Die Falschgoldschen Weihnachtsbuchgeschenkempfehlungen 2021
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Beschreibung
vor 3 Jahren
Ein Jahr geht zu Ende und wie es wohl Tradition werden wird,
sitzen wir im Lockdown und haben endlich Zeit zu lesen. Man holt
die ganz dicken Schmöker raus, die, für die es um 15:30 Uhr
dunkel werden muss, damit man sie in realistischen Zeiträumen
ausgelesen bekommt, die fetten Werke, "unter 500 Seiten gibt's
hier gar nichts!", die einem von Literaturpodcasts rücksichtslos
empfohlen werden, weil, man hat ja sonst nichts zu tun.
Um sie als ein solcher empfehlen zu können, muss man sie
natürlich gelesen haben, wir sind hier schließlich nicht beim
Feuilleton. Und dort habe ich dieses Jahr einen taktischen Fehler
gemacht, und zeitgleich drei Bücher der Kategorie "Werk" begonnen
und weil die "Werke" zu lesen denn doch ein bisschen in Arbeit
ausartete, prokrastinierte ich mich zudem durch zwei neue Bände
klassischer Thrillerreihen um augenblicklich einem reizenden
Fantasy Epos verfallen zu sein. Doch der Reihe nach und, falls
das nicht aufgegangen sein sollte, das ist die alljährliche
Weihnachtssendung des Studio B, diesmal in drei separaten
Episoden, von jedem der drei Stammrezensentinnen eine.
Im Frühjahr hat Hilary Mantel den dritten und finalen Teil ihrer
Geschichte der bewegten Jahre des Thomas Cromwell am Hof Henry
des VIII. veröffentlicht und da Band I und II schon 2010
respektive 2013 erschienen waren und das Verzeichnis der
handelnden Personen ein dutzend Seiten lang ist, zudem die
Sprache, der Witz und die Klugheit dieses Epos von mir oft genug
gelobt wurden, machte ich etwas äußerst Rares: Ich las den ganzen
Schinken noch einmal von vorn. Im Allgemeinen verabscheue ich
dieses Verschwenden von Lebenszeit wie der Landkreis Görlitz die
Vakzination, jedoch gewinnt die Cromwell-Trilogie beim zweiten
Lesen noch einmal an Tiefe! Las ich die Bücher beim ersten
Durchgang vor allem sprachfasziniert und manövrierte mich nur mit
Hilfe der X-Ray Funktion von Amazons Kindle durch das Meer der
Akteure, war ich beim zweiten mal Lesen so fest in den Grundlagen
der englischen Adelskaste, dass ich "Wolf Hall" und "Bring Up the
Bodies" noch einmal wie ein enorm großes Sittengemälde lesend
betrachtete, bevor ich mich "The Mirror and the Light" widmete.
Oh oh, nur war das auf einmal Neuland, wieder neue Akteure,
wieder neue Intrigen, dazu immer noch feinste aber anspruchsvolle
Sprache, nach einem Drittel war ich erschöpft und weil es also
der letzte Teil der Trilogie ist, hab ich "The Mirror and the
Light" nochmal zurück geschoben, wie die Oma die Blutwurstscheibe
auf dem Magarinebrot im Winter '47. Auf diesen leckeren letzten
Bissen will ich mich noch ein paar Wochen freuen! Ich griff also
nach Alternativem, von dem ich sogleich berichten werde, nicht
ohne vorher alle drei Bände der Thomas Cromwell Trilogie von
Hillary Mantel für "quer durch alle Altersgruppen und
Bevölkerungsschichten" zu empfehlen, auf Deutsch wie Englisch,
das Ding hat nicht umsonst jeden Preis abgeräumt, den gibt.
