erwin, der Besitzer kommt und einen Pfefferminztee nimmt. P.Immel
und Kackie müssen jetzt zurück in ihre Galerie, die ArschArt,
denn dort ist gleich Plenum. Bei IKEA in Spandau fotografiert
währenddessen der Künstler H.R. Ledigt die Musterwohnung und
plant daraus eine Installation zu machen und Connie, die
Frühschicht, fragt sich, warum Sie aus Stuttgart nach West-Berlin
gezogen ist, wenn ihre Mutter ihren verfickten Urlaub jetzt hier
verbringt, bei ihrem neuen Stecher Wiemer, der wiederum H.R.
Ledigts Künstleragent ist. Naja oder halt sowas ähnliches.
Danke fürs Lesen! Trage Dich hier ein und bekomme alle Episoden
per Email zugeschickt.
Zu diesem Zeitpunkt ist gefühlt ein fünftel des Buch rum, in
Wahrheit nur vierzig Seiten. Alle gefühlt vierzig handelnden
Personen haben etwas zu tun, nur was, wissen sie selten genau. Es
wurde viel geredet und passiert ist nichts. Wir fühlen uns sehr
wohl. Aber warum?
Es ist nicht nur die Stimme Sven Regeners, denn, das versteht
sich von selbst, das ist kein Lesebuch, das ist ein Hörbuch.
Regener ist wie alles in Berlin zugereist und das ist gut, denn
niemand erträgt wirklich Berliner urgewachsene, "Vastehen se, wa,
wa?" Mario-Barth-Fotzen. Berlin ist gut und schön, aber bitte auf
Nicht-Berliner Hochdeutsch und niemand kommt dem Ideal so nahe
wie Sven Regener. (Man braucht ein paar Minuten um in das gut
geschnittene Geschnaufe des Audiobuches reinzukommen, aber es
wächst einem zu).
Es ist vor allem die unnostalgische Erzählung aus dem letzten,
oder fairerweise vorletzten, Jahrzehnt, bevor wir alle unseren
Verstand an das Internet verloren, die die Leserin und den
Zuhörenden sehr entspannt. Alle hatten irgendwas zu tun,
irgendwie geradeso genug Geld oder zumindest Bier und Kuchen und
zu allem eine Meinung. Natürlich ist das "Cafe Einfall" und das
nebenliegende "Intimfrisur", dessen Umgestaltung in das "Cafehaus
an der Wien" ein zentraler Handlungsstrang ist, nur ein
Schlaglicht auf eine Zeit, in der ich gern gelebt hätte. Und man
kann ja nicht den ganzen Tag in Kneipen verbringen, auch wenn die
Protagonisten das zu widerlegen suchen. Aber man kann den ganzen
Tag "verbringen", im Gegensatz zum anstrengenden "Leben", dass im
Sinne der Profitmaximierung zu "führen" irgendwann in den
Neunzigern die vereinigte Monstranz von Internet, TV-Werbung und
Mainstreampresse begann uns zu verordnen. Ich bin da stolz gesagt
noch gut dran, kinderlos und ausreichend versorgt, aber auch ich
habe einen Google Calendar und wenn der leer ist frage ich mich,
warum das nicht immer so ist. Wenn ich ihn dann leer räume, habe
ich ein paar Tage Urlaub vom Kalender, und dann ist er wieder
voll.
Im Cafe Einfall gibt es einen feststehenden Termin, das
Wochenende an dem das Wall City Noise Kunstfestival statt findet
und dort teilzunehmen ist verschiedenen Haupt- und Nebenhelden
recht wichtig. Das wars. Ein Termin.
Rundrum gibt's natürlich eine Menge zu tun. H.R. Ledigt muss ein
Bild malen und hat keine Lust drauf. Viel lieber will er die
IKEA-Musterwohnung nachbauen, das ist Kunst! Glitterschnitter,
die buchtitelgebende Band, muss eine Aufnahme neu mischen, denn
die Bohrmaschine ist zu laut. P. Immel, gebürtiger Wiener, muss
gegen die Piefkes bestehen, die weder Kaffee kochen können, noch
richtig Kuchen backen, und abschieben wollten sie ihn auch schon
mal, zurück nach Österreich, dachte er, war natürlich Quatsch,
aber so ein Vorurteil hilft ja ganz gut, wenn man im Plenum der
Exilösterreicher Stimmung gegen die Deutschen machen muss um die
brüchige Autorität zu wahren. Außerdem hat P.Immel Ärger mit den
Punks, die das Hinterhaus besetzt haben. Hoffentlich bekommen die
nicht raus, dass ihm das ganze Haus gehört, da ist die street
credibility schnell weg.
