Tove Ditlevsen: Kindheit
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Beschreibung
vor 3 Jahren
Sie fragen, ob ihre Verse gut sind. [...] Gehen Sie in sich.
Erforschen Sie den Grund, der Sie schreiben heißt; prüfen Sie, ob
er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt,
gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müssten, wenn es Ihnen
versagt würde zu schreiben. Dieses vor allem: fragen Sie sich in
der stillsten Stunde der Nacht: muss ich schreiben? Graben Sie in
sich nach einer tiefen Antwort. Und wenn diese zustimmend lauten
sollte, wenn Sie mit einem starken und einfachen ˃Ich muss˂
dieser ernsten Frage begegnen dürfen, dann bauen Sie ihr Leben
nach dieser Notwendigkeit; Ihr Leben bis hinein in seine
gleichgültigste und geringste Stunde muss ein Zeichen und Zeugnis
werden diesem Drange. (Briefe an einen jungen Dichter, S. 6/7)
Dieses Zitat, das einem Briefwechsel zwischen dem Offizier Franz
Xaver Kappus und Rainer Maria Rilke entstammt, und in Briefe an
einen jungen Dichter erschienen ist, kam mir unweigerlich in den
Sinn, als ich Tove Ditlevsens Roman Kindheit las.
Tove Ditlevsen wurde 1917 in Kopenhagen geboren und ihr Roman
Kindheit, der den ersten Band ihrer Kopenhagen-Trilogie bildet,
bereits 1967 in Dänemark veröffentlicht. In deutscher Übersetzung
ist er erstmalig erst seit Anfang dieses Jahres, zusammen mit den
beiden anderen Bänden Jugend und Abhängigkeit, im Aufbau Verlag
erhältlich.
In ihrem autofiktionalen Roman beschreibt sie ihre Kindheit im
Arbeitermilieu, dem sie entstammt. Ihr Vater ist Heizer und steht
damit gesellschaftlich unter den Handwerkern, was zur Folge hat,
dass er auch wesentlich schlechter verdient als diese und die
Familie unter finanziellen Nöten zu leiden hat. Dennoch ist er
kein Säufer, so wie die meisten Männer in diesem Umfeld
beschrieben werden, beispielsweise ihr Onkel, der von allen nur
der „Schluckspecht“ genannt wird. Toves Vater behandelt sie gut,
schenkt ihr sogar Bücher, dennoch nimmt er ihr jede Illusion,
dass sie einmal selbst Dichterin werden kann, doch das ist ihr
sehnlichster Wunsch:
„Doch selbst wenn sich niemand sonst für meine Gedichte
interessiert, bin ich gezwungen, sie zu schreiben, denn sie
dämpfen die Trauer und Sehnsucht in meinem Herzen“ (S.107)
Tove fällt ohnehin in den so genannten “Zuständigkeitsbereich“
ihrer Mutter, doch das Verhältnis der beiden wirkt eher kühl.
Fast bekommt man als Leserin den Eindruck, dass die Mutter der
Tochter feindselig gegenübersteht oder zumindest gleichgültig.
Die Protagonistin selbst, findet eigene, klare Worte, die das
Verhältnis zu ihrer Mutter folgendermaßen beschreiben:
„Also mag sie mich vielleicht doch? Mein Verhältnis zu ihr ist
eng, qualvoll und unsicher, und nach Zeichen von Liebe muss ich
immer suchen. Alles, was ich tue, dient dazu, ihr zu gefallen,
sie zum Lächeln zu bringen, ihren Zorn abzuwenden.“
Toves Weg ist vorgezeichnet: nach der Schule, die mit der
Konfirmation endet, muss sie sich eine Anstellung suchen – der
Besuch des Gymnasiums wird ihr verwehrt – und einen Mann finden
der sie heiratet (am besten einen Handwerker) und der ein gutes
Einkommen hat, so dass sie nicht mehr arbeiten gehen muss. Doch
ihr Interesse an Männern richtet sich eher auf diejenigen, die
sich ebenfalls mit Literatur befassen oder ihr bei der
Verwirklichung ihres Traumes nützlich sein könnten.
