Robert Thorogood: “The Marlow Murder Club”
11 Minuten
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Beschreibung
vor 3 Jahren
Miss Bechdel oder Der whodunit in Zeiten des Feminismus
Ein Tag voller Stress, der Winter hat uns im Griff. Wir drehen
die Heizung auf die 5, setzen uns in den tiefen, weichen
Fernsehsessel, den Feierabendwhisky in der Hand. Die Show
beginnt, immer, mit einem “fade from black”. Also kein harter
Schnitt, nein, ein sanftes Einblenden. Eine Oboe spielt ein altes
Lied. Wir erkennen es wieder. Die Landschaft sattgrün, die Kamera
wackelt ein wenig, wir schauen mit ihr in ein fremdes Land.
Engeland.
Gleich wird ein Mord geschehen, es ist uns herzlich egal. Wir
schauen gebannt auf die saftigen Wiesen, den Himmel, blau mit den
reizendsten weißen Wolken, im Hintergrund kündigt sich Regen an.
Ein schmaler Fluß, schilfbeufert, ein kleines Wäldchen, ein Weg.
Die Kamera sucht ein Haus, Fachwerk, mit geduckten Türen. Durch
kleine Fenster schauen wir in ein Paradies. Es ist mitten in der
Woche, keine lärmenden Ausflügler nerven Personal und Stammgäste
des Pubs der immer “Zum Schwan”, “Zur Mühle” oder “Zum Fischer”
heißt und die mittelklasse-mittelalte Frau des Wirtes zapft ein
Bier für den Inspektor und eine Cola für seinen Serganten. Der
Sergant duckt sich durch die kleine Tür zu einer Bank mit Blick
auf den Fluß und stellt die Gläser ab. Dort sitzt der Inspektor
und trinkt nun, vormittags um elf (!), an einem Mittwoch (!) sein
erstes Ale, kalt, perfekt gezapft, mit Blick auf eine grüne
Idylle, die dir die Hornaut verätzt so f*****g grün ist sie. Die
Enten quaken, der Inspektor schluckt und ahhht. In der Ferne ein
Schuss, die Enten fliegen erschrocken aus dem Schilf.
Auch wir nehmen einen tiefen Schluck vom Wochentagswhisky während
die Oboe ihre alte Melodie spielt, die Idylle fadet nach schwarz,
es bleibt ein Schriftzug “Midsomer Murder”. Inspector Barnaby
wird gleich ordentlich zu tun haben.
Murder Mysteries und whodunits, wie die Eingangs aquarellte
Inspector Barnaby Reihe sind immer im ländlichen Raum
angesiedelt, maximal eine Kleinstadt wie Oxford kommt in Frage,
wie z.B. bei “Inspector Lewis” und dessen Prequel “Endeavor”. Der
Grund ist, daß der Eskapismus für den Leser, wenn er die Bücher
bevorzugt oder/und den Seriengucker nur so funktioniert. Wie will
man in Stories, angesiedelt in Städten wie Manchester, Sheffield,
von London nicht zu reden, mit ihren Immobilienspekulanten und
Drogenbanden, mit ihren sozialen Konflikten, mit Politik,
Demonstrationen, Brexit und Coronaleugnern dem Alltag entfliehend
seinen Whisky geniesen? Nein, ein whodunit braucht nur zwei
Zutaten: Ein Setting in leuchtendstem Grün und die sieben
Todsünden. Der Rest darf eine Buch oder TV-Folgenlänge
f**k-offen.
Und so beginnt, völlig ohne Überraschungen die neueste whodunit
Serie, und vorab, eine der besten seit langem, geschrieben von
Robert Thorogood, “The Marlow Murder Club”: Wir sind am
River Thames. Erst in London wird die Themse zum schlammigen
Moloch, hier in Marlow, irgendwo bei Oxford, ist sie ein
beschauliches, sauberes, flaches Flüsschen auf dem Spreewald-like
alt und jung in flachen Booten und mit langen Stangen gemächlich
auf und ab gondeln.
Es ist abend. Judith ist 77, sie sitzt in einem recht stattlichen
Haus am Flussufer und ist mit ihrem Leben zufrieden. Sie lebt
seit 50 Jahren allein, was in ihrem Buch ein Plus ist. Sie hat
einen Job, der sie geistig fit hält, sie setzt Kreuzworträtsel.
