Harper Lee: "Gehe hin, stelle einen Wächter"

Harper Lee: "Gehe hin, stelle einen Wächter"

9 Minuten
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Beschreibung

vor 3 Jahren

Im Jahr 1960 erscheint der Roman To Kill a Mockingbird oder: Wer
die Nachtigall stört, wie er auf deutsch besser bekannt ist, der
amerikanischen Autorin Harper Lee. Bereits drei Jahre zuvor
verfasste die Autorin ein Manuskript mit dem Titel Go Set a
Watchman, welches den Erstentwurf zu ihrem späteren
Weltbestseller darstellt, jedoch nie veröffentlicht wurde.
Möglicherweise ist es angesichts der damaligen Rassenunruhen zu
nah am Tagesgeschehen und Harper Lee wird empfohlen, ihre
Geschichte lieber in den 1930er Jahren anzusiedeln. Und so
verschwindet Gehe hin, stelle einen Wächter, so der Titel des
Entwurfs auf deutsch, für lange Zeit in einem Tresor und wird
erst 2011 in einem Bankschließfach wiederentdeckt und 2015
schließlich veröffentlicht und damit der breiten Masse zugänglich
gemacht. Obwohl die Geschichte zeitlich in den 1950er Jahren
angesiedelt ist und auch die Protagonisten die selben wie in Wer
die Nachtigall stört sind, ist es nicht als
Fortsetzungsgeschichte zu verstehen. Daher werde ich es als
unabhängigen Roman und nicht im Vergleich rezensieren.


Die 26-jährige Protagonistin Jean Louis Finch macht sich, wie
jedes Jahr, in ihrem 2-wöchigen Urlaub auf den Weg von New York
in ihre Heimatstadt Maycomb in Alabama. Dort wird sie von ihrem
Jugendfreund Henry Clinton, kurz Hank genannt, vom Bahnhof
abgeholt. Der vier Jahre ältere Hank, der selbst aus eher
bescheidenen Verhältnissen stammt und Jura studiert hat, wurde
von Jean Louis' Vater Atticus Finch, der selbst seit Jahrzehnten
als Jurist tätig ist, unter seine Fittiche genommen. Er kennt
somit nicht nur Jean Louis von Kindesbeinen an, sondern ist auch
eine Art Ziehsohn für den Vater und damit ein Stück weit bereits
Teil der Familie geworden. Zudem möchte er Jean Louis irgendwann
heiraten, die ihm diesbezüglich jedoch ausweicht.


Zu Hause angekommen, erwarten Jean Louis ihr Vater Atticus sowie
deren Schwester Alexandra, die ebenfalls mit im Haus lebt, seit
die ehemalige, farbige Haushälterin Calpurnia zu alt und im
Ruhestand ist und der Vater unter Gelenkrheumatismus leidet und
Hilfe im Alltag und Haushalt benötigt. Da Jeans Mutter bereits
verstarb, als sie noch ein kleines Kind war, hat sie keine
Erinnerungen mehr an sie und fand in Calpurnia eine Art
Mutterfigur, wohingegen sie zu ihrer Tante ein eher distanziertes
Verhältnis hat. Auch ihr Bruder Jeremy ist bereits vor einigen
Jahren verstorben, da er wie die Mutter an einer genetisch
bedingten Herzerkrankung litt. Das familiäre Personal ist also
eher spärlich und es bleibt noch Atticus' Bruder und damit Jean
Louis Onkel Dr. John Hale Finch, kurz Jack, zu nennen, der nicht
nur pensionierter Arzt ist und ein gutes Verhältnis zu seiner
Nichte pflegt, sondern auch eine Vorliebe für viktorianische
Literatur hat, „eine Leidenschaft, die ihm den Ruf einbrachte,
der gebildetste allgemein anerkannte Exzentriker in Maycomb
County zu sein.“ (S.104) Das erste Aufeinandertreffen mit ihrem
Onkel Jack im Roman findet statt, als sich die Familie zum
gemeinsamen Kirchenbesuch trifft. Während dieses Besuches fällt
auch das Bibelwort, welches gleichzeitig den Titel des Romans
bildet und im Buch des Propheten Jesaja in Kapitel 21, Vers 6 zu
finden ist: „Denn der Herr sagte zu mir: Gehe hin, stelle einen
Wächter, der da schaue und ansage.“ Jean Louis Onkel nimmt dieses
Zitat zu einem späteren Zeitpunkt im Roman noch einmal auf, doch
bis dahin ist es nötig, den Fortgang der Handlung näher zu
beschreiben.


Harper Lee teilt ihr Werk in sieben Teile mit insgesamt 19
Kapiteln auf. Zu Beginn des Buches geht es vor allem um Jean
Louis' Anreise, ihre Gedanken und Erinnerungen an früher, ihre
bisher gemeinsam verbrachte Zeit mit Hank, aber auch verschiedene
Kindheitserinnerungen an ihren Bruder. Einfühlsam und, für mich,
bestechend nachvollziehbar, beschreibt die Autorin hier den
inneren Konflikt ihrer Protagonistin, die abwägt, was eine
mögliche Heirat mit Hank und eine Wiederkehr in die alte Heimat
für sie bedeuten würde. Die Entfremdung die sie dabei empfindet,
wird besonders deutlich an einer Kaffeevisite, die ihr zu Ehren
von ihrer Tante initiiert wird. Die anwesenden Damen,
größtenteils älter als sie, aber auch ehemalige
Klassenkameradinnen sind ihr fremd und mit deren Themen kann sie
nichts anfangen. Die Vorstellung sich in diese Gesellschaft
einfügen zu müssen, wenn sie Hank heiraten würde, ist ihr
zuwider.