In dieses Milieu eingebettet entsteht vor meinem geistigen Auge
das Bild eines Mädchens – denn der Roman Kindheit endet mit ihrem
14. Lebensjahr – dessen Alltag geprägt ist von Andersartigkeit
und dem damit einhergehenden Gefühl von Einsamkeit. Weil eben
Schreiben, das Bilden von Wörtern und Aneinandereihen von Sätzen
das Einzige ist, was sie wirklich glücklich macht und sie auch
vor der Wirklichkeit schützt. Dieses Schreiben dient gleichsam
der Abnabelung von den Eltern, doch hat sie bei ihnen keinen
Raum, der nur ihr allein gehört. Eine Thematik, die auch Virginia
Woolf in ihrem bereits 1929 veröffentlichten Essay Ein Zimmer für
sich allein thematisiert und deren Wichtigkeit hervorhebt. In
Ermangelung dieses Rückzugsortes trägt Tove ihr Poesiealbum, in
das sie all ihre Gedichte schreibt, stets bei sich und ist dies
einmal nicht der Fall, versteckt sie es in einer Wäschschublade
ganz unten.
Ihr Wunsch, Dichterin zu werden, treibt sie an, birgt aber
gleichzeitg auch viele Ängste, wie die, sich nicht selbst
versorgen zu können. Während ihre Kindheit vorher nicht
ausschließlich als etwas Positives gezeichnet wird, tritt mit dem
bervorstehenden Ende selbiger und der großen Angst vor
Veränderungen eine Verklärung ein: „[...] die Konfirmation ist
der Grabstein auf einer Kindheit, die mir jetzt hell, geborgen
und glücklich vorkommt.“ (S. 96) Ihre Zukunft nimmt sie geradezu
als „monströse[n], übermächtige[n] Koloss“ war, „der bald auf
[sie] herabstürzen und [sie] zertrümmern wird.“ (S.91)
In Kindheit begleiten wir ein heranwachsendes Mädchen, dass
geleitet wird von seinem Drang, seinem ich muss, Dichterin zu
werden. Die schnörkellosen, sorgfältigen und feinsinnigen
Beschreibungen lassen das Geschilderte ganz nah erscheinen und am
Innenleben der Protagonistin, welches sich wenig von dem der
Autorin unterscheiden mag, teilhaben. Sie reißt einen mit und man
empfindet die selbe Dringlichkeit weiter zu lesen, wie sie Tove
Ditlevsen verspürt haben mag, zu schreiben. Es stellt sich
außerdem der Eindruck und die Faszination ein, dass sie ihrer
Zeit voraus
gewesen sein muss.
Auf gerade einmal etwas mehr als hundert Seiten schafft es Tove
Ditlevsen eine Vehemenz und Intensität des von ihr gewollten
Lebens zu beschreiben, dass es schließlich – so wie ihr
unvermeidlicher Werdegang auch – unausweichlich ist, die beiden
anderen Bände ebenfalls zu lesen und sie als das zu sehen, was
sie sind: nämlich großartig.
Es ist ein Geschenk, dass ihre Bücher nun, nach über 50 Jahren,
endlich in wunderbarer Übersetzung von Ursel Allenstein, auf
deutsch erschienen sind und es bleibt nur zu hoffen, dass es Tove
Ditlevsen zumindest posthum zu einem größeren Ansehen in
Deutschland verhilft. Die Kopenhagen-Trilogie – eine absolute
Empfehlung!
Enden möchte ich mit den Worten der Autorin selbst:
„Mein einziger Trost in dieser unsicheren, wankenden Welt bestand
darin, Gedichte wie diese zu schreiben: Einst war ich jung und
schön und glühend,
so voller Freude und Schalk.
Wie eine zarte Rose, erblühend.
Jetzt bin ich vergessen und alt.
Damals war ich zwölf.“
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