#130 - Interview mit Dr. Anja Dillenseger über relevante digitale Biomarker für MS-Patienten
In Folge #130 vom MS-Perspektive-Podcast spreche ich mit Dr. Anja
Dillenseger vom MS-Zentrum in Dresden über relevante digitale
Biomarker für MS-Patienten. Es geht darum, was Biomarker sind? Wie
sie eine bessere Beurteilung des Ist-Zustandes...
1 Stunde 8 Minuten
Podcast
Podcaster
Beschreibung
vor 2 Jahren
In Folge #130 vom
MS-Perspektive-Podcast spreche ich mit
Dr. Anja Dillenseger vom MS-Zentrum in
Dresden über relevante digitale
Biomarker für MS-Patienten. Es geht
darum, was Biomarker sind? Wie sie eine
bessere Beurteilung des Ist-Zustandes
ermöglichen, was wiederum eine bessere
Behandlung ermöglicht. Welche Rolle
dabei Smart Phones, Apps und Fitness
Tracker spielen? Außerdem sprechen wir
ganz konkret darüber, wie Sehstörungen
erfasst werden und die Aussagekraft der
Ergebnisse. Und es geht darum, wie
Technik objektiv vergleichende
Verlaufsdaten zeigen kann, selbst wenn
andere Symptome wie Fatigue beim
Messen von beispielsweise
Sprechstörungen reinspielen.
Hier geht es zum Blogartikel:
https://ms-perspektive.de/dr-anja-dillenseger-digitale-biomarker/
Inhaltsverzeichnis
Vorstellung
Digitale Biomarker Überblick
Detailfragen digitale Biomarker
Zusammenfassung Biomarker
Blitzlicht-Runde
Verabschiedung
Vorstellung
Anja Dillenseger ist wissenschaftliche
Mitarbeiterin mit akademischem
Abschluss beim Multiple Sklerose
Zentrum Dresden.
Sie arbeitete zunächst im Groß- und
Außenhandel und war Chefsekretärin bei
RENO-Schuhimport. Es folgte ein
BWL-Studium. Dann ging sie für 10
Monate in eine Tierarztpraxis und
studierte anschließend
Veterinärmedizin. Bis 2014 arbeitete
sie in einer Praxis in Chemnitz,
wechselte dann nach Dresden wo sie in
den Jahren 2015/2016 in einer
Tierarztpraxis tätig war. Und seit 2016
gehört sie zum Team des MS-Zentrum in
Dresden.
Digitale Biomarker Überblick
Was sind Biomarker und wofür werden sie
genutzt?
Biomarker sind objektiv messbare
Indikatoren physiologischer oder
pathologischer Prozesse oder
pharmakologischer Antworten auf
therapeutische Interventionen. Im
Rahmen der MS kann man diese Biomarker
unterteilen in:
diagnostische (d.h., sie helfen bei
der Unterscheidung zwischen
verschiedenen Erkrankungen, z.B.
oligoklonale Banden),
prognostische (diese unterstützen
Ärzte dabei abzuschätzen, wie sich eine
diagnostizierte Erkrankung entwickelt;
z.B. Neurofilament)
prädiktive/“vorhersagende“ (geben
eine „Vorhersage“, wie die Antwort auf
eine Therapie sein wird; welcher
Patient profitiert von welcher
Therapie? Hier ist zum Beispiel die
Genotypisierung vor Siponimod-Therapie
zu nennen.)
Krankheitsaktivität (messen die
Entzündung oder Neurodegeneration, z.B.
MRT, Klinik)
und Biomarker bezüglich der
Therapie-Antwort (hilft zu
unterscheiden, ob ein Patient auf eine
Therapie anspricht).
Was ist das Besondere an digitalen
Biomarkern und warum sind sie so wichtig?
Klassisch mussten und müssen diese
Biomarker durch Ärzte oder
medizinisches Personal erhoben und
dokumentiert werden. Dafür fehlt leider
häufig die Zeit oder das Personal oder
beides (von Räumlichkeiten, um zum
Beispiel Funktionstests durchzuführen,
mal ganz zu schweigen).
Daher ist der Gedanke, dass durch die
zunehmende Digitalisierung im
Gesundheitswesen zum einen diese
Informationen gleich digital
aufgenommen, dokumentiert und zur
Verfügung gestellt werden können. Aber
die Digitalisierung bietet auch die
Chance, dass Patienten selbst diese
Daten generieren und mit ihrem
Behandlungsteam teilen.
