Marianne Philips: Die Beichte einer Nacht

Marianne Philips: Die Beichte einer Nacht

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Beschreibung

vor 3 Jahren

Als Marianne Philips 1886 in Amsterdam geboren wird, scheint ihr
Leben unter einem guten Stern und der Familie viele Möglichkeiten
offen zu stehen, denn der Vater betreibt erfolgreich ein
Kurzwarengeschäft und die Familie gehört dadurch dem
wohlsituierten Mittelstand an. Das ändert sich jedoch durch den
Tod des Vaters, noch bevor sie zwei Jahre alt wird und durch das
Unvermögen des Stiefvaters, die Geschäfte gewinnbringend
weiterzuführen, verarmt die Familie zusehends. Als Marianne dann
im Alter von 14 Jahren auch noch ihre Mutter verliert, die im
Wochenbett verstirbt, wird sie damit nicht nur zum Waisenkind,
sondern muss sich auch um die jüngere Halbschwester sowie das
Baby kümmern. Damit übernimmt sie bereits in jungen Jahren große
Verantwortung indem sie beispielsweise den Haushalt versorgt und
lernt zugleich, was es bedeutet, verzichten zu müssen. Ein Leben
als Schriftstellerin scheint ihr keineswegs vorgezeichnet oder
gar bestimmt zu sein. Erst im Alter von 40 Jahren, nachdem sie
sich bereits seit fast 20 Jahren politisch engagiert, drei Kinder
groß gezogen und einen Haushalt geführt hatte, entdeckte sie die
Schriftstellerei für sich.


Ihr Roman Die Beichte einer Nacht wurde in den Niederlanden
bereits 1930 und in Deutschland 2021 im Diogenes Verlag
veröffentlicht und ist in der, zunächst etwas ungewohnten, Form
des Monologs verfasst. Die Protagonistin Leentje auch Heleen oder
Leen genannt, befindet sich in einer Nervenklinik, in der sie
sich eines Nachts zur Nachtschwester setzt, mit der Bitte, ihr
aus ihrem Leben erzählen zu dürfen. Es wird sehr schnell
deutlich, was für ein großes Anliegen es ihr ist, der
Nachtschwester ihre Lebensgeschichte anvertrauen zu können, wobei
es weniger darum geht, wem sie diese erzählt, sondern vielmehr um
die Möglichkeit sich zu offenbaren und erstmals alles Geschehene
laut aussprechen zu können.


Dabei arbeitet sie sich chronologisch an ihrer Biographie ab,
beginnend bei ihrer Zeit als ältestes von 10 Kindern. Der
Kinderreichtum ihrer Eltern ist für sie eine Qual, denn durch
diesen wird die Kutsche niemals leer, sondern bekommt mit jedem
weiteren Kind einen neuen Anstrich, was für die Familie
gleichbedeutend mit Armut ist und für Leentje noch mehr
Verantwortung heißt. Ohnehin kann sie nicht verstehen, dass die
Eltern überhaupt noch Kinder bekommen, da sie sich nie öffentlich
küssen. Entscheidend ist jedoch das letzte Kind, dass die Mutter
zur Welt bringt, als der Vater bereits seit fünf Jahren gelähmt
an das Bett gebunden ist: Lientje. Da die Mutter zu dieser Zeit
schon älter ist und kränkelt, kann sie das Baby nachts nicht bei
sich haben und so wird die Wiege in Leentjes Zimmer, neben deren
Bett gestellt. Zu dieser Zeit hat Leentje die Schule bereits
verlassen und arbeitet bei einer Französin als Hilfskraft in
einem Nähatelier, um die Familie auch finanziell zu unterstützen.


Bereits nach kurzer Lektüre wird deutlich wie Marianne Philips
auf autobiographische Themen zurückgreift. Nicht nur die
Versorgung von jüngeren Geschwistern kannte sie dabei aus eigener
Erfahrung, auch half sie in der Schneiderwerkstatt ihres
Stiefvaters aus. Ihre Protagonistin Leentje lebt in einem
Spannungsfeld von Entbehrungen, in dem sie sich für alle Dinge,
die ihr geschenkt werden, bedanken muss, ganz gleich ob sie ihr
gefallen oder nicht. Sie ist sich aber gleichzeitig auch ihres
guten Aussehens bewusst und strebt etwas Besseres für sich an.
Diese Gegensätze werden an ihrem 15. Geburtstag besonders
deutlich, als sie von den älteren Näherinnen ein Kleid geschenkt
bekommt, dass sie nicht von einer positiven Zukunft träumen
lässt, sondern ihr ihre Armut deutlich vor Augen führt:


„Das war ich und niemand anderes, das älteste Kind aus einer
Familie, die von Almosen lebte – und zugleich war mir klar, dass
ich mich jetzt freuen musste. Aber das konnte ich nicht, ich
freute mich nicht, sondern hatte endgültig begriffen, das
Arm-sein hässlich ist.“ (S.25)


Aber Leentje gelingt der berufliche Erfolg, der auch den von ihr
gewünschten materiellen Luxus für sie mit sich bringt. Zudem
prägen die ersten Männerbekanntschaften ihr Leben bis schließlich
hin zu einer Ehe, die jedoch nur wenige Jahre hält und weniger
von Liebe als zunächst viel mehr von Bewunderung geprägt ist.
Während eben dieser Ehe, die für sie zunehmend zur Belastung
wird, flüchtet sie für einige Tage und reist zu ihren Eltern.
Ihre übrigen Geschwister, die ansonsten im Roman keine Rolle
spielen, haben das Elternhaus bereits verlassen, sind verheiratet
oder gehen anderweitig ihrer Wege. Nur die Kleinste, Lientje,
lebt noch bei ihnen.


