Achim Wesjohann: Freiheit statt Liberalismus
15 Minuten
Podcast
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Beschreibung
vor 3 Jahren
Das Studio B mit dem bedrohlichen Untertitel "Lobpreisung und
Verriss" als Podcast & Radiosendung für Literaturkritik gibt
es seit erstaunlichen vierzehn Jahren und in zumindest den
letzten fünfen hat sich mit dem Team Lumpini/Findeisen/Falschgold
eine gewissen Arbeitsteilung herauskristallisiert. Brutal
stereotypisierend gesagt, erklärt Irmgard Lumpini an ausgewählten
Werken gerne die kleinen und noch lieber die großen politischen
Themen, legt die literturstudierte Anne Findeisen in ihren
besprochenen Büchern Wert auf ausgewählte Sprache und Herr
Falschgold berichtet sporadisch aber unerschütterlich der
Hörerschaft von Fantasy und Utopie.
Und so bietet es sich doch an zum Start einer neuen Ära für das
Studio B mit wöchentlichen Podcastepisoden, transkribierten
Rezensionstexten und Nutzung der up- und coming Plattform
substack ein Werk zu besprechen, dessen Autor in feinster Sprache
und studierter Rhetorik von einer politischen Phantasie träumt:
einer spektrums- und damit parteienübergreifenden
Republikanischen Bewegung in Deutschland. Was ein Freak!
Der Freak heißt Achim Wesjohann, ist ein Niedersachse, der in
Dresden lebt, sein Geld als Geschäftsführer der Grünen im
sächsischen Landtag verdient und mittelalterliche Geschichte und
Politik studiert hat.
Als wir im März letzten Jahres auf einmal alle sehr viel Zeit
hatten, nahm er sich diese um in sechs Artikeln Grundlegendes zu
Besprechen. Das ganze passierte in Blogform, den Namen des Blogs,
"Wesjohanns Worte", erwähnen wir hier einmalig und breiten den
Mantel betretenen Schweigens über ihn. Zusammengefasst ergäben
die sechs Artikel mit Titeln wie "Freiheit statt Liberalismus",
"Republikanismus" oder, oje, "Tugend", ein kleines Bändchen,
welches, soviel Lob vorab, die Veröffentlichung in Buchform
verdient.
Warum?
Achim Wesjohann beginnt mit einem kurzen, scharf umrissenen Bild
von dem, was wir heute "Liberalismus" nennen. Je nach Herkunft
und politischer Bewußtwerdung hat jeder seine eigene postive oder
negative Haltung zum Wort und füllt es mit seiner eigenen
Bedeutung, meist: "Irgendwas mit Freiheit". Klingt total super,
ist aber so falsch wie wenig hilfreich, wenn wir alle ein Problem
haben, mit dem Liberalismus.
"Haben wir alle ein Problem mit dem Liberalismus?", fragt der
Leser.
"Haben wir.", antwortet Wesjohann.
Zur Beweisführung braucht es ein paar Definitionen, die
grundlegendsten ist, das, scheinbar wertneutral, des Liberalismus
These ist, dass der größte Nutzen in einer Gesellschaft
erreichbar sei, wenn jeder einzelne seine Interessen nur
konsequent verfolge. Mein Konjunktiv gibt meine aktuelle
Einstellung zu Sache wieder, Wesjohann macht das dankenswerter
Weise deutlich professioneller, ohne dass Langeweile aufkommen
muss. Zitat: "Der Grundgedanke des Liberalismus ist in seiner
Einfachheit so bestechend wie defizitär."
oder "Pluralismus ist unabdingbar, aber die Gleichberechtigung
gefühlter Wahrheiten.. ..mit tatsächlich wissenschaftlich
fundierten Stellungnahmen erweist sich als eine Entwicklung, die
mit Wahrheitsfindung nichts mehr zu tun hat." hört man Wesjohann
ein bisschen in sich reinkichern beim Schreiben. Wir erhalten
einen fundierten Streifzug durch die Spielarten des Liberalismus
in der jüngeren Vergangenheit und jeder zweite Satz ist
zitierbar, weil hier jemand schreibt, der scharf formulieren kann
ohne auf Effekte setzen zu müssen.