Wir hatten 2019 einmal eine Umfrage bei
knapp über 200 Patienten gemacht,
welche digitale Technologie sie am
häufigsten verwenden. Das Smartphone
war da ganz vorne mit dabei mit einer
Nutzung mehrmals täglich. Smartphones
bieten im Grunde alles, was man
braucht: Kamera (z.B. zur
Stimmungserhebung anhand des
Gesichtsausdruckes), Mikrofon (zur
Dokumentation der Sprache und
eventuellen Auffälligkeiten), GPS und
Gyroskop (zur Messung von Mobilität und
Rotationsbewegungen des Körpers) etc.
Also: warum dies sich nicht zunutze
machen? Oder Fitness-Tracker?
Wie können digitale Biomarker das Leben von
Menschen mit MS verbessern in Bezug auf
Behandlung und Prognose?
Bei MS heißt es, frühzeitig auf
Progressionen zu reagieren. Aber
natürlich auch die Kontrolle der
Therapie-Aktivität oder das Hinzukommen
von neuen Symptomen.
Normalerweise sehen wir Patienten alle
3 Monate, manchmal auch nur alle 6
Monate. Mal ehrlich, ich könnte mich
nicht erinnern, wenn du mich jetzt
fragen würdest, wie oft ich in den
letzten 3 Monaten z.B. unter
Kopfschmerzen gelitten habe. Das
Gedächtnis eines jeden erinnert
vielleicht die letzten 5 Tage ganz
konkret, je nachdem natürlich, wie
gravierend das Ereignis war. Aber im
Grunde geht wohl viel Information
verloren. Oder wird nicht ernst genug
genommen.
Wenn jetzt aber der Patient sich zum
Beispiel hinsichtlich bestimmter
Symptome selbst in seiner Häuslichkeit
messen kann oder regelmäßig digitale
Fragebögen zu den wichtigsten Symptomen
zugeschickt bekommt, die Veränderung
bestehender Symptome von ihm/ihr selbst
über ein digitales Programm
dokumentiert werden kann oder auch
Schübe im Rahmen eines Tagebuches, dann
unterstützt dies auch bei Visiten das
Arztgespräch.
Noch besser natürlich, wenn der Arzt
ebenfalls (nach Zustimmung des/der
Patient*in natürlich) direkt Zugriff zu
diesen Informationen in Echtzeit hätte.
Und da geht die Reise hin.
Welche krankheitsbedingten Veränderungen
bei MS-Patienten können bereits gut und
effizient mit Hilfe von digitalen Biomarker
erfasst werden?
Die Bekanntesten hier sind wohl das MRT
sowie die Untersuchung des
Augenhintergrundes mittels der
optischen Kohärenztomographie. Da ist
dann aber noch lange nicht Schluss.
Patienten an unserem Zentrum kennen
hier zusätzlich die Ganganalyse, die
bei uns mithilfe digitaler Technologie
(z.B. ein mit Drucksensoren
ausgestatteter Teppich), Opal-Sensoren,
die am Körper befestigt werden und die
Rotation des Körpers während
verschiedener Aufgaben dokumentieren,
digitale Fragebögen (Selbsteinschätzung
der Mobilität) und vieles mehr.
Zusätzlich gibt es bereits die
Möglichkeit, Funktionstest
tablet-basiert durchzuführen, ohne dass
Patienten hier durch medizinisches
Personal unterstützt werden müssen.
Diese Funktionstests fokussieren sich
hierbei auf die am häufigsten
betroffenen Beeinträchtigungen im
Rahmen der MS: das Gehen, das
Kontrastsehen, die Kognition (also
Konzentration und
Verarbeitungsgeschwindigkeit) sowie die
Funktion der oberen Extremitäten.
Studien haben hier belegt, dass diese
den papierbasierten Funktionstests in
nichts nachstehen.
Bisher waren solche digitalen
Funktionstestungen häufig nur im Rahmen
von Studien einsetzbar, aber die
Überprüfung des Nutzens in der
klinischen Routine nimmt gerade sehr an
Fahrt auf.
