Europa ja - aber welches?
Was heißt: ich bin ein Europäer? Wie weit soll sich die EU
ausdehnen? Was ist ein europäischer Patriotismus?
43 Minuten
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Was heißt: ich bin ein Europäer? Wie weit soll sich die EU ausdehnen? Was ist ein europäischer Patriotismus?
Beschreibung
vor 3 Jahren
Dieter Grimm, Bundesverfassungsrichter a.D. und Rektor a.D. des
Wissenschaftskollegs zu Berlin, Hochschullehrer an der
Humboldt-Universität Berlin, hat mit seinem Buch EUROPA JA - ABER
WELCHES in der Legitimationskrise der EU einen energischen Vorstoß
unternommen. Er fordert einen erneuerten politischen und
rechtlichen Grundriss für die EU. Er fragt nach den Reserven für
zusätzliche Legitimation für das, was in Brüssel geschieht. Der
Eintritt der Bundesrepublik nach dem Zusammenbruch des Deutschen
Reichs in den Kreis der Völker war nur möglich durch die
europäische Tür. Am Anfang stand dabei ein umfassendes Vorhaben,
das die Integration von Kohle und Stahl mit dem Projekt einer
europäischen Verteidigungsgemeinschaft (aus jedem Lande der
europäischen Gemeinschaft steht ein Soldat in der Kompanie neben
dem anderen) und einer POLITISCHEN UNION umfasste. Die politische
Union kam nicht zustande. Aus der europäischen
Verteidigungsgemeinschaft wurde die NATO. Übrig blieb die
Wirtschaftsgemeinschaft. Sie beruhte auf den Römischen Verträgen.
Die Legitimation resultierte aus Verträgen zwischen souveränen,
selber demokratisch kontrollierten Einzelländern. Als 1987 die
Europäische Union zu stagnieren schien, entstand mit den
Maastrichter Verträgen eine neue Struktur: Jetzt waren
Mehrheitsbeschlüsse möglich. Es konnte sein, dass ein Land
Regelungen hinnehmen muss, die von ihm und seiner Wählerschaft
nicht gebilligt wurden. Um dieses Legitimationsdefizit zu mindern,
wurde aus der Parlamentarischen Versammlung das Europäische
Parlament gegründet und von Periode zu Periode mit mehr
Zuständigkeiten versehen. Problematisch blieb, sagt Dieter Grimm,
dass dieses Parlament durch bloß addierte nationale Wahlen zustande
kommt. Die nationalen Parteien wiederum, die der Wähler wählt, sind
nicht identisch mit den europäisch organisierten Fraktionen in
Straßburg. Die europäischen Wähler wählen also etwas anderes als
das, was anschließend politisch geschieht. Der wichtigste Mangel an
Legitimation aber entstand durch zwei bahnbrechende Urteile des
Europäischen Gerichtshofes. Dieses Gericht machte aus Dekreten der
EU Rechtsnormen mit Verfassungsrang. Diese sind einklagbar durch
die Rechtssubjekte in den einzelnen Staaten, somit vor allem auch
durch die marktbeherrschenden Unternehmen. Dies schafft eine
Schlagseite der EU zu vorwiegend wirtschaftlichen Fortschritten und
eine Vernachlässigung der politischen, sozialen und kulturellen
Aspekte, wie sie in den Verfassungen der Einzelstaaten und in der
nationalen Struktur vorgegeben sind. Mit großem Ernst stellt der
Verfassungsrichter a.D. Prof. Dr. Dieter Grimm die Frage: Was ist
zu tun, damit die Souveränität ("Wer hat im Ernstfall den
Letztentscheid über Angelegenheiten von Leben und Tod?") sich mit
der pragmatischen Alltagspraxis der machtvollen EU-Administration
adäquat verbindet? Ist es richtig, die Entscheidungen an dem zu
orientieren, was sich leicht entscheiden und wofür sich Einigungen
problemlos erreichen lassen? Oder wäre es auch möglich, "an der
Widerstandslinie entlang", gerade durch Strapazierung der EU an den
am schwersten lösbaren Fragen (Baskenland, Süditalien, Osteuropa,
Grenzregime, Griechenland, Schuldenberg) Erfahrungen und
Legitimationen zu erarbeiten? Jürgen Habermas spricht von einer
doppelten Souveränität, und einem doppelten Bürgerrecht der
EU-Bürger: Sie seien Patrioten ihres Landes und (gewissermaßen mit