Achim Wesjohann gibt uns damit aber auch Einblicke in sein
politisches Seelenleben, was sympathisch ist und der Sache dient,
wir lesen hier schließlich keine Dissertation, sondern ein
politisches Statement, ja ein Pamphlet, und es hilft ja
prinzipiell eines Autors Haltung zur Sache zu kennen, um eine
Meinung zu Thema und Text zu entwickeln.
Der Grundkonflikt den Wesjohann mit dem Liberalismus hat, ist,
dass sich dieser in den letzten 40 Jahren als "Individualismus
over alles" definiert hat, ein in sich geschlossenes Weltbild,
wie auch Wesjohann anerkennen muss, welches als Credo hat, alles,
was die Interessen des Individuums beschränke, sei
einzuschränken.
Klingt ohne drüber nachzudenken nicht wirklich schlimm, wer mag
schon eingeschränkt leben. Darüber nachzudenken lädt uns der
Autor jedoch ein und es ist ja auch wirklich nicht schwer:
Wenn wir auf der einen Seite des Freiheitsspektrums aktuell
Silicon Valley Milliardäre haben, die mit Plattformen zur
freiesten aller Meinungsäußerungen ihr Geld verdienen und auf der
anderen Seite diejenigen, die auf diesen Plattformen, total frei,
z.B. einen Präsidenten ins Weiße Haus manipulieren, der um ein
Haar die ganze schöne Freiheit einkassiert und dass lupenreine
Demokraten auf der östlichen Seite des Globus das dazu benutzen,
in ihren total demokratischen Staaten die Plattformen zur
freiesten Meinungsäußerung zu verbieten, man sieht ja was bei
rauskommt, dann muss man nicht groß nachdenken um zu wissen: die
Freiheit ist leicht in Gefahr.
Nur, wer meldet sich, sie zu beschützen? Die mit den Plattformen?
Die mit dem Geld für die Lobbyarbeit? Die gegen den Mindestlohn,
die den Leuten damit drei Jobs abverlangen, bis sie abends vor
Erschöpfung nicht mehr denken können? Die gegen
öffentlich-rechtliche Medien sind? Also die, die die Massen aus
Versehen, absichtlich oder irgendwas dazwischen, zur
Manipulationsmasse machen, kurz: Die Liberalen?
"Danke, setzen." sagt Wesjohann und präsentiert uns eine Idee.
Aber, bevor er das tut und weil kein Autor nur von sachlich
hergeleiteten Argumenten leben kann, hier: "Liberalismus: gute
Idee, leider unpraktisch", lässt Wesjohann in “Freiheit statt
Liberalismus II” kurz die Boxhandschuhe weg und das Blut
spritzen. Mir ist's Recht und es artet nicht so aus, dass es die
fundierten Ansagen des ersten Teils unterminierte. Im Gegenteil
zeigt sich schnell, wie Recht man als Autor (und Spaß als Leser)
auch mit härteren Aussagen haben kann. Zitat "Die altgriechische
Bezeichnung idiotes für Menschen, die sich nur um ihre privaten
Angelegenheiten interessieren und sich vom politischem Leben
fernhalten, soll nicht wertend gewesen sein, aber die Formel
„privat statt Staat“ kann man heute mit Recht idiotisch finden.
Von dieser Art Freiheit werden die Reichen immer mehr haben, weil
sie sich den Verzicht auf öffentliche Institutionen leisten
können. Für alle anderen bedeutet dieser Verzicht das Fehlen von
Teilhabemöglichkeiten, also von Möglichkeiten der
Selbstentfaltung. Das ist der (vielleicht nur scheinbar) paradoxe
freiheitsbeschränkende Effekt des Liberalismus." Wirkungstreffer,
die Runde geht an Wesjohann.
Jetzt aber, im ganz einfach "Republikanismus" überschriebenen
dritten Teil, tut der Autor nun Butter bei die Fische, wie man
wohl in Niedersachen sagt, was weiß ich schon als Zoni. Als
ein solcher zucke ich zunächst ob des Wortstammes zusammen, waren
doch die "Republikaner" in meiner Jugend, kurz nach der Wende in
die beigetretenen Gebiete eingezogen, sich mit der, mich schon in
der seligen DDR peinigenden zonalen Neonaziszene zu verbünden, um
nicht nur Ausländer nicht nur rauszuschmeißen. Wesjohann geht
darauf mit keinem Wort ein, dass ist hier ein Text über
Republikanismus, nicht über "die Republikaner", also hör' auf zu
zucken.