Apps, die Funktionstests von zuhause
aus ermöglichen gibt es bereits. Im
Bereich der Alzheimer-Erkrankung werden
Sprach- bzw. Sprech-Aufgaben mit Erfolg
eingesetzt, um Hinweise auf depressive
Verstimmungen, kognitive
Beeinträchtigungen und Fatigue zu
erhalten. Bei MS muss dies noch
überprüft werden. Da startet im April
bei uns ein Projekt dazu. Wie man
erkennen kann, ist die Erfassung dieser
digitalen Biomarker nicht überall
verfügbar. Das wird sich in Zukunft
hoffentlich ändern.
Welche Rolle spielen Apps, Smartphones und
Fitnesstracker beim Erfassen der Daten und
wie viel wird beim Arzt gemessen?
Diese Tools bieten die Möglichkeit der
Erfassung digitaler Biomarker! Ein
Smartphone hat doch jeder. Tablets sind
mittlerweile auch so erschwinglich,
dass man die sich in die Praxis oder
Klinik legen kann, um Testungen oder
digitale Fragebögen darauf
durchzuführen. Fitness-Tracker sind
eher nicht so ganz verbreitet, könnten
aber bei bestimmten Patienten zur
Verfügung gestellt werden, was derzeit
nur im Rahmen von Studien der Fall ist.
Aber in diesen digitalen Werkzeugen
liegt die Zukunft.
Was derzeit mit Hilfe von Apps,
Smartphones und Tablets gemacht werden
kann bewegt sich zum Großteil auch im
Bereich der Forschung. Beispiel der
Einsatz von digitalen Funktionstests
(Kontrastsehen, Stäbchen-Steck-Test,
7,61-Meter-Gehtest,
Verarbeitungsgeschwindigkeit), wobei
hier gerade auch ein
Zulassungsverfahren für eine DiGA
(digitale Gesundheitsanwendung auf
Rezept) läuft, die Funktionstest
beinhaltet, Tagebuchfunktion und noch
mehr.
Auch werden immer mehr Apps, sogenannte
DiGAs zur Unterstützung bei bestimmten
Symptomen, wie Fatigue (basierend auf
etablierten psychotherapeutischen
Ansätzen und Verfahren insbesondere der
kognitiven Verhaltenstherapie) und
demnächst auch zur Unterstützung bei
depressiven Verstimmungen. Da ist viel
in der Entwicklung. Auch bei uns im
Zentrum ist da einiges im Gange, wie
die Testung einer App für das
Selbstmonitoring (auch über digitale
Funktionstests), Sprachanalyse, unsere
multimodale Ganganalyse und vieles
mehr, an dem geforscht und entwickelt
wird.
Wie kompliziert ist die Auswertung der
erfassten Daten?
Das ist ein wichtiges Thema. Durch die
digitale Erfassung und des immer
umfangreicher werden Spektrums, was
alles erfasst werden kann, nimmt
natürlich die Datenmenge extrem zu.
Die Verwendung digitaler Biomarker
stellt andere Anforderungen an die
Datenanalyse als die herkömmliche
Verarbeitung von Daten im klinischen
Alltag und sogar als die aufwändigere
Verarbeitung in klinischen Studien.
Um den prädiktiven Zweck eines
Biomarkers zu erfüllen, ist die
Datenübertragung und Datenanalyse in
Echtzeit das Ziel. Dies erfordert eine
Unabhängigkeit von Ort und Situation
der Datenerhebung, d. h. eine
Datenverarbeitung, die in der
klinischen Praxis stattfinden kann,
aber nicht auf die Räumlichkeiten des
Neurologen beschränkt ist, und die
Besuche, die in größeren Abständen
stattfinden. Dazu müssen Daten aus
unterschiedlichsten Quellen über
standardisierte, sichere Schnittstellen
digital aggregiert werden – eine
Aufgabe, die weit über die
Möglichkeiten einzelner Apps
hinausgeht.
Die allgemeine Anforderung an
(automatisierte)
Informationsverarbeitungssysteme
besteht auch darin, dass sie
zuverlässig nützliche Informationen
(echte medizinische Bedürfnisse) von
Rauschen unterscheiden können, z. B.
durch Anwendung festgelegter
Grenzwerte. Auch ist es wichtig zu
überlegen, welche Daten denn Sinn
machen und überhaupt wichtig sind für
die Therapie und Verlaufskontrolle.
Wo liegen aktuell die größten Hürden, um
digitale Biomarker breitflächig
einzusetzen?