Nun bin ich in Hilary Mantels Epos kurz nach Erscheinen mehr oder
weniger hineingerutscht, schon wissend, dass da noch ein paar
Teile kommen werden. Das sofortige Lesen solcher ersten Bände
widerspricht eigentlich meinem Credo "Man liest Mehrteiler erst,
wenn alle Bände erschienen sind", aber ich konnte mich dem Bann
der Sprache einfach nicht entziehen. Bei "Peripherie" von William
Gibson hingegen war mir einfach nicht bewusst, dass es da drei
Teile geben wird, schreibt Gibson doch im Allgemeinen
alleinstehende Stories, das kann ja keiner ahnen. William Gibson,
für nicht Genreaffine, schreibt im weitesten Sinne Science
Fiction, hat den metaesten Twitteraccount von allen, jeder
Retweet relevant und mit wundervollem Auge für das Erstaunliche
unserer Zeit kuratiert und ist der Erfinder des “Cyberspace”, der
große Bruder von "Metaverse". Letzteres ist augenblicklich in
aller Mainstreammunde, weil er von einem Psychopathen namens
Zuckerberg ganz unironisch verwendet wird um uns in einen
digitalen Käfig zu locken und zu versklaven, ohne zu wissen, dass
das sein Ruin werden wird, ihr habt's hier zuerst gehört.
“Peripherie” also ist Teil eins von dreien, erschienen im Jahr
2015 und im September 2020 bracht Gibson den zweiten Teil heraus
mit dem Titel "Agency". William Gibsons Werke sprühen generell
von prophetischer Kurzsicht, hier definiert als die Gabe eine
Zukunft zu erfinden, so kurz hinter der Gegenwart, dass die
Technologie zum Zeitpunkt des Lesens fast schon Realität ist,
weshalb sich beim Lesen ein seltsames Vertigo einstellt, das man
mögen muss. In Peripherie gibt Gibson zudem den
Erklärminimalisten, vieles von dem was passiert und wie es
passiert, ob an einem Bildschirm, in VR oder real life muss man
sich erarbeiten bis erträumen, welches mich ob alltagsbedingt
fehlender Muse dazu brachte, das Buch schon zweimal nach ein paar
Dutzend Seiten aus der Hand hat zu legen. Aber mit jedem
Neubeginn wird alles klarer, schon weil die technologischen
Prophezeiungen den Realitäten wieder ein Stück näher gekommen
sind und man ahnt, bald einen historischen denn einen utopischen
Roman zu lesen, wenn man nur noch ein paar Monate wartet. Und ja,
auch hier lese ich einen ersten Teil, wenn der dritte noch nicht
einmal terminiert ist, aber bei meiner
Datenverarbeitungsgeschwindigkeit bei Allem von William Gibson
ist das kein Problem. Geschenkempfehlung für alle, die heute
lesen wollen, wie wir in zwei Jahren denken, aber man muss ein
bisschen ein Faible dafür haben, sich eine Story zu erarbeiten.
Das dritte "Werk" ist eines, von dem ich hier nichts erzählen
darf, die non disclosure agreements sind also auch im
unkommerziellen Literaurpodcast angekommen, wir drücken mal allen
wissenden Beteiligten die Daumen, dass das Ding zur nächsten
Weihnachtssendung öffentlich rezensiert werden darf, denn, es
wird ein Fest. Aber, auch dieses Buch ist so fett und komplex,
dass es mal für ein paar Wochen auf Seite zwei der Leseliste
rutschen musste, damit man nicht ausschließlich im
polaroidfilterfarbenen Amerika des kalten Krieges träumt.
Aber es ist ja Herbst, was heißt, dass man zur Ausspanne immer
die Wahl hat zwischen dem neuen Jack Reacher und dem neuen
Michael Connelly! Ersterer ist der Hauptheld einer Thrillerreihe
von Lee Child, der aber seit zwei Bänden nur noch den übergroßen
Autorentitel auf dem Cover zusteuert und die Schreiberei
interessanterweise seinem Bruder Andrew übergeben hat. Nicht weil
er krank oder tot wäre sondern weil, wir müssen es annehmen, er
auch keinen Bock mehr auf das wandelnde Klischee "Jack Reacher"
hat. Der Bruder macht es nicht schlechter als der Bruder, was
nicht sonderlich schwer ist, bedient sich Lee Child doch seit
Band eins einer extremen Einschränkung der literarischen Mittel,
die zunächst effektvoll und erfrischend war, mittlerweile aber
fast komisch anmutet. Keine Nebensätze, keine Perspektivwechsel,
keine Rückblenden, Vorblenden oder ähnliches hochgeistiges
Gedöns. I like. Inhaltlich waren dem Leser eines Jack Reacher
Bandes schon immer 360 Seiten reinen, ungestörten Eskapismus
sicher, fand die Handlung doch stets in einer amerikanischen
Kleinstadt statt, in die die Realität nur in gerade so
handlungsnotwendigen Schlaglichtern eindrang und auch in "Better
Off Dead", dem aktuellen Band, gibt es kein Corona, keine
Wirtschaftskrise und nur, wenn man ganz genau zwischen den Zeilen
liest, einen ungewerteten Präsidenten Trump. Das ist in sich eine
Leistung und liest sich so stressfrei, wie man es manchmal
braucht.
