Tove Ditlevsen: Gesichter

Tove Ditlevsen: Gesichter

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Beschreibung

vor 2 Jahren

Anfang des letzten Jahres wurde Tove Ditlevsens wiederentdeckte
Kopenhagen-Trilogie, in der sie autofiktional ihre Kindheit und
Jugend im Kopenhagen der 1920er Jahre beschreibt, und die in
Dänemark bereits 1967 erstmals erschien, auch endlich auf deutsch
veröffentlicht und nicht nur von mir bewundernd aufgenommen und
besprochen. Die in Kopenhagen geborene Autorin, die bereits von
1917 bis 1976 lebte und lange nicht in die literarischen Kreise
ihrer Zeit gepasst haben soll, erlebt seit der Neuauflage ihrer
Romane einen posthumen Erfolg für ihre Werke, der ihr auch schon
zu Lebzeiten zugestanden hätte und durch den sie nun als
Vordenkerin vieler anderer, großer Autorinnen und Autoren
gefeiert wird.


Ein Jahr nach der Veröffentlichung der ersten beiden Bände ihrer
Kopenhagen-Trilogie erschien im Jahr 1968 der Roman Gesichter im
dänischen Original, welcher erst kürzlich nun endlich auch in
deutscher Ausgabe durch den Aufbau Verlag veröffentlicht wurde.
Der Roman mutet zunächst jedoch weniger biographisch an als die
vorangegangenen, wenngleich Parallelen zum Leben der Autorin
immer wieder wie Fährten gelegt werden, die man beim Lesen
verfolgt und die damit auch eine wichtige Rolle zum Verständnis
des Werks und seiner Autorin beitragen.


Schauplatz des Romans ist über weite Teile eine Klinik, in die
die Protagonistin Lise Mundus zu Beginn des fünften von insgesamt
16 Kapiteln gebracht wird, nachdem sie eine größere Menge
Schlaftabletten zu sich genommen und dann ihren Arzt angerufen
und darüber informiert hat, dass sie nicht sterben möchte. Vorher
jedoch lebt Lise zusammen mit ihrem Mann Gert sowie ihren Kindern
Hanne, Mogens und Søren ein komfortables Leben, welches vor allem
Lises schriftstellerischem Erfolg als Kinderbuchautorin zu
verdanken ist, der wenige Jahre zuvor durch den Kinderbuchpreis
der dänischen Akademie einen Höhepunkt erreicht hat. Eine Folge
dieser Berühmtheit ist auch die Hausangestellte Gitte, die sich
nicht nur um die Kinder und den Haushalt kümmert, so dass Lise in
Ruhe schreiben kann, sondern auch um Lises Mann, der ohnehin ein
notorischer Fremdgänger zu sein scheint, sich von Lises Erfolg
zurückgesetzt fühlt und daher gern mit seinen Eroberungen prahlt.


Diese Ehekrise wird von einem fast noch größeren Problem
überschattet, nämlich der Tatsache, dass Lise seit ihrem Erfolg
vor zwei Jahren eine Schreibhemmung entwickelt hat. Dies ist für
sie persönlich umso tragischer, da sie das Schreiben und die
Möglichkeit sich dadurch auszudrücken, als ihr einziges Talent
empfindet. Überhaupt kann sie ihren Erfolg aber nur schwer
nachvollziehen:


„[...]nachdem sie vor zwei Jahren den Kinderbuchpreis der
dänischen Akademie für ein Buch erhalten hatte, das sie selbst
nicht für besser oder schlechter hielt als ihre übrigen. Bis auf
einen weitgehend unbeachteten Gedichtband hatte sie nie etwas
anderes geschrieben als Kinderbücher. Auf den Damenseiten der
Zeitungen waren sie anständig besprochen worden, hatten sich auch
anständig verkauft und waren auf beruhigende Weise von jener Welt
übersehen worden, die sich mit der Erwachsenenliteratur
beschäftigte. Ihre Berühmtheit hatte brutal jenen Schleier
weggerissen, der sie immer von der Wirklichkeit getrennt hatte.“
(S.9)


Eine Passage die nicht nur auf die mangelnde Anerkennung
anspielt, die Tove Ditlevsen selbst erleben musste, sondern auch
auf eine elitäre Kritik generell, in der Literatur auf so
genannten Damenseiten besprochen wurde, da sie einem höheren,
literarischen Anspruch nicht zu genügen schien. Fast überflüssig
zu erwähnen, dass die Jury der dänischen Akademie hauptsächlich
von männlichen, sogenannten Modernisten besetzt wurde.


Sich in dieser beklemmenden Situation befindent, entgleitet Lise
Mundus allmählich ihr Alltag und mit ihm ihre Wahrnehmung.
Während sie nachts Schlaftabletten braucht, um einschlafen zu
können, hört sie tagsüber Stimmen in den Wasserrohren, die aus
den anliegenden Wohnungen zu kommen scheinen. Auch als Lesende
ist man zunächst noch unsicher, was ihrer Einbildung entspringt
und was tatsächlich passiert. Tove Ditlevsen schafft es durch
ihre Erzählerin an deren Innenleben teilzuhaben und gleichzeitig
Außenstehender zu bleiben, wodurch Wahrheit und Fiktion nur noch
schwer voneinander zu trennen sind.