Grundsätzlich einmal in
der Validierung der digitalen
Biomarker, das heißt, messen diese
auch, was man messen möchte und sind
diese Messwerte auch repräsentativ und
aussagekräftig? Die Privatsphäre
(vor allem z.B. bei passiver
Dokumentation über GPS des
Smartphones) und Datenschutz sind
hier besonders wichtig. Wo werden die
Daten gespeichert und wer ist dafür
(auch hinsichtlich des Datenschutzes)
verantwortlich? Über
die Datenauswertung hatten
wir ja bereits gesprochen. Und
hinsichtlich der Adhärenz, das heißt,
der Nutzung dieser Technologie, Tests
und Apps, muss der Patient ebenfalls
mitarbeiten.
Detailfragen digitale Biomarker
Wie gut können Sehstörungen mit digitalen
Biomarkern gemessen werden und welche Arten
gibt es?
Das Sehvermögen ist eines der am
stärksten betroffenen Funktionssysteme
bei Patient*innen mit MS und äußert
sich häufig in Form einer
Sehnervenentzündung. Die klinischen
Anzeichen können von Veränderungen des
Farbsehens, verminderter Sehschärfe bis
hin zum vollständigen Verlust des
Sehvermögens reichen.
Das am häufigsten eingesetzte digitale
Untersuchungsverfahren ist das OCT, die
optische Kohärenz-Tomographie. Mit OCT
können die Dicke der peripapillären
Netzhautnervenschicht (pRNFL) und das
Makulavolumen (Makula = Bereich des
scharfen Sehens) gemessen werden, um
nach Netzhautatrophie zu suchen. Es
wurden im Bereich der Forschung Modelle
entwickelt, um die Assoziation von
OCT-basierten Metriken mit dem Grad der
Behinderung zu bestimmen. Diese
umfassten kontinuierliche Variablen wie
die pRNFL-Dicke und das Makulavolumen,
um die Wirkung (Zunahme oder Abnahme)
auf das Risiko einer Verschlechterung
der Behinderung zu quantifizieren. Die
Ergebnisse legen nahe, dass die
regelmäßige Überwachung der
peripapillären retinalen
Nervenfaserschicht ein nützlicher
digitaler Biomarker zur Überwachung der
Verschlechterung der Behinderung bei MS
sein könnte, zumal er mit klinischen
und paraklinischen Parametern des
Sehvermögens, der Behinderung und der
MRT korreliert.
Ein weiterer digitaler Biomarker, der
zur Überwachung von Sehbehinderungen
verwendet werden kann, ist das
Kontrastsehen. Die Prüfung der
Sehschärfe bei niedrigen
Kontrastverhältnissen ist von
Bedeutung, da bei Menschen mit
Behinderung die Schwelle, bei der ein
Buchstabe noch vom Hintergrund
unterschieden werden kann, deutlich
höher ist als bei gesunden Personen.
Digital wird diese Untersuchung derzeit
allerdings nur im Rahmen der Forschung
durchgeführt.
Ein Bereich der noch erforscht wird,
sind die okulomotorischen Störungen,
die ebenfalls auftreten können, also
Störungen der Augenbewegung. Die am
häufigsten beobachteten
Augenbewegungsstörungen sind zum
Beispiel überschießende oder zu kurz
erfolgende schnelle, ruckartige
Augenbewegungen beim Wechsel eines
Fixpunktes), gestörte horizontale
Augenbeweglichkeit, und Nystagmus
(unwillkürliche Augenbewegung).]
Welche Sprachstörungen können MS-Patienten
bekommen und wie können digitale Biomarker
diese testen?
Sprach- und Sprechprobleme kommen bei
40-50 % aller MS-Patienten vor. Dazu
zählt vor allem die Dysarthrie, das
heißt eine neurologisch bedingte
Sprechstörung, die durch eine
Schädigung des zentralen oder des
peripheren Nervensystems verursacht
wird. Dabei kann die Lautbildung bzw.
Artikulation gestört sein, aber auch
die Atemkapazität, die Sprechmelodie
(also eher ein monotones Sprechen),
dass vermehrt Pausen gemacht werden
oder die Stimme sehr angespannt ist.
Und das kann man sich für die
Untersuchung mittels digitalen
Biomarkern auch zunutze machen.
Da diese Beeinträchtigungen auch nur
ganz leicht auftreten können, ist es
für das menschliche Ohr (also den
Untersucher) manchmal schwierig zu
erkennen.
