Jennifer Weiner "That Summer"

Jennifer Weiner "That Summer"

12 Minuten
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Beschreibung

vor 3 Jahren

TRIGGERWARNUNG & SPOILER ALERT: Es werden Inhalte des Romans
gespoilert, besprochene Themen sind Vergewaltigung, sexuelle
Übergriffe und sexuelle Gewalt.


Die Werbekampagne zum heute vorgestellten Buch könnte
irreführender nicht sein. Chapeau! Angepriesen als neuestes Werk
der "unangefochtenen Königin des Strandbuches" Jennifer Weiner,
die stattliche 15 No. 1 auf der Bestsellerliste der New York
Times ihr Eigen nennen kann, und deren klassische Heldin in ihren
eigenen Worten so charakterisiert wird: “ein glückliches Ende
finden, während sie sich selbst treu bleibt.” 


Bei einem Werbeauftritt in Amerikas - meint hier The United
States of - berühmtester Guten-Morgen-Fernsehshow "Good Morning
America!" unterhält sich Autorin Jennifer Weiner einige kurze
Minuten mit den 3 Hosts der Sendung über ihr gerade
veröffentlichtes Werk "That Summer", und wir erfahren:


1. Jennifer Weiners Mutter ist vor kurzem gestorben, und eine der
wichtigsten Lektionen, die sie von ihr gelernt hat, ist Body
Positivity, also das Wohlsein im eigenen Körper, dessen
Möglichkeiten kennend und wertschätzend, unabhängig davon, ob das
heute zum Glück immer mehr schwindende Traummaß des 90-60-90
erreicht wird.


2. Gefragt, warum ihre Heldinnen immer dem gleichen Muster zu
folgen scheinen, antwortet sie mit einem Zitat von Toni Morrison,
bei der sie auch mal einen Schreibkurs besucht hat: "Wenn es ein
Buch gibt, dass du lesen musst, und es steht nicht in der
Buchhandlung, musst du es selbst schreiben. (Ziemlich sicher gibt
es eine bessere als diese sehr freie Übersetzung.)


3. "That Summer" wurde während der Pandemie geschrieben, als sich
Jennifer Weiner zu Hause mit ihrer Familie ununterbrochen
konfrontiert sah und sich zu einem Platz schreiben wollte, den
sie liebt. Voilá: Cape Cod.


4. Zwei der Protagonistinnen sind 15 Jahre alt, so alt wie die
Tochter der Autorin. Sie ansehend fragt sie sich: Hat sich die
Welt geändert, seitdem ich in diesem Alter war? Habe ich mich
geändert? Und wenn ja, ist es jetzt besser?


5. Wenn es nicht besser ist, was muss getan werden, was muss ich
tun, damit sie besser wird?


Und weil die Show Good Morning America! heißt, lächeln alle in
die Kamera, pandemiebedingt in 4 Kacheln und nicht im selben
Raum. Jennifer Weiner hält noch kurz das Buch in die Kamera und
winkt.


Ähnlich war die Ankündigung des Buches auf einer der von mir
frequentierten Empfehlungslisten. Could have fooled me! Hat es
auch.


Zurück zu 4. Ich nummeriere hier ja nicht umsonst: Hat sich die
Welt geändert, und falls ja, ist es besser? Ja, vielleicht,
hoffentlich, sonst könnte man den ganzen Bumms auch
anzünden. 


Zurück zur eingangs erwähnten Marketingkampagne und einem
radikalen Bruch mit Studio Bs nirgendwo niedergeschriebenem,
mündlich aber öfter formulierten Anspruch, hier in denglish, DIE
STORY NICHT ZU SPOILERN: 


Bei “That Summer” handelt es sich nicht um ein unbeschwertes
Buch, das zur Sonnencremebeschmierten und zwischen den Seiten
Sand ansammelnden Sommerlektüre empfohlen werden kann, weil der
Plot den champagnerinduzierten Schwips verstärkt, auch wenn das
in fast allen Empfehlungen und Besprechungen so erscheint. 


Und ein weiterer Beweis der These, dass Kritiker*innen nicht
immer das rezensierte Werk tatsächlich auch - wenigstens
ansatzweise und überfliegend - gelesen haben.