Ok, wir verstehen, es geht um die Republik, die res publica, das
Gemeinwesen, demokratisch organisiert. Und obwohl wir ob des
Liberalenbashing der ersten beiden Kapitel befürchteten, es gehe
um die Republik als Alternative zum Liberalismus, macht uns
Wesjohann klar, dass er den Republikanismus, das Gemeinwohl also,
als den eigentlichen *Verteitiger* des Liberalismus sieht.
Freiheit als Abwesenheit der Unterdrückung durch "Mächtige"
funktioniert nur, wenn Du selbst ermächtigt bist und ermächtigt
bist Du in einer Republik. Darauf kann man auch selbst kommen.
"Ermächtigung" klingt super, wenn man sie als "Machtteilhabe",
also, zumindest einen "Teil Macht haben" umstellt wird es immer
reizvoller, wer will nicht wenigstens einen kleinen Teil Macht im
Leben. Wenn man sich aber herkömmliche Machthaber anschaut, sind
das alles 80h-Arbeitswochentiere und selbst wenn man nur ein
klitzekleines Bisschen was zu sagen haben will, muss man
eventuell ein paar Abende statt im Biergarten in den Zentralen
der republikanischen Macht verbringen. Bürgerrechte sind auch
Bürgerpflichten, Frau Bierliebhaberin. Und wenn man schon keine
Lust hat im Zentrum der Macht einer Ortsbeiratssitzungen zu
sitzen, muss man sich überlegen, ob es nicht gerade derzeit
wichtig ist an den Außengrenzen des eigenen Machtbereiches aktiv
zu werden. Wie oft zum Beispiel ist der gemeine Biertrinker bei
Anti-Pegida-Kundgebungen? Und da fangen wir noch gar nicht an,
davon zu reden, was passiert, wenn das Gemeinwesen nicht von
innen sondern von Außen bedroht ist. Wehrpflicht, Baby!
Hier purzeln wir vom woken Traum in die Realpolitik. Wesjohann,
als Grüner in Sachsen in dieser traumlosen Welt zu Hause, nimmt
das entsprechend nicht zum Anlass zu jammern und verzagen, er
geht in den Angriff und argumentiert, Achtung, wir kommen zur
Grundidee: wenn hier schon so mancher Linke seine Traumwolke
verwehen sehen wird, um die Freiheit zu verteidigen, kann man das
doch dem Konservativen oder gar dem Liberalen zum Vorbild halten,
Opfer in seinen ideologischen Himmelreichen zu bringen und, sich,
von mir aus die Nase zuhaltend, mit dem "politischen Gegner"
parteiübergreifend republikanisch zu organisieren, gewissermaßen
eine Metapartei zu gründen, im Interesse und zum Schutz der
Freiheit aller Bürger und damit der Republik.
Was ein Freak, der Wesjohann.
Und ein mutiger zudem. Kaum hat er den lesenden Progressiven mit
"Wehrpflicht" geschockt legt er mit "Patriotismus" nach und
schafft es dabei mir argumentativ sowohl die Angst vor ihm ein
wenig zu nehmen (vor dem Heimatstolz nicht dem Wesjohann) als
auch so manchem interessierten Nationalkonservativen einen
kleinen Angstschiss zu bereiten, mit dem sehr schön beiläufigen
Fallenlassen eines "Ideal einer Weltrepublik". Ich konnte keine
Ironie erkennen und habe mich köstlich amüsiert.
Und wenn wir alle miteinander schon mal kalt geduscht sind, macht
unser Autor gleich weiter mit dem zwangsläufigen Thema
"Staatsbürgerschaft". Dort wird es ebenso zwangsläufig sehr
schnell eng zwischen zwei Argumenten: Diese sind auf der
einen Seite Zitat, "Wer wählt sollte Bürger*in des Staats..
..sein" (und mit "sollte" ist eindeutig "muss" gemeint) und,
wieder Zitat und sehr mutig, dass "der Zugang zur
Staatsbürgerschaft ohne weiteres möglich sein muss". Auf der
anderen Seite steht die nicht nur metaphorischen Mauer, die man
doch bauen muss um Feinde der Freiheit von einer Republik fern zu
halten. Das weiß Wesjohann natürlich und ist groß genug
zuzugeben, dass man mit dem Loblied auf die Republik nicht alle
deren Unvollkommenheiten lösen kann.