Erst als Lise aufgrund ihres vermeintlichen Selbstmordversuchs in
die Klinik eingewiesen wird, wird deutlich, wie schwerwiegend
ihre Psychose ist. In Pflegerinnen und Pflegern meint sie sowohl
ihren Mann Gert als auch ihre Haushälterin Gitte zu erkennen und
als sie in einer Art Badezimmer isoliert wird, weil sie die
anderen Patientinnen zu sehr in Unruhe versetzt, hört sie in den
Rohren und hinter Gittern nicht nur die Stimmen selbiger, sondern
beispielsweise auch die ihrer Kinder. So namensgebend die
Gesichter für den Roman sind, so wichtig sind sie auch in seiner
Bedeutung für die Protagonistin. Sie erschienen mir die ganze
Zeit auch eine Metapher zu sein, die beispielsweise für
Selbstschutz und Angst gleichermaßen stehen kann. Indem sie den
Pflegerinnen, also den Personen die um sie und ihre Gesundheit
bemüht sind, ein Gesicht einer Person aufsetzt vor der sie sich
fürchtet, offenbart sie ihre Furcht vor eben dieser Person.
Genauso könnte man es als Schutz ansehen, um die Wirklichkeit
nicht anerkennen zu müssen und damit das eigene Gesicht zu wahren
oder selbst ein Gesicht aufzusetzen, um den Anderen etwas
vorzumachen.


Unübersehbar ist aber vor allem die zentrale Rolle des Schreibens
im Roman. Einerseits für die Protagonistin Lise, die durch den
Erfolg und der damit einhergehenden Bewertung durch andere, aber
auch dadurch dass sie von anderen erkannt wird, zumindest
gefühlt, ständiger Kritik ausgesetzt ist, die vor allem Zweifel
in ihr hervorruft. Oft quält sie der Gedanke nicht gut genug zu
sein und in der Klinik hört sie Stimmen, die ihr zuflüstern, dass
sie nur Sätze bei anderen abschreibt und dann zu ihrem Text
eigenen zusammenfügt. Letztlich ist es aber auch das Schreiben
bzw. die Voraussicht wieder damit zu beginnen, die ihr neuen
Lebensmut geben. Und da ist andererseits die Autorin Tove
Ditlevsen selbst, deren größter Wunsch immer das Schreiben war,
was vor allem in ihrer Kopenhagen Trilogie besonders deutlich
wird. Auch weitere biographische Bezüge sind im Buch
unübersehbar. Es sind nicht nur die komplizierten
Liebesbeziehungen bzw. Ehen, oder dass der Mädchenname von
Ditlevsens Mutter ebenfalls Mundus war, sondern auch ihre
Medikamentensucht und ihre Suizidgedanken, die uns aus ihrem
Roman förmlich entgegenspringen und es ist umso ironischer und
tragischer, dass sich Tove Ditlevsen selbst durch eine Überdosis
Schlaftabletten schließlich das Leben nahm.


Nichtsdestotrotz sind die ernsten Themen des Romans und die teils
surreale, verwirrende und beklemmende Atmosphäre kein
Abschreckungsversuch oder ein Rückzug in eine Opferrolle, sondern
eben die intensive Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen
und Erlebnissen und der Wunsch sie literarisch zu verarbeiten, um
dadurch noch etwas Gutes aus ihnen zu erschaffen. Es sind Themen,
die sie als Autorin aber auch als Frau und Mutter beschäftigen
und die sich in einer Welt, in der ein offenerer Umgang mit
beispielsweise psychischen Erkrankungen oder Sucht einen neuen
Raum finden und nicht wie Themen aus längst vergangener Zeit
daher kommen. Sie offenbart eine weitere Facette ihres
künstlerischen Schaffens und auch wenn Gesichter zunächst weniger
autobiographisch anmutet als die Kopenhagen Trilogie, ist sie
doch nicht weniger geprägt von ihrem eigenen Leben, ihrer
poetischen und metaphernreichen Sprache und dem dringenden
Wunsch, ihrem Innersten durch das Schreiben Ausdruck zu
verleihen.


Nathaniel Hawthorne schrieb einmal: „Denn kein Mensch kann für
längere Zeit sich selbst das eine und der Menge ein anderes
Gesicht zeigen, ohne am Ende in Verwirrung zu geraten, welches
das echt ist.“ (aus: Der scharlachrote Buchstabe)


In der nächsten Sendung bespricht Irmgard Lumpini
"Mädchenhimmel!" von Lili Grün, die zu ihren Lebzeiten in
renommierten Zeitungen und Zeitschriften der 1920er/1930er Jahre
wie z. B. "Moderne Welt", "Tempo" oder dem "Berliner Tageblatt"
Gedichte und kurze Prosatexte veröffentlichte, die uns das Leben
in der Großstadt mit ihren Träumen und Enttäuschungen zeigen.


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