Nutzt man Applikationen (Apps), anhand
derer Patienten Sprach-Aufgaben
durchführen und diese gespeichert und
analysiert wird, hat man zum einen eine
objektive Erkennung von Veränderungen,
die aber auch standardisiert ist.
Das heißt, bei Verlaufskontrollen wird
sich immer auf das gleiche „Normal“
bezogen. Menschliche Unterschiede bei
Beurteilungen und der Wahrnehmung (2
Untersucher können zu unterschiedlichen
Ergebnissen kommen) fallen also weg.
Das Gleiche gilt für alle digitalen
Biomarker. Sie sind standardisiert. Ein
Problem könnten allerdings verschiedene
Akzente oder Dialekte darstellen. Auch
das Alter, die Komplexität der
durchzuführenden Sprachaufgaben und die
individuellen kognitiven Fähigkeiten
müssen berücksichtigt werden.
Der Vorteil von digitalen
Sprachanalysen ist, dass diese auch zum
Beispiel während der Visite, bei
Telefonaten oder Videosprechstunden mit
durchgeführt werden können, also
passiv.
Warum sind Untersuchungen von
Sprache/des Sprechens wichtig?
Neben der frühzeitigen Erfassung von
Beeinträchtigungen darf man nicht
vergessen, dass Sprach- bzw.
Sprechbeeinträchtigungen durchaus
negative Effekte hinsichtlich
Berufstätigkeit und sozialer Einbindung
haben, mit daraus resultierenden
Einflüssen auf die Lebensqualität!
Welche Auswirkungen haben Depression und
Fatigue auf die Sprache und andere Symptome
der MS und ist es möglich, trotz
verschiedener Einflussfaktoren ein klares
Bild über den Ist-Zustand eines Patienten
zu gewinnen?
Die Fatigue kann die
Konzentrationsfähigkeit sowie die
Sprech-Geschwindigkeit beeinflussen.
Depressive Verstimmungen zum Beispiel
zu monotoner Stimme, einer leisen
Stimme oder zu negativen Einflüssen bei
der Sprachanalyse führen, wenn zum
Beispiel ein positives Erlebnis der
vergangenen zwei Wochen berichtet
werden soll, der/die Patient*in aber
ein negatives Erlebnis erzählt.
Anzeichen von Müdigkeit und Depression
sind bereits bei gesunden Personen oder
Patienten ohne neurologische Erkrankung
nachweisbar. Da Müdigkeit, Depressionen
und kognitive Beeinträchtigungen bei MS
häufig vorkommen, könnten sie durch
Sprachanalysen erfasst werden.
Testbatterien können so konzipiert
werden, dass sie exekutive Funktionen
und Verarbeitungsgeschwindigkeit (z. B.
phonematische und semantische
Wortflüssigkeit), Gedächtnis (z. B.
Wechsler Memory Scale und California
Verbal Learning Test), Affekt und
Müdigkeit (z. B. Storytelling), Sprache
(Bildbeschreibung) und motorische
Funktionen (Pa-ta-ka-Aufgabe) erfassen.
Bislang ist die Durchführung solcher
Sprach- und Sprachtests auf Studien
beschränkt (bei uns am MS Zentrum
Dresden wie gesagt ab April), doch kann
man sich vorstellen, dass sie in
Zukunft bei klinischen Besuchen von
Menschen mit Behinderung oder sogar zu
Hause durch den Einsatz spezieller Apps
oder Aufzeichnungen bei
telemedizinischen Besuchen eingesetzt
werden können.
Wie vielfältig sind die Ursachen für einen
schlechten Gang und wie viele Tests werden
benötigt, um sich ein umfassendes Bild zu
machen?
Beeinträchtigungen des Gehens sind mit
ca. 85 % die häufigsten Symptome bei
MS. Mehrere Faktoren tragen dabei zur
Gangstörung bei Patient*innen mit MS
bei.
Sensorische Veränderungen und das
daraus resultierende Ungleichgewicht,
die Schwäche der unteren Extremitäten
oder das Vorliegen einer Spastik sowie
Kleinhirn-Ataxien haben hier wohl die
größten Auswirkungen.
Der in der Routine am häufigsten
durchgeführte Test ist der
7,61-Meter-Gehtest. Wie der Name schon
verrät, geht der/die Patient*in hier
lediglich 7,61 Meter so schnell und
sicher wie möglich, ohne zu rennen.