Nicht die ein-, ok, zweidimensionalen deutschen “Urwaldvogel mit
drei Buchstaben” Rätsel, nein und natürlich setzt sie die in der
englischsprachigen Welt vorherrschende Variante, bei der der Clue
immer aus zwei Teilen besteht, ein Wortspiel und eine clevere,
mehrdeutige Beschreibung. So gut so Cliché. Es ist ein
Sommerabend und für den gemeinen Briten sehr heiß. Wahrscheinlich
um die 23 Grad. Sie beschließt sich abzukühlen und, mit 77 fit
wie ein Turnschuh, schwimmt sie ein paar hundert Meter die Themse
hoch zum Haus Ihres Nachbarn auf der anderen Seite des Flusses,
Stefan Dunwoody. Schwimmend, jedoch verdeckt vom Schilf am Ufer
des Flusses, hört sie ihn noch ein “Oh no!” rufen, dann ein
Schuss. Fade to black, “The Marlow Murder Club” wird eine Menge
zu tun bekommen.
Was zum Teufel ist ein Murder Club, fragt man sich bange? Es
scheint, beruhigt man sich schnell, um die Aufklärung des Mordes
zu gehen, denn Judith mochte ihren Nachbarn Stefan und die
Polizei, in Person von Inspektor Tanika Malik scheint bemüht,
aber bloody clueless. Also macht sich Rätselsetzerin Judith, 77
Jahre, ledig, unabhängig, taff, auf, dem Mord ihres Nachbarn
selbst auf den Grund zu gehen. Im Zuge ihrer “Ermittlungen”
trifft sie Suzie, eine Dogwalkerin, um die fünfzig, sportlich,
stämmig und ein bisschen Asperger und Becks, eigentlich Rebecca,
Mitte dreißig, freundlich-spießig, die perfekte Ehefrau des, es
kann nicht anders sein, Pfarrers der Gemeinde von Marlow. Wir
haben einen proper Marlow Murder Club und da es in der Geschichte
des whodunit nie ein Folge mit nur einem Mord gab, gibt es
deren.. X, no spoilers please! Aber: hier, in Marlow? Einer
englische Kleinstadt aus dem Katalog? Ein paar tausend Einwohner,
zwei Schulen, eine Kirche, eine main street mit kleinen Shops und
Union-Jack-Wimpeln über der Straße, geteilt von der noch jungen
Themse, einem Setting in grün und englisch-rot? Welche Sünder
morden hier und warum?
“Aber halt, Moment mal! Die Frauenquote!”, ruft der
quotengeschulte Maskulinist empört, “Welchem subversiven
Feminismus sollen wir denn bitteschön hier auf den Leim gehen?!”
empört sich der wütend lesende Bürger. “Was soll das für ein
Eskapismus sein, bei dem einem der Fortschritt so von hinten
reingedrückt wird?”
Und recht hat er, zumindest mit dem letzten Satz, der Wutbürger
Klaus. Vor nun auch schon wieder einem Jahrzehnt fiel dem
Guardian auf , daß in unserer beliebten
Familien-Mord-und-Totschlag Serie “Inspector Barnaby” zwar eine
Menge Schweinskram vorkommt, kein guter Mord ohne Schweinskram,
aber daß alle daran Mitwirkenden verdächtig weiß sind. Nicht
kreideweiß sondern nicht-Person-of-color-weiß. Das
offensichtliche Argument der Verantwortlichen war, daß das
ländliche England nunmal so aussieht, was statistisch wie optisch
ziemlich stimmt. Aber, da es klar war, daß, wenn da schon mal der
liberale Guardian anfragt, es nur noch rassistische Wand hinter
dir gibt, schlug einer der Autoren leicht aufgeregt über die
Strenge mit der Bemerkung, das die Show “die letzte Bastion der
englishness sei” und setzte einen drauf mit der Behauptung:
“..unglaubwürdig-absurde Morde, klar, aber glaubwürdige
Nicht-Weiße in Midsomer? Die Zuschauer würden es nie akzeptieren
und ich erst recht nicht!”. Gut gebrüllt. Was kam war klar und,
siehe an, Midsomer Murder, bei uns als “Inspector Barnaby”
laufend, wurde mit schwarzen Gerichtsmedizinerinnen und
vereinzelten pakistanischstämmigen Cricketspielern weder
schlechter noch besser und nach einer gewissen Periode des
Trockenschwimmens konnte man irgendwann sogar die People of Color
nicht mehr automatisch als Bösewichte ausschließen. Progress!