Das Gefühl, sich nicht nur in eine andere Richtung entwickelt zu
haben, sondern auch in einem anderen Wertesystem zu leben,
erfährt jedoch seinen Höhepunkt, als sie zufällig ein Magazin
ihres Vaters durchblättert, in dem die Farbigen als „schwarze
Pest“ bezeichnet werden. Von ihrer Tante erfährt sie zudem, das
sowohl ihr Vater als auch Hank Mitglieder im Bürgerrat seien, der
zufällig gerade tagt. Sofort macht sie sich auf den Weg zur
Versammlung und muss fassungslos dabei zusehen und – hören, wie
Hetzreden gehalten werden und ihr Vater selbigen nicht
widerspricht. „...aber da saßen sie, überall im Saal. Männer mit
Gewicht und Charakter, verantwortliche Männer, gute Männer.
Männer aller Art und allen Ansehens.“ (S.127) Eine Welt bricht
für Jean Louis zusammen und das, aus gleich zwei Gründen. Zum
Einen weil sie erkennen muss, dass der Rassismus in ihre einstige
Heimat Einzug gehalten hat und Menschen, die sie einst
respektiert und geschätzt hat, nicht die Größe besitzen, sich dem
entgegenzustellen. Und zum Anderen, dass ihr Vater einer von
ihnen ist. Atticus Finch, den sie selbst geradezu glorifiziert
hat, der von allen Menschen geschätzt wird, als durch und durch
integrer Mann beschrieben wird und selbst schon öfter Schwarze
vor Gericht vertreten hat, entpuppt sich als Befürworter
rassistischen Gedankenguts. Jean Louis, selbst unter einer
Schwarzen herangewachsen, kann hierfür keinerlei Verständnis
aufbringen.


In der Folge kommt es zu mehrfachen Streitgesprächen zwischen
Jean Louis und Hank, ihrem Onkel Jack und ihrem Vater Atticus,
die sie als Heuchler bezeichnet und sich in weiteren
Beschimpfungen ergeht. Alle drei versuchen sie zu beschwichtigen
und ihr mittels fadenscheiniger Begründungen klarzumachen, dass
sie das Richtige tun. Sie argumentieren, dass man manchmal etwas
tun müsste, was man nicht möchte, um ein Ziel zu erreichen. Oder
aber auch, dass die schwarze Bevölkerung noch nicht reif für voll
umfängliche Staatsbürgerrechte sei. Argumente wodurch sie selbst
ihre Selbstgerechtigkeit und Doppelmoral freilegen. Die
Erklärungsversuche ihres Onkels – sich über mehrere Seiten
erstreckend – empfand ich dabei als sehr verklausuliert und
schwer nachvollziehbar. Möglicherweise nutzt Harper Lee dies aber
auch als Stilmittel um genau den Effekt der Verwirrung, wie sie
ihre Protagonistin empfindet, beim Lesenden hervorzurufen.
Letztlich ist es auch ihr Onkel, der seine Nichte durch einen
gezielten Schlag ins Gesicht dazu bringen muss, ihr zuzuhören –
eine mehr als fragwürdige Methode – der ihr sagt: „[...] der
Wächter eines jeden Menschen ist sein Gewissen. So etwas wie ein
kollektives Gewissen gibt es nicht.“ (S. 300) Was er damit sagen
will ist, dass sie sich von ihrem Vater gelöst hat, ihn nicht
mehr als unfehlbar betrachtet und ihr eigenes Gewissen gefunden
hat.


Hierdurch wird deutlich, wie feinsinnig Harper Lee verschiedene
Themen miteinander verquickt. Die Rassentrennung als politisches
und gesellschaftliches Thema im Großen, verbunden mit dem
Heranwachsen ihrer Protagonistin, deren Familienleben von eben
jenen Themen beeinflusst, aber auch gespalten wird. Deren eigener
moralischer Kompass in eine andere Richtung zeigt, als jener der
Menschen, die einst ihr behütetes zu Hause gebildet haben und von
denen sie sich nun betrogen fühlt. Es ist aber nicht nur der
Schmerz dieser Erkenntnis einer jungen Frau, sondern auch eine
Absage an deren Werte und eine Entwicklung hin zu einem
Individuum. Das Ende, ohne an dieser Stelle zu viel zu sagen,
könnte man als versöhnlich beschreiben. Ich fand es eher etwas
unbefriedigend und zum Rest des Romans nicht konsequent genug.


Nichtsdestotrotz ein lesenswertes Buch, das vor allem von seiner
traurigen Aktualität und seinen nachvollziehbaren und spürbaren
Bildern lebt.


In der nächsten Woche bespricht Irmgard Lumpini Jennifer Weiners
Roman "That Summer", der dem Titel nach eine Sommerlektüre
verspricht, aber dann doch dunkle Wendungen nimmt.


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