Eine Schwester/Pfleger misst die dafür
notwendige Zeit. Das Problem mit diesem
Test ist aber, dass hier
Auffälligkeiten bei Patient*innen
beobachtet werden, bei denen
augenscheinlich Beeinträchtigungen
vorliegen.
Was man nicht damit erfasst, sind
Gehbeeinträchtigungen, die erst nach
mehreren Minuten oder einigen
zurückgelegten Metern auftreten. Auch
Faktoren wie die Schrittlänge,
Spurbreiten, wie fußt der Patient*in,
muss mit dem Körper ausbalanciert
werden, wie verändert sich das Gehen,
wenn noch eine zweite Aufgabe
hinzukommt, werden nicht erfasst. Diese
Informationen sind aber essentiell und
müssen dokumentiert und im Zeitverlauf
verfolgt werden. Es ist also komplexer.
Wir haben daher bei uns im Zentrum die
multimodale Ganganalyse, die meine
geschätzte Kollegin Frau Katrin
Trentzsch etabliert hat. Hier werden
neben dem 7,61-Meter-Gehtest auch ein
2-Minuten-Gehtest, die Erfassung des
Ganges über das GaitRITE (ein Teppich,
der über Sensoren Auskunft über die
Schrittlänge, Spurbreite,
Geschwindigkeit des Ganges gibt) mit
und ohne Dual-Task (also eine zweite
Aufgabe, die während des Gehens
absolviert werden muss, um so mögliche
Veränderung im Gangbild hervorzurufen)
sowie den Romberg Stehtest und
beobachten zusätzlich bei all diesen
Tests die Rotationsbewegung des Körpers
mittels am Körper befestigter
Opalsensoren. Hinzu kommen Fragebögen,
um subjektive Angaben über die
Mobilität zu erhalten.
Die Kraftmessplatte kam neu dazu, die
bereits frühe Veränderungen detektieren
kann. Aber das ist nur ein Teil, was
das Mobilitätszentrum von Frau
Trentzsch macht und machen kann. Aber
es ist das, was wir jedem/r Patient*in
bei uns im MS-Zentrum mindestens 1x pro
Jahr anbieten.
Was man nicht vergessen darf:
Grundsätzlich ist es wichtig,
Beeinträchtigungen des Gehens im
Speziellen und der Mobilität im
Allgemeinen in der täglichen Routine
der Patienten zu betrachten. Das ist
leider derzeit nicht vollumfänglich
möglich. Die Technologie gibt es schon,
aber eben allenfalls im Rahmen von
Studien, noch nicht für die Routine.
Fitness-Tracker oder Smartphones bieten
hier gute Einsatzmöglichkeiten. Das
Problem ist aber noch für die
Routine-Nutzung: wo die Daten
speichern, so dass Arzt und Patient
diese nutzen können. Datenschutz?
Wie werden aktuell die Einschränkungen
durch MS auf Arme und Hände gemessen und
was ist hier zukünftig realistisch?
Derzeit ist der hauptsächlich
verwendete Test der sogenannte
9-Hole-Peg-Test oder
Stäbchen-steck-Test. Hierbei sollen
jeweils mit einer Hand 9 Stäbchen in
vorgebohrte Löcher auf eine Platte
nacheinander eingesetzt und wieder
entfernt werden. Dabei wird von einer
Schwester oder Pfleger die Zeit
erfasst, die dazu benötigt wird. Diese
Zeit wird in Bezug gesetzt zu einer
Kontroll-Kohorte (Menschen ohne
Einschränkung).
Wenn dieser Test regelmäßig gemacht
wird, können Veränderungen sehr gut
erkannt werden. Natürlich gibt es
Schwankungen. Aber wenn beispielsweise
eine Verschlechterung um 20 % über
mindestens 3 Monate bestehen bleibt,
ist dies klinisch signifikant.
Diesen Test gibt es auch in etwas
abgewandelter Form digital. Dazu müssen
Tomaten oder Ballons zerquetscht
werden, die auf dem Smartphone-Display
an unterschiedlichen Stellen und in
unterschiedlicher Größe erscheinen.
Studien belegten bereits eine
Korrelation dieses digitalen Tests mit
der „herkömmlichen“ Version.