Diese wenigen Tage, die Leentje intensiv mit ihrer Mutter
verbringt, beschreiben ergreifend und exemplarisch die
Metamorphose vom Jugendlichen zum Erwachsenen. Wie Leentje als
junges Mädchen bzw. junge Frau nichts anderes wollte, als der
elterlichen Enge, den Pflichten und der Armut zu entfliehen. Wie
sie es geschafft hat, erfolgreich zu sein und schließlich doch,
in einer für sie sehr unglücklichen Lage, in eben dieses
Elternhaus zurück flieht. Wie sie sich die Nähe der Mutter zurück
sehnt und fast meint, nie hätte gehen zu müssen. Und schließlich
weiß sie doch, „dass sich an dem, was einmal geschehen ist,
nichts ändern lässt.“ (S.76) Aber die tiefgreifende Erkenntnis,
wie sehr die Mutter sie schon immer geliebt hat, die sie eben
erst jetzt erfassen kann und die ich als beispielhaft für das
Erwachsenwerden empfinde, hat mich sehr bewegt. Überhaupt, die
feinsinnigen Beschreibungen des Einander-Wahrnehmens und die
Reblik auf ein Leben, mit dem Wissen vieler Jahre später, wusste
Marianne Philips genau auf den Punkt zu bringen.


Leentje verlässt ihr Elternhaus mit dem Versprechen, dass sie
ihrer blinden Mutter gegeben hat, die jüngere Schwester Lientje
zu sich nehmen und für sie zu sorgen, wenn es der Mutter einmal
nicht mehr möglich ist. Im weiteren Verlauf des Romans nimmt sie
ihre Schwester dann schließlich auch bei sich auf, sie lässt sich
scheiden und lernt ihre große Liebe Hannes kennen. Der Beginn
dieser Liebe, der zunächst traumhaft schön ist, bedeutet
letztlich den Wandel des Lebens aller Beteiligten auf einen
Abgrund zu, der gleichzeitig das wichtigste Element oder Ereignis
der so genannten Beichte ausmacht.


Die Beichte einer Nacht befasst sich sehr intensiv mit dem
Innenleben und vor allem der Psyche seiner Protagonistin, ein
Fakt, der für die Zeit der 1930er Jahre und in diesem Zeitraum
entstandenen Romane keineswegs üblich war – schon gar nicht von
weiblichen Autorinnen. Marianne Philips beschreibt eine Frau, die
geprägt ist von dem Wunsch aus dem kinderreichen und von Armut
geprägten Elternhaus auszubrechen und den sozialen Aufstieg aus
eigener Kraft heraus zu schaffen. Sie wirkt dabei keineswegs
bemitleidenswert sondern zielstrebig. Ihre Schönheit und ihren
Sinn für Schönes nutzt sie dabei geschickt aus, um ihre Ziele zu
erreichen. Sie schreckt auch nicht davor zurück, Situationen zu
ihrem eigenen Vorteil auszunutzen, nicht ohne dabei auch selbst
emotional in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Der Wunsch
geliebt zu werden und das Wissen um die Vergänglichkeit von
Schönheit sind es aber letztlich auch, die aus einer beinah
familiären Idylle mit ihrer Schwester Lientje und ihrem Mann
Hannes einen Sog aus Raserei und Wahn entstehen lassen und sowohl
das Leben jedes einzelnen Beteiligten als auch ihr gemeinsames,
sehenden Auges jäh beenden.


Marianne Philips Roman beeindruckt so sehr wegen seines Tiefgangs
und weil er dem Lesenden die Psyche der Hauptfigur schonungslos
und mit all seinen Unzulänglichkeiten und vermeintlichen Fehlern
preisgibt. Dass ihr diese fast nachfühlbaren und teilweise auch
beklemmenden Beschreibungen so eindrucksvoll gelungen sind, mag
auch daran liegen, „dass der Roman gewissermaßen Teil von
Marianne Philips' Therapie war und von ihrem Wunsch zeugt, sich
selbst kennenzulernen, auch wenn das eine Auseinandersetzung mit
den dunkelsten Seiten ihrer Seele erforderte.“ (S. 148) Wie wir
heute von ihrer Enkelin wissen. Damit ist Die Beichte einer Nacht
ein Nachspüren und Erforschen des eigenen Lebens, der eigenen
Identität, der eigenen Biografie, ohne dafür – wie es der Titel
vielleicht vermuten lässt – Absolution zu erwarten. Ohne es zu
wissen, würde man wohl kaum darauf kommen, dass der Roman bereits
vor über 90 Jahren geschrieben wurde und gerade die sehr
persönlichen Erfahrungen, die die Autorin hier verarbeitet hat,
machen ihn nahezu zeitlos und absolut wert, ihn auch 2021 und
darüber hinaus zu lesen.


In der nächsten Woche stellt Irmgard Lumpini Sinéads O'Connors
neue Autobiographie "Rememberings" vor und geht der Frage nach,
was eigentlich nach dem Welterfolg der ersten Alben und dem
großen Skandal des zerrissenen Papstbildes wurde.


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