Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit

Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit

10 Minuten
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Beschreibung

vor 2 Jahren

Vor circa 6 Jahren gab ich meinen Einstieg bei Studio B – Lob und
Verriss mit einer Interpretation des Rilke Gedichts Schlussstück,
das ich immernoch sehr schätze und welches mir in dem kürzlich
von mir gelesenen und nun besprochenen Roman von Benedict Wells
Vom Ende der Einsamkeit wieder begegnet ist. Thema des Gedichts
ist – kurz gesagt – der Tod und seine Allgegenwärtigkeit in Allem
was wir tun. Durch gerade einmal sechs Verse, aus denen Rilkes
Gedicht besteht, schafft er es aber, über das Thema hinaus, noch
viel mehr zu transportieren. Eine Tatsache, die auch Benedict
Wells nicht entgangen zu sein scheint, denn sein 2016 im Diogenes
Verlag erschienener Roman hat sich, zumindest gefühlt, eben jenes
Gedicht zum Thema gemacht.


Die Handlung des Romans setzt in der Gegenwart ein, in der
Protagonist Jules aufgrund eines Motorradunfalls im Krankenhaus
liegt. Dieser Unfall ist Ausgangspunkt um sein Leben bis zu
diesem Moment zu reflektieren, so dass der Roman, von einigen
Ausnahmen die in der Gegenwart spielen abgesehen, in der
Retrospektive geschrieben ist. Die einzelnen Kapitel umfassen
dabei meist einen Zeitraum von mehreren Jahren. Zunächst erfahren
wir, dass die Familie Moreau mit ihren drei Kindern, von denen
Jules das jüngste und zu Beginn der Geschichte sieben Jahre alt
ist sowie seinem älteren Bruder Marty und seiner älteren
Schwester Liz, in München lebt. Ein beschauliches und
komfortables Leben, das drei Jahre später durch den plötzlichen
Tod der Eltern jäh beendet wird. Die Kinder, deren einzige
weitere Angehörige nur eine Tante ist, werden daraufhin auf ein
Internat geschickt und müssen von nun an, auf sich selbst
gestellt, ihren Platz in der Welt finden.


Liz, die Älteste der drei Geschwister, die bereits vor dem
Verlust der Eltern ein eher extrovertiertes Mädchen war und sich
ihres guten Aussehens durchaus bewusst ist, gleitet nun zunehmend
in ein Leben ab, das vor allem von Drogen und einer exzessiv
ausgelebten Sexualität geprägt ist. Den Schein zu wahren,
bewundert zu werden und dabei nie jemanden zu nah an sich
herankommen zu lassen, sind ihre bewussten oder unbewussten
Strategien, um sich vor weiteren Enttäuschungen und vor allem
Verlusten zu schützen. Der von ihren Brüdern erhofften Rolle der
großen Schwester und Beschützerin kann sie dadurch nicht gerecht
werden. Sie driften im Gegenteil noch weiter auseinander. Wells
beschreibt und verdeutlicht hierdurch wie der Erwartungsdruck von
außen, aber auch ihr eigener Anspruch sie daran scheitern lassen,
den Tod der Eltern aufzuarbeiten. Und er führt dem Lesenden auf
subtile Weise das Klischee vor Augen, nachdem der vermeintlich
Stärkere oder Ältere den Schwächeren bzw Jüngeren beschützen
müsste. Im Gegensatz zu Liz' nach Aufmerksamkeit und Bewunderung
strebenden Auftreten, steht die ruhige und eben nicht nach
Effekten haschende Erzählweise, die verdeutlicht, in welch einen
Drahtseilakt sich das Leben der großen Schwester gewandelt hat.


Marty, der Mittlere der drei Geschwister, führt hingegen ein
Leben als Nerd. Er flüchtet sich in die Computerwelt, durch die
er später auch zu beruflichem Erfolg gelangt und es schafft, sein
Leben in geordnete Bahnen zu lenken. Vor allem seine Ticks, wie
das Drücken von Türklinken, nach einem ihm Glück bringenden
Zahlensystem, kann er jedoch nie ganz ablegen und zeugen
zeitlebens von seinem durchlebten Trauma. Dennoch ist er als
Erwachsener bestrebt für seine Geschwister eine Hilfe zu sein,
eine Tatsache die zu Internatszeiten völlig undenkbar gewesen
wäre. Es offenbart gleichzeitig ein weiteres Motiv, das den Roman
durchzieht. Es ist nicht nur das Streben jedes Einzelnen nach
seinem eigenen Platz, sondern auch der Wunsch einer sich
entfremdeten Familie wieder zueinander zu finden. Die drei sehr
unterschiedlichen Charaktere der einzelnen Geschwister erschweren
dies nicht nur, sondern verdeutlichen auch exemplarisch die
verschiedenen Erwartungshaltungen untereinander.