Was hier aber noch weitere Vorteile
bringt, ist, dass neben der
Standardisierung und der Vermeidung,
dass das Personal mal zu früh oder zu
spät die Stopp-Uhr betätigt, zum
Beispiel auch die Möglichkeit der
Erfassung des Druckes, den die Finger
auf dem Display ausüben. Oder die
Zielgenauigkeit. Das sind alles Daten,
die kann man mit dem herkömmlichen Test
nicht erfassen. Diese sind aber
wichtig! Und, nicht zu vergessen, diese
Tests können zuhause durchgeführt
werden, auch und vor allem dann, wenn
Patienten Verschlechterungen bemerken
und messen wollen.
Auf welche Art können kognitive Probleme
festgestellt werden?
Kognitive Probleme beeinträchtigen
häufig das Arbeitsgedächtnis, die
Wortflüssigkeit, die Geschwindigkeit
der Informationsverarbeitung, das
verbale und visuelle Gedächtnis sowie
die exekutiven Funktionen und – nach
neuen Erkenntnissen – der Bereich der
„Theory of Mind“ (die Fähigkeit, auf
der Grundlage nonverbaler und verbalen
Hinweisen auf die Emotionen anderer
Menschen zu schließen). Das wären dann
auch die Ansatzpunkte für mögliche
Testungen.
Der bisher eingesetzte Test ist der
SDMT, bei dem Zahlen zu Symbolen
innerhalb von 90 Sekunden zugeordnet
werden müssen. Dieser Test adressiert
das Arbeitsgedächtnis. Das Problem bei
diesem Test ist, dass eigentlich auch
die schulische Ausbildung mit zur
Beurteilung des Ergebnisses
herangezogen werden müsste, da das
gleiche Ergebnis bei einem eine
Auffälligkeit ist, während sie bei dem
anderen völlig normal ist. Hinzu kommt
natürlich, dass dieser Test auch
beeinflusst werden kann durch andere
Beeinträchtigungen, wie das Sehen oder
der oberen Extremitäten. Trotzdem
bleibt dieser Test auch bei der
Digitalisierung der Test der Wahl und
ist bereits auch als solcher verfügbar.
Er ist schnell durchführbar und wenn
regelmäßig absolviert, ermöglicht er im
Monitoring doch das Erkennen von
Veränderungen.
Für den klinischen Einsatz wurde eine
Reihe von vereinfachten Tests für die
Kognition bei MS entwickelt, darunter
Testbatterien wie der BICAMS (Brief
Repeatable International Cognitive
Assessment for MS), die Brief
Repeatable Battery of
Neuropsychological Tests und der
Minimal Bewertung der kognitiven
Funktion bei MS. Deren Einsatz
scheitert aber an zeitlichen und
personellen Engpässen (abgesehen von
der Umsetzung in eine digitale Form).
Aber sollte in dem Symbol-Zahlen-Test
eine klinisch relevante
Verschlechterung auftreten, kann eine
eingehendere neuropsychologische
Testung dann angeordnet werden.
Zusammenfassung Biomarker
Welche Entwicklungen im Bereich der
digitalen Biomarker wünschst Du Dir in den
kommenden 5 Jahren?
Im Bereich der MS würde ich mir die
Weiterentwicklung digitale Biomarker
wünschen, die bereits frühe
Progressionen erkennen können. Darüber
hinaus wäre es wünschenswert, dass alle
Patienten die Möglichkeit erhalten, von
digitalen Biomarkern zu profitieren und
nicht nur in ausgewählten Zentren oder
im Rahmen von Studien.
Wie können Patienten dabei helfen, dass
digitale Biomarker schneller Verbreitung
finden, um möglichst bald von den
gewonnenen Ergebnissen zu profitieren?
Es werden derzeit sehr viele Apps oder
digitale Testmöglichkeiten sowie DiGAs
(digitale Gesundheitsanwendungen auf
Rezept) entwickelt. Aber häufig ist es
ja so, dass der Entwickler seine
Vorstellung hat, der Arzt ebenfalls,
aber der „End-Nutzer“, also der
Patient, diese aus den
unterschiedlichsten Gründen nicht
nutzt.
Um dies zu vermeiden geht man dazu
über, diese Innovationen durch
Patienten testen zu lassen, zumindest
ist es unsere Empfehlung dies zu tun.
Das bieten wir auch Unternehmen mit
guten Ideen im Bereich der MS an, diese
durch Patienten unseres Zentrums
beurteilen zu lassen. Patienten sind da
sehr ehrlich und auch wahnsinnig
kreativ, was Verbesserungen angeht! Da
bin ich immer wieder erstaunt.