Ob clickbait oder Freude an der Provokation, Teil 5 des Textes
müsste wieder mit einer Triggerwarnung versehen werden, denn
"Tugend" wird im Allgemeinen in CDU-Parteiprogrammen verortet,
nicht in vorwärts gewandten Blogbeiträgen. Ok, wir klicken und
atmen erleichtert auf, es war clickbait, Wesjohann erspart uns
metaphorische Ausflüge in katholische Mädchenheime und vertieft
statt dessen noch einmal den Umstand, dass Freiheit nicht
(allein) Besitz sein kann sondern (zwingend) Teilhabemöglichkeit
benötigt. Und er geht einen Schritt weiter und zeigt auf, dass es
mit der alleinigen Möglichkeit leider nicht getan ist, sorry, no
Biergarten today, Ortsbeiratssitzung it is, denn nur wenn Du Dich
einbringst, kannst Du verhindern, dass der Biergarten einem
Parkplatz weicht. Oder auf lateinisch "et quae, si aequa non est,
ne libertas quidem est", aha, der Cicero wird zitiert. Frei
übersetzt: "Demokratie, baby!". Glaube ich, Wesjohann hat das
schließlich studiert.
Brachte Kapitel 3 argumentativ die Butter bei die Fische kommen
zum Schluss die Stampfkartoffeln. Wie wird aus einer
republikanischen Idee eine republikanische Tat, eine Bewegung
gar? Seit 2010 heißt das "Agenda", so auch dieses Kapitel. Wir
versuchen unser Unwohlsein zu verbergen und lesen von einem
Demokraten der sichtlich erschöpft ist von der Dummheit des
Freiheitstheaters zwischen "Freie Fahrt für freie Bürger" und dem
Kampf ums "Zigeunerschnitzel". Wir lesen von einem lebenslang
engagierten Autoren, einem der, erstaunlich genug, noch immer
nicht die Hoffnung aufgegeben hat, er wünsche sich eine
Versammlung, ein Forum, in dem sich Menschen um einen
republikanischen Minimalkonsens herum treffen und endlich wieder
etwas substantiell besprechen und dabei noch nicht einmal
Antworten finden müssen, sondern zunächst Fragen stellen sollen.
Er wirft gleich mal zwei in die Runde, den Patriotismus und die
Dienstpflicht an der Gesellschaft. Zugegeben, damit bekommt man
ein stattliches Spektrum Menschen mit einer stattlichen Fülle an
Argumenten, und so das Ziel, zusammen. Oder auch nicht.
Wesjohanns Wortbeitrag (ich bitte um sofortige Umbenennung des
Blogs) kommt aus der Mitte der Gesellschaft ohne opportunistisch
zu sein und ist radikal ohne an den Rändern zu fischen. Er
beantwortet bewusst fast keine der von ihm gestellten Fragen,
dazu ist er lange genug in der Politik.
Das hier ist eine Rezension, also sollte die Frage beantwortet
werden: "Guter Text?", nicht "Richtiger Text?" Eine Antwort
erhält Wesjohann vielleicht mal in einem Essay im Studio P, wie
Politik oder Polemik, hier im Studio B, wie Buch, erhält er von
mir die Bestätigung, dass es einem alten Kyniker wie dem Herrn
Falschgold ein bisschen warum ums Herz geworden ist. Ich war nie
Nichtwähler, dazu haben wir uns 89 zu lange auf den Straßen
rumgetrieben und, zugegeben, war ich auch nie FDP-Wähler, weil,
äcks. Aber eine heftige Portion Verdrossenheit mit der deutschen
politischen Umgebung ist schon lange da, ich habe nicht umsonst
kein Abo einer deutschen Zeitung, dafür zwei aus dem westlichen
Ausland.
Aber das kann sich ändern, wenn Achim Wesjohanns Vision auch nur
einen Hauch näher an die Realität rückt. Ich sehe mich nicht im
Ortsbeirat, geschweige denn in höchsten Ämtern, aber mal ganz im
Ernst: am Ende werde ich Republikaner.
Bitte reißen Sie diesen Nebensatz jetzt aus dem Zusammenhang.
Nächste Woche geht es Anne Findeisen um eine Autorin, nämlich
Marieke Lucas Rijneveld, die viele sicher von der kürzlichen
Debatte um die Übersetzung des Gedichtes von Amanda Gorman zur
Amtseinführung Joe Bidens kennen. Besprochen wird ihren Roman
“Was man sät”.
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