einem zweiten Hut) Patrioten Europas. Zumindest nach den
Lissabonner Verträgen, urteilt Dieter Grimm, ist dieser
wünschenswerte Zustand keine Realität. Ein gründliches Gespräch
über Europa. Erstausstrahlung am 27.07.2016
Wissenschaftskollegs zu Berlin, Hochschullehrer an der
Humboldt-Universität Berlin, hat mit seinem Buch EUROPA JA - ABER
WELCHES in der Legitimationskrise der EU einen energischen Vorstoß
unternommen. Er fordert einen erneuerten politischen und
rechtlichen Grundriss für die EU. Er fragt nach den Reserven für
zusätzliche Legitimation für das, was in Brüssel geschieht. Der
Eintritt der Bundesrepublik nach dem Zusammenbruch des Deutschen
Reichs in den Kreis der Völker war nur möglich durch die
europäische Tür. Am Anfang stand dabei ein umfassendes Vorhaben,
das die Integration von Kohle und Stahl mit dem Projekt einer
europäischen Verteidigungsgemeinschaft (aus jedem Lande der
europäischen Gemeinschaft steht ein Soldat in der Kompanie neben
dem anderen) und einer POLITISCHEN UNION umfasste. Die politische
Union kam nicht zustande. Aus der europäischen
Verteidigungsgemeinschaft wurde die NATO. Übrig blieb die
Wirtschaftsgemeinschaft. Sie beruhte auf den Römischen Verträgen.
Die Legitimation resultierte aus Verträgen zwischen souveränen,
selber demokratisch kontrollierten Einzelländern. Als 1987 die
Europäische Union zu stagnieren schien, entstand mit den
Maastrichter Verträgen eine neue Struktur: Jetzt waren
Mehrheitsbeschlüsse möglich. Es konnte sein, dass ein Land
Regelungen hinnehmen muss, die von ihm und seiner Wählerschaft
nicht gebilligt wurden. Um dieses Legitimationsdefizit zu mindern,
wurde aus der Parlamentarischen Versammlung das Europäische
Parlament gegründet und von Periode zu Periode mit mehr
Zuständigkeiten versehen. Problematisch blieb, sagt Dieter Grimm,
dass dieses Parlament durch bloß addierte nationale Wahlen zustande
kommt. Die nationalen Parteien wiederum, die der Wähler wählt, sind
nicht identisch mit den europäisch organisierten Fraktionen in
Straßburg. Die europäischen Wähler wählen also etwas anderes als
das, was anschließend politisch geschieht. Der wichtigste Mangel an
Legitimation aber entstand durch zwei bahnbrechende Urteile des
Europäischen Gerichtshofes. Dieses Gericht machte aus Dekreten der
EU Rechtsnormen mit Verfassungsrang. Diese sind einklagbar durch
die Rechtssubjekte in den einzelnen Staaten, somit vor allem auch
durch die marktbeherrschenden Unternehmen. Dies schafft eine
Schlagseite der EU zu vorwiegend wirtschaftlichen Fortschritten und
eine Vernachlässigung der politischen, sozialen und kulturellen
Aspekte, wie sie in den Verfassungen der Einzelstaaten und in der
nationalen Struktur vorgegeben sind. Mit großem Ernst stellt der
Verfassungsrichter a.D. Prof. Dr. Dieter Grimm die Frage: Was ist
zu tun, damit die Souveränität ("Wer hat im Ernstfall den
Letztentscheid über Angelegenheiten von Leben und Tod?") sich mit
der pragmatischen Alltagspraxis der machtvollen EU-Administration
adäquat verbindet? Ist es richtig, die Entscheidungen an dem zu
orientieren, was sich leicht entscheiden und wofür sich Einigungen
problemlos erreichen lassen? Oder wäre es auch möglich, "an der
Widerstandslinie entlang", gerade durch Strapazierung der EU an den
am schwersten lösbaren Fragen (Baskenland, Süditalien, Osteuropa,
Grenzregime, Griechenland, Schuldenberg) Erfahrungen und
Legitimationen zu erarbeiten? Jürgen Habermas spricht von einer
doppelten Souveränität, und einem doppelten Bürgerrecht der
EU-Bürger: Sie seien Patrioten ihres Landes und (gewissermaßen mit
einem zweiten Hut) Patrioten Europas. Zumindest nach den
Lissabonner Verträgen, urteilt Dieter Grimm, ist dieser
wünschenswerte Zustand keine Realität. Ein gründliches Gespräch
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