Jules, der Jüngste und gleichzeitig Ich-Erzähler des Romans
durchlebt seine Zeit auf dem Internat als Außenseiter. Früher ein
Kind, das keineswegs scheu war und gern im Mittelpunkt stand,
zieht er sich zunehmend in sich selbst und seine imaginäre Welt
zurück. Nicht nur der Verlust der Eltern, sondern auch der
mangelnde Rückhalt seiner Geschwister machen ihm zu schaffen.
Schließlich lernt er das Mädchen Alva kennen, die ein ebenso
zurückhaltendes Auftreten hat wie er selbst und die durch die
ebenfalls frühe Erfahrung eines Verlustes zu einer Freundin wird.
Die beiden verbindet vor allem ihr Interesse und ihre Liebe für
Musik und Literatur und während man noch hofft, dass sie auch als
Paar zueinander finden, ist die Zeit des Internatslebens auch
schon vorbei und die Wege der beiden trennen sich auf unschöne
Weise.


Bis sie einander wiederfinden und sich schließlich auch als Paar
zueinander bekennen, vergehen etliche Jahre in denen sie
unabhängig voneinander durch viele tiefe Täler gehen. Jules Leben
ist einerseits geprägt von der Zerrissenheit darüber, welchen
Beruf er ausüben soll. Er versucht sich im fotografieren, jedoch
mehr aus einem Schuldgefühl dem Vater gegenüber heraus, der ihm
einst eine Kamera schenkte und die Jules erst nach dessen Tod
überhaupt benutzte. Sein Versuch, mit seinen Fotos Geld zu
verdienen scheitert immer wieder, so dass er es schließlich
aufgibt. Die Sehnsucht, durch das Fotografieren, etwas wieder gut
machen zu können, wird regelrecht spürbar und daher umso
schmerzlicher als sie nicht erfüllt wird. Sie bringt gleichzeitig
den Wunsch nach dem alten Leben zum Ausdruck, dem Leben mit den
Eltern und den Wunsch wieder in ein solches Leben zurückzukehren;
wieder glücklich zu sein. Mit seiner Leidenschaft für das
Schreiben versucht er gar nicht erst beruflichen Erfolg zu
erzielen und auch eben jene Leidenschaft und die Nennung und
Anspielungen auf diverse Autoren im Roman – von Rilke hörten wir
schon – bringen zum Ausdruck, wie sehr die Kunst einen
Rückzugsort darstellt, auch oder gerade, weil sie Dunkles und
Abgründiges zum Thema hat. Andererseits ist es während des Lesens
geradezu schmerzvoll miterleben zu müssen, wie Jules das Gefühl
hat, dass ihm, trotz seines jungen Alters, die Zeit durch die
Finger rinnt und er die vorhandenen Momente des Glücks einfach
nur festhalten will.


Über all dem steht die Frage nach dem Was wäre wenn, die uns in
der Literatur und auch im realen Leben schon oft begegnet und die
zu beantworten nicht möglich ist. Sie quält den Protagonisten
ebenso wie der Wunsch zu einem glücklichen Leben zurückzukehren,
das er einmal hatte; wieder normal zu werden. Die liebevolle Art
mit der Wells seine Figuren erschafft und sie auch in schwierigen
Situationen trotzdem nicht vom Haken lässt, ist bemerkenswert.
Umso mehr, bedenkt man, dass er bereits im Alter von 23 Jahren
angefangen hat, dieses Buch zu schreiben. Und für das er, nach
eigener Aussage, sieben Jahre brauchte, um es fertigzustellen. Es
zeugt für mich auch von einer tiefen Sehnsucht des Autors sich
Themen wie Verlust und Tod anzunehmen, sich zusammen mit seinen
Figuren in diese Abgründe hinein zu begeben, um sich gemeinsam
ganz langsam wieder daraus zu befreien und Momente des Glücks
erleben zu können. Es ist eine tragische Familiengeschichte die
zeigt, wie drei Geschwister auf verschiedene Weise versuchen den
Verlust ihrer Eltern zu verarbeiten und dabei ganz
unterschiedliche Wege gehen. Die aber auch zeigt, dass ein
Wieder-Zueinander-Finden trotzdem möglich ist. Und es ist eine
Liebesgeschichte, die ohne Kitsch daher kommt. Generell finde ich
Wells' Sprache faszinierend in seiner Klarheit, sorgfältig
ausgewählt, knapp, kein Wort zu viel, die trotzdem eine ganze
Welt vor meinem geistigen Auge zu erschaffen vermag und die trotz
der schweren Themen auch hoffnungsvoll ist.


Eine wunderbare Empfehlung die mir da gegeben wurde und die ich
nun unbedingt weitergeben möchte. Ich schließe meine Rezension
mit einem Gedicht des eingangs schon erwähnten Rainer Maria
Rilke, welches thematisch kaum besser zum Roman passen könnte und
den Titel Einsamkeit trägt:


Die Einsamkeit ist wie ein Regen.


Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;


von Ebenen, die fern sind und entlegen,


geht sie zum Himmel, der sie immer hat.


Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.


Regnet hernieder in den Zwitterstunden,


wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen


und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,


enttäuscht und traurig von einander lassen;


und wenn die Menschen, die einander hassen,


in einem Bett zusammen schlafen müssen:


dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen...


In der nächsten Woche wird Irmgard Lumpini die Schriftstellerin
Maria Leitner vorstellen, von der einige Reportagen und ein Roman
im Buch "Mädchen mit drei Namen" aus den späten Jahren der
Weimarer Republik (wieder)veröffentlicht wurden.


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