“Aber, aber, all live matters!” ruft der Liberale mit “Gegen jede
Form des Extremismus!” in der Twitter-Bio und fordert eine
geschlechterparitätische Verteilung der Morde in Marlow samt
Quotenregelung für Amateurdetektive. “F**k off, snowflake!”, ruft
Robert Thorogood dem Holger zu und schreibt uns ein whodunit mit
einer Gang von weiblichen badasses in praktischen Regencapes,
Leggins und Gummistiefeln. Das funktioniert (und “Marlow
Murderclub” sollte deshalb an Schreibschulen zur Pflichtlektüre
werden) weil es der Feminismus nicht mehr nötig hat. Das die
weibliche professionelle Detektivin es natürlich drauf hat wissen
wir, noch mit ordentlich Rechtfertigungsdruck seit “The Fall”,
einer grandiosen Krimiserie mit Gillian Anderson, Akte-X, sie
wissen schon, in der Hauptrolle. Und die Amateurdetektivin als
Hauptheld hat natürlich dieser Rezension den halben Titel
geliehen und muss nicht weiter ausgeführt werden.
Das Frauen in Haupt- und wichtigen Nebenrollen weder Quote noch
sozialer Fortschrittsschmus sein müssen, zeigt uns Thorogood in
dem er den Frauen und uns glaubwürdige Backstories und
Charakterzüge gibt, eine Eigenschaft, die aus für mich
unerklärlichen Gründen in Büchern oft in dem schmalen Tal
zwischen den Gipfeln On-the-nose-Feminismus und
Cliché-Hausfrauentum viel zu selten vorkommen, währenddessen sie
doch im realen Leben der endlos breite Ganges zwischen dem
Himalaya des Hyper-Woken-Cancel-Culture-PC-tums und dem indischen
Ozean des faschistisch retrograden Maskulinismus sind. (Ja, das
Bild ist in sich schlüssig, wirklich, ich hab lange dran
gearbeitet. Und ja, das war es mir wert).
So wenig wie eine Leserin Mordgelüste spüren muss um sich an
einem wohlgeplanten Mord in einem whodunit zu ergötzen (und
dessen Aufklärung! Jesus..) muss ein Leser (schon biologisch) nie
in Gefahr gelaufen sein, wie Becks in einer “Berufsehe” als
Pfarrersfrau zu landen, in der er jede Anerkennung als Person
vermisst und sich nur noch als perfekte Hausfrau verwirklicht -
und er muss sich dennoch nicht langweilen. Der Trick ist das
Balancieren auf dem Drahtseil zwischen den Clichés und wie das
geht demonstriert Robert Thorogood in “The Marlow Murder Club”
beeindruckend. Klassisch werden die red herings handvoll in die
Story gestreut wie das Fischfutter zum Anfüttern der Forellen in
die Themse. Im Gegensatz zum deutschen “Tatort” wo selbst ich
beim alle Jahre mal “hängen bleiben nach der Tagesschau” nach 20
minuten weiß wer es gewesen sein wird, lebt der englische
whodunit davon, daß man möglichst bis zur “Aufstellung” keinen
Schimmer hat wer es war, also bis zu der finalen Szene, in der
entweder der Inspektor, der Täter oder ein potentielles Opfer in
einer dramatischen Szene ca. zehn Minuten Zeit, respektive 20
Seiten Platz, findet, den gesamten Plot dem jeweiligen Gegenüber
und damit nebenbei dem Zuschauer oder Leser zu erzählen. So viele
Clues zu verstreuen daß es semi-glaubwürdig gelingt, den Täter
bis zu dieser Schlußszene zu verbergen ist Robert Thorogood
zumindest mir gegenüber voll gelungen und ich habe bei Inspector
Barnaby eine machbare Täterratequote (ok, von vielleicht 10%).
Und das ist die verdammte Hauptsache, Facebookblogger mit “Gegen
den Genderwahn” im Profilbild. Ich will für 300 Seiten raus aus
dem Winter und rein in den englischen Sommer und wenn Du ehrlich
bist, willst Du das auch und wenn man dabei noch miterlebt, wie
sich drei nicht mehr ganz junge Frauen ineinander verknutschen
und zu guten Freundinnen werden, sich dabei ganz nebenbei
gegenseitig helfen, besser zu fühlen und mit ihrem Leben und
ihrer Vergangenheit besser klar zu kommen und mir erfolgreich
unterjubeln, daß es der Gärtner war, himmel, was ist so f*****g
schlimm daran, Sebastian?!
“The Marlow Murder Club” von Robert Thorogood ist als Beginn
einer neuen Buchreihe angekündigt, was ganz wunderbar ist und
wenn sich ITV, Channel 4 und BBC zur Zeit nicht um die TV-
Serienrechte streiten, verstehe ich den Kapitalismus wirklich
nicht mehr.
Nächste Woche besprichtAnne Findeisen Tove Ditlevsen’s “Kindheit”
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