Was läuft falsch in der Asylpolitik? (Melita Šunjić)
42 Minuten
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vor 1 Jahr
Bis Jahresende wird Österreich wahrscheinlich mehr als 100.000
Asylanträge entgegengenommen haben – deutlich mehr als im
Krisenjahr 2015. Wieder sind die Quartiere voll; Bund und Länder
streiten über die Aufteilung der Flüchtlinge. Europa schafft es
offenbar nicht, eine humane und zugleich funktionierende
Asylpolitik zu gestalten.
Seit 2015 habe sich tatsächlich kaum etwas verändert, sagt die
langjährige UNHCR-Mitarbeiterin und Migrationsexpertin Melita
Šunjić im Podcast der Agenda Austria. „Es ist substanziell nichts
weitergegangen. Das verstehe ich nicht. Wenn ein System nicht
funktioniert, kann man nicht trotzdem immer weiter das gleiche
tun und andere Resultate erwarten. Da muss man, wie die Engländer
sagen, out of the box denken, etwas anderes probieren.“ Die
europäischen Dublin-Regeln haben nach Ansicht von Šunjić
ausgedient: „Die Dublin-Verfahren dienen nur dazu, dem jeweils
anderen das Problem umzuhängen.“
Šunjić plädiert seit langem für eine Neuaufstellung der
EU-Asylpolitik, basierend auf Überlegungen des UNHCR. „Die Idee
ist, dass es nicht 27 verschiedene Asylverfahren geben soll,
sondern ein EU-Verfahren. Das soll dort abgewickelt werden, wo
die Flüchtlinge ankommen, also an den Außengrenzen der EU.“
All jene, die Asyl bekommen, sollten dann auf die Mitgliedsländer
verteilt werden. Bei den anderen könnte noch geprüft werden, ob
sie für den europäischen Arbeitsmarkt geeignet seien. Wer auch
diese Hürde nicht schafft, müsste in die Heimat zurückkehren. Der
große Vorteil aus Šunjićs Sicht: „Die EU würde dann mit den
Herkunftsländern die Abkommen zur Rückübernahme abschließen,
nicht mehr die einzelnen Länder. Da hätte man eine viel bessere
Verhandlungsmacht.“
An sich wäre jetzt die Zeit günstig, endlich ein Übereinkommen
auf europäischer Ebene zu erreichen, meint die Expertin. Einstige
Bremser in Osteuropa stünden seit Beginn des Krieges in der
Ukraine selbst vor großen Problemen: „Die Visegrad- und die
baltischen Staaten haben sich immer am meisten gegen einen
Aufteilungsschlüssel gewehrt. Jetzt haben sie sehr viele
ukrainische Flüchtlinge. Und siehe da: Plötzlich gibt es
Interesse an einer Verteilung. Das wäre ein Moment für Brüssel,
um noch einmal in Verhandlungen zu gehen.“
Am wichtigsten wäre es nach Šunjić Meinung, endlich zwei Kanäle
zu schaffen – einen für jene, die tatsächlich Schutz suchen,
einen anderen für jene, die einfach nur ihre Lebenssituation
verbessern und arbeiten wollen. „Wir schaufeln jedes Jahr
hunderttausende Menschen in ein teures, aufwändiges
Asylverfahren, in das sie nicht hineinwollen und in das sie auch
nicht hineingehören“, sagt Šunjić.
Melita Šunjić war selbst ein Flüchtling; im Alter von zwei Jahren
kam sie mit ihren Eltern aus dem heutigen Kroatien nach
Österreich. In der eigenen Familie hat sie erlebt, dass viele
Träume in der Fremde nicht in Erfüllung gehen. „Mein Vater war
Maschinenbauingenieur. Aber er kam ohne Deutschkenntnisse nach
Österreich, musste schnell Geld verdienen und hat hier dauerhaft
als Lkw-Fahrer gearbeitet. Das ist ein recht typisches
Flüchtlingsschicksal.“
Melita Šunjić, 67, wurde in Rijeka geboren und kam mit zwei
Jahren nach Österreich. Sie studierte Publizistik und arbeitete
zunächst als Journalistin. Unter anderem war sie Ressortleiterin
Außenpolitik der „Wiener Zeitung“. Danach wechselte sie zum
UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, wo sie
leitende Pressesprecherin war und viele Krisenherde der Welt
persönlich besuchte. Sie ist Gründerin der Agentur Transcultural
Communication, die Regierungen und internationale Organisationen
bei der Entwicklung von Kampagnen für Flüchtlinge und Migranten
berät.
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