"That Summer" ist die Geschichte zweier unterschiedlicher Frauen,
beide heißen Diana, die eine wird Daisy genannt. Sie verfolgen
geradezu konträre Lebensentwürfe. Während Diana als erfolgreiche
Vertreterin durch die Staaten reist und ein luxuriöses Leben als
Single führt, finden wir Diana, die sich als Kochlehrerin ein
berufliches Standbein aufgebaut hat, als Organisatorin, Putzfrau,
seelischer Mülleimer und mit dezenter Unaufmerksamkeit durch
ihren ein paar Jahre älteren Ehemann Hal und mit offenerer
Abneigung durch ihre 15jährige Tochter Beatrice bedachte, ein
wenig einsame Frau, deren äußere Lebensumstände Zufriedenheit
bringen sollten, sie aber zunehmend irritieren. Die beiden
begegnen sich, weil Dianas Mails aufgrund eines Tippfehlers in
der E-Mail-Adresse bei Daisy landen. Bei einem ersten Treffen der
unterschiedlich situierten Frauen sind sich beide sympathisch,
eine Freundschaft bahnt sich an.


Der Plot von “That Summer” wird in 2 zeitlichen Linien
entwickelt: rückblickend auf die Geschehnisse eines Sommers, eben
“That Summer”, deren Protagonistin Diana ist, und in der
Jetztzeit, mit reflektierenden Rückblicken auf Daisys Geschichte
und immer weiteren Enthüllungen über Dianas Leben.


Im Sommer 1987 hat Diana als 16jährige einen Sommer auf Cape Cod
verbracht, als Aushilfe in einem befreundeten Haushalt. Erste
Liebe zu einem Collegeboy, zum Abschluss des Aufenthalte eine
Party, nach der sich Diana zunächst an nicht viel erinnern kann.
Als die Erinnerungen an diese Nacht zurückkehren, wird ihr Leben
ein anderes sein und werden: Sie wurde vergewaltigt, ein 2.
Student hat sie festgehalten, ein Dritter zugesehen, aber nicht
eingegriffen. Diana verlässt in der Folge die Schule ohne
Abschluss und wird nie Kinder haben.


Sprung in die Jetztzeit: Was Diana will, ist Rache. Der Beginn
ihrer aufkeimenden Freundschaft mit Daisy ist zunächst
vorgetäuscht. Durch einen Zufall hat sie ihren Vergewaltiger von
damals wiedererkannt und möchte auch die Frau bestrafen, die in
ihren Augen alles hat: eine Familie, eine Tochter. Zunehmend
bekommt sie Skrupel, wird aber ihre Geschichte zu erkennen geben,
mit weitreichenden Folgen.


Das Buch stellt komplexe Fragen zur Verantwortung sexueller
Übergriffe: nach der des Vergewaltigers, nach der der
Eingeweihten. Es ist ein Werk über die Auswirkungen eines lange
Jahre verheimlichten Angriffs auf das Leben der Beteiligten, die
Macht und Auswirkungen von Rache. Wie hart sollen solche
Verbrechen bestraft, oder sollten sie vergeben werden? Jennifer
Weiner erwähnt explizit die me too Bewegung, die viele Frauen
ermutigte und inspirierte, über ihre traumatischen, manchmal aber
- und das ist fast unheimlicher - gewöhnlichen und als alltäglich
wahrgenommenen Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen und
sexueller Gewalt zu sprechen und zu schreiben. Dabei finden sich
in “That Summer” alle möglichen Formen, in denen diese
gewaltvollen Erfahrungen in unserer Gesellschaft behandelt
werden.


Mannigfaltig sind die Entschuldigungsformeln: “Jungs müssen sich
ihre Hörner abstoßen.” So formuliert es der alte Vater des
Vergewaltigers oder auch kürzer “So sind junge Männer eben.”


Dem Opfer wird eine Mitschuld gegeben: “Sie wusste doch, worauf
sie sich einlässt, wenn sie auf die Abschlussparty des Sommers
geht und dort auch noch Alkohol trinkt.”


“Vielleicht hätte sie nicht so flirten sollen.”


In den Diskussionen wird darauf hingewiesen, dass sich der
damalige Täter von damals geändert hätte, und dass er vielleicht
nicht so gehandelt hätte, wenn man ihm nicht die Möglichkeit
gegeben hätte.


Ein Grund, der letztendlich sowohl Diana als auch Daisy in ihrem
Umgang mit den Folgen der Vergewaltigung zur Offenheit zwingt,
ist Daisys 15jährige Tochter. Der drohende Schrecken sich immer
wiederholender Ereignisse führt beide dazu, über die Ereignisse
dieses Sommers zu sprechen.