So geht das das ganze Buch hinweg, es passiert nichts, es ist
eine 500-Seiten Seinfeldepisode in Westberlin. Das reibt sicher
bei einigen Lesern den Nostalgienippel, ist aber vordergründig
nur "L'art pour l'art" über eine Zeit in der man das Leben noch
"La vie pour la vie" leben konnte. In einer Zeit, in der der
Gastronom nicht gehadert hat, dass das Personal so teuer ist und
man stattdessen eine Kneipe knapp über der Profitgrenze betrieb,
damit die Freunde einen Platz zum Trinken haben und die, die was
zu tun brauchen, was zu tun haben. Wo ein Künstler seinem Agenten
noch einen Vortrag halten konnte, dass es keinen Sinn mache,
einem Künstler zu sagen, was er machen solle, damit er
"anerkannt" werde, denn dann wäre er ja kein Künstler mehr; das
macht ja alles keinen Sinn!
"Glitterschnitter" mäandert in solcherlei Thematik und liefert
pro Seite mindestens einen unprätentiösen, zitierbaren Spruch, so
gut ist Sven Regener im Dialogisieren und weise tun. Es ist
natürlich alles nur Schmarn und die Einführung der gesammelten
Bande zugewanderter Wiener um P.Immel und Kacki aus der
ArschArt-Galerie in die Handlung lässt die Nachtigall trapsen
hören; hier hat doch einer kürzlich den Thomas Bernhard
wiederentdeckt und channelt ihn perfekt.
Ich habe mir den Sven Bernhardt in einer gesundheitlich nicht
schweren aber durch die erzwungene Entschleunigung lehrreichen
Coronaquarantäne angehört und bin trotz der demonstrativen
Sinnverweigerung von "Glitterschnitter" weiser, oder für komplett
Internetverblödete, "more mindful" als vorher. Auf Deutsch: ich
hab ein paar Ideen bekommen! So kann es einem auch im
stromlinienförmigsten Endzeitkapitalismus niemand verwehren, zu
allen Tages- und Nachtzeiten in öffentlich betriebenen
Etablissements abzuhängen, und sei es zeitgemäß mit dem Notebook.
Ich werde das mal testen, auf die Gefahr hin, dass ich mich dort
unterhalten muss oder aussehe wie ein dummer dot-com Hipster.
(Sagt man noch dot-com?!) Und Smalltalk lernen in meinem Alter
kann gefährlich sein, aber wenn man schon nicht zeitreisen kann,
kann man die Zeit reminiszieren, bei einer Melange und einer
Sachertorte oder am Ende auch schon einem Bier.
Allein für diesem Gedankenblitz leistet Sven Regener mit seinem
ganz hervorragenden und höchst inspirierenden Buch
"Glitterschnitter" nicht nur einen Beitrag zur geistigen
Gesundheit der Deutschen Leserschaft, sondern sollte auch einen
dicken goldenen Orden vom Deutschen Hotel- und Gaststättenverband
erhalten. Für die most funny Beschreibung eines Soundchecks und
die resultierende Lust, mal wieder ein kleines dummes Punkkonzert
zu besuchen, gibt es die Ehrenspange des Verein zur Pflege der
Live-Musik e.V. obendrauf und Ehrenmitglied der Académie
française sollte Sven Regener eh schon sein, weil er seit Jahren
den Deutschen mit den Platten von Element of Crime das
französische Chanson untergeschoben hat, ohne dass sie das
gemerkt hätten und wenn das nicht gilt, dann ist er jetzt
Mitglied für den seitenlangen Dialog über die Aussprache von Art
Brut irgendwo im Buch. So könnte die Ehrenhudelei ein paar Seiten
weitergehen, Orden Galore vom Verein zur Förderung des
Zigarettenrauchens, der Feministisch-Anarchistischen Aktion und
dem Komitee zur Verhängung des Verbotes des Saxophonspiels - für
jeden der ein bisschen 80er-affin ist, gibt es endlose
Reminiszenzen an Sachen, die wir alle getan, gelassen, gehasst
oder bewundert (
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