Der literarische Einfluss des Bruders Andrew Lee ist insofern
spürbar, als dass die fast komplette sprachliche Verödung des
letzten von Lee Child allein geschriebenen Bandes "Past Tense",
dieses Jahr auf deutsch als “Der Spezialist” erschienen, in dem
stilistisch die wörtliche Rede einer Kartoffelbäuerin aus Kanada
nicht von der des Actionserienhelden Jack Reacher zu
unterscheiden war, nicht übertroffen wurde und wenn man ganz
liebevoll-optimistisch liest, ahnt man, dass da Potential und
vielleicht sogar Lust ist, Jack Reacher auf neue Wege zu
schicken, wir werden es erfahren, in der 6. Welle im Herbst 22.
Bis dahin kann man das aktuelle Buch - so wie jedes von Lee Child
- jedermann schenken, wer noch nie einen Jack Reacher gelesen
hat, wird es lieben und wer schon alle gelesen hat, liest auch
den. Literaturkapitalismus, Baby!
Michael Connelly hingegen, der zweite unserer allherbstlichen
Thrillerautoren, ohne die wir nicht können, hat noch Lust am
Schreiben und weiß, wie man die literarische Monotonie vermeidet.
Schon früh hat er den Büchern über den Kriminalkomissar mit dem
wunderbaren und literarisch endlos ausschlachtbaren Namen
"Hieronymus Bosch", tätig in Los Angeles, Bände mit dem Lincoln
Lawyer Michael Haller als Protagonisten zur Seite gestellt, einem
gewieften Strafverteidiger, ebenfalls in L.A., titelgebend aus
einem Lincoln Towncar arbeitend. Parallele Bände mit
folgerichtigen Stories, in denen sich die Wege beider Haupthelden
kreuzten boten dem alljährlichen Leser einen Weg abseits der
immergleichen Whodunits in einen literarischen Kosmos "Los
Angeles" einzutauchen, in dem er bald jedes Viertel, jeden
Highway kannte und zusammen das Leben von Haller und Bosch Jahr
für Jahr "erlebte". Das passiert nun auch schon dreißig Jahre
lang und statt auf die in unserer Hyperrealität nicht mehr
statthafte Finte des nie alternden Kommissars, setzt Connelly auf
neues Personal und weil der Autor ein Demokrat in California ist,
ist dieses weiblich und unweiss, was nicht woke ist, sondern
toll. Renée Ballard, eingeführt im Band "The Late Show" im Jahr
2017 arbeitet nur noch Nachtschicht, nachdem sie ein paar
Großkopferten in der Los Angelinischen Polizei auf die Schuhe
gepinkelt hat, weil sie die ihr widerfahrenen sexuellen
Übergriffe nicht unter den Teppich kehrt. Und es ist den
Perspektivenwechsel wert. Im aktuellen Band "The Dark Hours"
arbeitet sie mit Harry Bosch zusammen, der nun so alt ist, dass
sie langsamer laufen muss vom Tacostand zum Auto, damit er
hinterherkommt, aber er hat immer noch die Moral gepachtet und
das Wissen, was zu tun ist, wenn Dir zwei Fälle gleichzeitig vor
die Füße fallen und alle gegen Dich sind, auf dass ein
hervorragender Thriller viel zu schnell enden wird. Auch schafft
es Connelly die Handlung bis auf den Wochentag genau zu datieren,
ohne dass man Angst haben muss, dass das Buch in zwei Jahren
unlesbar sein wird. Unsere Hauptheldin zieht sich wie
selbstverständlich die Maske hoch bevor sie die Knarre zieht,
weil sie vom neuen Vakzin noch nichts bekommen hat, worüber alle
ständig reden, aber gottlob ist der orange Orang Utan nicht mehr
im Weißen Haus, auch wenn bewaffnete Rednecks das durch den Sturm
des Parlaments gerade versucht haben zu verhindern. Man wird wohl
auch in ein paar Jahren noch wissen, dass das alles im Januar
2021 gewesen sein muss. Michael Connellys Bücher sind allesamt
brillant und verfallen nicht in ultramarktgerechtes literarisches
Fibeltum a la "Jack Reacher am Zaun", "Bad Guy am Fenster", aber
auch ohne dass man sich ein halbes Jahr Zeit nehmen müsste, deren
Komplexität zu durchschauen. Verfilmt wurden einige Bände als
Krimiserie auf Amazon Prime, toll photographiert, mit ph, und
erstaunlich gut besetzt, mit der Ausnahme der zum Schreien
untalentiert gespielten Tochter Boschs, Maggie, bei der ich einen
running gag vermute, den sich das Casting erlaubt hat. Gerade
Leuten, die Bosch darüber kennen, sind die neueren Bücher zu
empfehlen.