Nun ist natürlich die Frage, warum “That Summer” noch in diesem -
mittlerweile doch abgekühlten - Sommer gelesen werden sollte:
Jennifer Weiner hat einen Roman geschrieben, der sich mit
überraschenden Wendungen einem schwierigen Teil unserer
Gesellschaft nähert. “That Summer” ist leicht zu lesen, aber
keine einfache Lektüre. Wie auch, wenn die Auswirkungen einer
Vergewaltigung für die Betroffenen lang und traumatisch sind, die
niemals vollkommen geheilt werden können und ein anderes Leben
erzwingen? Jennifer Weiner nähert sich der komplexen Thematik
nuanciert und präzise, aber nicht reißerisch oder polemisch.


Ihr Verdienst ist es, die Möglichkeiten zu zeigen, die eine sich
verändernde Gesellschaft bietet und die Kraft weiblicher
Freundschaften zu feiern. Das mögen manche als kitschig
empfinden, ist aber einer der Gründe, warum der Bums hier noch
nicht brennt.


Im Internet (wo sonst?) wurde “That Summer” kontrovers
diskutiert. Es wurde auf einige Inkonsistenzen hingewiesen, im
Wesentlichen hangelten sich gelegentliche Kritiken an den
entschuldigenden Argumentationslinien der Vergewaltiger und ihrer
Kompliz*innen entlang, eine politische Agenda der Verrisse war
dabei oft unverkennbar.


“That Summer” und die Diskussion könnte - wieder einmal - ein
Anstoß sein, über unsere Gesellschaft zu sprechen und zwar
miteinander. Als die me too Bewegung bzw. die Berichte und
Auswirkungen - Stichwort Cancel Culture unsere Breitengrade
erreichte, wurden in meinem Bekanntenkreis in den diversen Bars
und Kneipen der Stadt viele erhitzte Diskussionen geführt, deren
Schwerpunkt immer Fragen waren, ob es wirklich gerechtfertigt
sei, dass z. B. ein begabter Schauspieler seine Jobs infolge von
Anschuldigungen verliert, obwohl noch kein Gericht seine Schuld
festgestellt hat. Nie, wirklich nie, wurde mir oder den
anwesenden Freundinnen und Frauen die Frage gestellt, was denn
unsere Erfahrungen sind. Versuche, über die Kultur sexueller
Übergriffe und Vergewaltigungen und ihre Folgen und Auswirkungen
zu sprechen hat es immer wieder gegeben. In den vergangenen
Jahrzehnten gab es immer wieder Berichte und Studien, immer
schockierend, in welcher Vielzahl und Gewöhnlichkeit diese
Übergriffe erfolgen.


 Ich bin es satt. Ich habe keine, wirklich gar keine Lust,
über die Folgen für die Vergewaltiger und Arschgrapscher zu
sprechen. Es ist mir egal, ob sie Freundinnen und Freunde und
Jobs und eine Karriere und den Respekt der Gesellschaft verlieren
und ob sie vor den Enthüllungen in ihrer Profession die Kunst auf
eine neue Stufe gehoben haben. Immer und immer wieder kommen
Männer mit ihrem übergriffigen Verhalten durch. Der letzte
US-Präsident ist dabei nur ein besonders krasses Beispiel,
gewählt wurde er trotzdem, auch von der Mehrheit der weißen
Frauen. Es sind nicht nur Länder wie Indien oder der
südamerikanische Kontinent, in dem diese Übergriffe stattfinden.
Es sind eure Freundinnen, eure Nachbarinnen, die Barkeeperinnen,
die Kolleginnen. Sie alle haben diese Geschichten auf Lager, der
einzige Ausweg ist, den Mund aufzumachen und die Gesellschaft und
ihre Institutionen zu zwingen, die Täter zu hindern und zu
bestrafen. Bevor ihr das nächste Mal über einen “gecancelten”
oder mit Vorwürfen konfrontieren Schauspieler sprechen möchtet,
fragt sie lieber, wie es ihnen bisher so ergangen ist (und seid
nicht enttäuscht, wenn sie nicht darüber sprechen wollen)


Am Ende vom Tag können doch alle froh sein, dass die meisten
keine Rache, sondern nur Respekt und Gleichberechtigung wollen.


Warum diesmal dieser Rant? Dazu hat mich die Lektüre von Jennifer
Weiners “That Summer” getrieben. Ein Roman, der Auswirkungen hat.


Nächste Woche diskutieren Anne Findeisen, Irmgard Lumpini und
Herr Falschgold die Bücher der letzten Wochen. Wer vorlesen
möchte findet diese auf lobundverriss.substack.com


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