Wenn aber dann solche digitalen
Möglichkeiten, die auch eine qualitativ
gute Datenerfassung und Bereitstellung
an den Arzt ermöglichen, existieren und
funktionieren, müssen sie von Patienten
konsequent genutzt werden und nicht nur
zu Beginn, wenn die Begeisterung groß
ist.
Adhärenz ist da ein großes Problem. Wir
schauen auch im Rahmen eines anderen
Projektes an unserem Zentrum derzeit,
wie die Adhärenz bei einer App ist, die
Funktionstests zuhause ermöglicht und
was die Ursachen mangelnder Adhärenz
sind. Wir sind gespannt auf das
Ergebnis!
Blitzlicht-Runde
Vervollständige den Satz: „Für mich ist die
Multiple Sklerose... “
… der Antrieb, möglichst hochwertige
und patientenorientierte Versorgung
anzubieten und weiterzuentwickeln.
Wie lautet Dein aktuelles Lebensmotto?
Wenn du es eilig hast, gehe langsam.
Sowie: Bitte mehr Life in der
Work-Life-Balance. Das Leben kann sich
so schnell ändern, man hat es eben
nicht in der Hand…
Mit welcher Person würdest Du gern ein
Kamingespräch führen und zu welchem Thema?
Wenn es um Prominente geht: Martin
Luther King jr.; wobei es mir schwer
fällt, mich auf eine Person
festzulegen. Es gab und gibt viele
interessante Menschen, mit denen ein
Kamingespräch bestimmt nicht langweilig
werden würde.
Ansonsten: meine Oma, die gestorben
ist, als ich noch zu unreif war, ihr
zuzuhören.
Welches Buch oder Hörbuch, das Du kürzlich
gelesen hast, kannst Du empfehlen und worum
geht es darin?
Als Hörbuch kann ich „Die
Purpurnen
Flüsse“ (Jean-Christophe
Grange) empfehlen! Sehr gut! Höre ich
immer wieder.
Derzeit lese ich viele Kochbücher.
Gerade eben lese
ich „Escapism
Cooking“, der Titel verrät
eigentlich schon, worum es geht: Die
Flucht aus dem Alltag durch das
Fokussieren auf die Kulinarik. Das
Kochen und Genießen von Lebensmitteln.
Alleine die Fotos in diesem Buch sind
der Hammer.
Verabschiedung
Möchten Sie den Hörerinnen und Hörern noch
etwas mit auf dem Weg geben?
Bleiben Sie informiert, was ihre MS
angeht! Es ändert sich so viel in
kurzer Zeit. Wir finden es äußerst
wichtig, dass Patienten ihre Krankheit
verstehen mit all ihren Facetten. Denn
dann kann man selbst aktiv werden, wenn
zum Beispiel Symptome hinzukommen oder
bestehende sich verschlechtern oder sie
von neuen Therapien hören, die
eventuell für sie in Frage kämen. Auch
was die Rechte bezüglich Verordnungen
angeht etc.
Wie können MS-Patienten auf dem neuesten
Stand beim Thema digitale Biomarker
bleiben?
An jedem ersten Dienstag im Monat
findet
unser Patienten-Podcast statt.
Es geht um alle Themen rund um die MS.
Interessierte können sich auf
der Homepage des Zentrums
für Klinische
Neurowissenschaften an
der Uniklinik Dresden für den
Newsletter anmelden. Sie bekommen dann
den Link zum Podcast zugeschickt.
Die Podcasts können aber auch
auf YouTube angesehen
werden (ebenfalls ZKN Dresden
eingeben). Bei der Live-Teilnahme haben
Patienten, Angehörige wie Interessierte
die Möglichkeit, Fragen an den
Referenten zu stellen. Themenvorschläge
sind natürlich herzlich willkommen!
++++++++++++++++++++
Vielen Dank an Anja für die
detaillierten und gut verständlichen
Einblicke in das Thema digitale
Biomarker!
Denk immer dran, sei und bleibe aktiv,
informiere Dich und treffe bewusst
Entscheidungen. So kannst Du ein
erfülltes Leben mit Multipler Sklerose
bei bestmöglicher Gesundheit führen!
Viel Erfolg dabei und alles
Liebe,
Nele
Mehr Informationen rund um das Thema MS
erhältst du in
meinem kostenlosen
MS-Letter.
Hier findest Du eine Übersicht
über alle bisherigen
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