Aber das war mir nicht Prokrastination genug. Podcastbedingt
folge ich einigen der von uns vorgestellten Autoren auf Twitter,
womit ich immer tiefer in eine Bubble obskurer
Fantasiebuchempfehlungen gerate. Nun ist es gerade in diesem
Genre besser in den Tiefen des literarischen Meeres zu fischen
statt den immergleichen Zaubermatijes zu verschlingen, womit der
Versuch eine Brücke zum Inhalt des aktuellen Schmökers zu bauen,
erfolglos beendet wird. Die Trilogie, deren finaler Band soeben
erschien, heißt "The Bone Ships". Die englische Autorin RJ Barker
erschafft darin eine Welt nur leicht neben der unseren. Es ist
eine maritime, es shantied und schunkelt, rumt und "Aye Sir”t,
dass es eine Freude ist, natürlich mit den Fantasy-notwendigen
Unterschieden. Da wären zunächst, dass das nicht "Aye Sir"
sondern "Ey Shipwife" heisst. Die Schiffe sind nämlich männlich
und aus den Knochen riesiger ausgestorbener Fische hergestellt
und der Käptn hat immer das generische Femininum, hier also
Shipwife. Die Mannschaft ist weiblich, männlich, divers in allen
Richtungen. Der Käptn hier ist auch biologisch weiblich, ihr 1.
Offizier und Erzähler männlich, da knispert noch was, denke ich.
Aber, die Regel auf dem Schiff heisst "fickt, aber bekommt keine
Kinder" womit das gesellschaftliche Verhältnis von Homo zu Hetero
mit einem Schlag auf dem Kopf steht und auch so wird subtil bis
brachial ein genderaufgeklärtes Paralleluniversum mit dem im
Genre eher unüblichen grau zwischen Gut und Böse geschaffen.
Einzig die Schiffe sind weiß oder schwarz, je nachdem ob auf
diesen Helden schippern oder Todgeweihte und auf welchem der
beiden unsere Hauptheldinnen Lucky Mea und Joron Twiner, Shipwife
und Deckkeep, zusammen mit zum Beispiel Bonemaster Coxward,
Hatkeep Mevans oder Deckchild Fary zur See fahren, sollte
offensichtlich sein. Noch im ersten Band von "The Bone Ships"
lebend kann ich sagen, dass es eines der Bücher ist, auf die man
sich vor dem Schlafen gehen freut, weil man noch ein paar Seiten
lesen und mit ein bisschen Glück sich im Traum ein wenig gruseln
kann. Eine Empfehlung sicher mehr für Nerds, dort aber definitiv
nicht nur für den phänotypisch clerasilutrabedürftigen künftigen
Taxifahrer mit abgeschlossenem Philosophiestudium, sondern
definitiv auch und besonders für die Systemadministratorin im
Homeoffice in Saigon, die ihre Job komplett automatisiert hat und
drei so ne Bände in einer Woche verschlingt.
Womit genügend empfohlen sein sollte, ob für sich allein oder
Freund und Feind, um bis zur fünften Welle im Frühjahr durch zu
lesen und der öden Realität anregende Phantasie entgegen zu
stellen. Und falls es nicht genug sein sollte, hat Anne Findeisen
in der nächsten Episode von Lob und Verriss sicher noch mehr
Bücher zu empfehlen.
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