#101 – Interview mit Prof. Christoph Heesen zur Stammzelltherapie
Prof. Heesen erklärt, wie die Stammzelltherapie abläuft, welche
Chancen und Risiken damit einhergehen und wer an der Studie
teilnehmen kann. In Folge 101 vom Podcast steht die
Stammzelltherapie für MS-Patienten im Fokus. Prof. Christoph...
40 Minuten
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Beschreibung
vor 3 Jahren
Prof. Heesen erklärt, wie die Stammzelltherapie abläuft, welche
Chancen und Risiken damit einhergehen und wer an der Studie
teilnehmen kann.
In Folge 101 vom Podcast steht die
Stammzelltherapie für MS-Patienten im Fokus.
Prof. Christoph Heesen vom UKE Hamburg hat
bereits einige Erfahrungen mit der Therapieform
gesammelt und gibt uns einen umfassenden Einblick
in Ablauf, Chancen und Risiken der Behandlung. Er
erläutert die Rahmenbedingungen der Studie, die
frisch angelaufen ist und für wen sie in Frage
kommt.
Ich habe versucht die Antworten von Prof. Heesen
auf meine Fragen in Textform bestmöglich
wiederzugeben.
Vorstellung
Prof. Dr. med. Christoph Heesen ist Oberarzt
& Leiter der MS-Ambulanz am UKE Hamburg und
ausgebildeter Facharzt für Neurologie.
Wichtigste Stationen bis zur jetzigen Position?
Ich habe Medizin in Marburg und Kiel studiert.
Anschließend war ich ein Jahr klinisch tätig in
Bremen. Es folgte ein kurzer Ausflug nach London.
In meiner Doktorarbeit ging es um
Autoimmunerkrankungen. Zum Start in den
Klinikalltag kamen gerade die ersten MS-Therapien
auf den Markt. Seitdem beschäftige ich mich auch
mit den kritischen Kommunikation um die Therapien
herum und mit dem Therapieziel der Behandlung.
Persönliche Motivation für Ihren Beruf?
Faszination der Neurologie und Immunologie. Im
Studium kam dann der Bereich der
Psychoneuroimmunologie dazu. Bis heute ist das
Interesse groß zu verstehen, wie psychischer
Stress auf die Multiple Sklerose wirkt und wie
man im Umkehrschluss Patienten dabei helfen kann,
diesen negativen Einfluss auf die Erkrankung zu
reduzieren.
Stammzelltherapie Wann macht eine
Stammzelltherapie bei MS-Patienten Sinn? Für wen
kommt sie in Frage?
Die Stammzelltherapie ist ein Verfahren, das für
hoch-aggressive Verläufe geeignet ist. Also für
eine hochaktive schubförmige MS mit vielen
Schüben im Jahr, bleibenden Beeinträchtigungen,
einem jungen Lebensalter und einer kurzen
Krankheitsdauer der Patienten. Lebensalter
idealerweise unter 40 Jahren.
Krankheitsdauer unter zehn Jahren. Mit drei
Schüben im Jahr. Mit einer Beeinträchtigung nach
zwei bis drei Jahren, dass man nicht mehr
unbegrenzt gehen kann.
Auch progrediente Verläufe kommen in Fragen,
falls sie noch nicht zu fortgeschritten
sind.
Wichtig: Die verabreichten Stammzellen sorgen für
einen Neustart des Immunsystems. Sie können weder
das Gehirn reparieren noch Nerven wieder
aussprießen lassen. Man zerstört das komplette
Immunsystem, um es anschließend wieder neu
aufzubauen. Damit verschwindet auch das komplette
immunologische Gedächtnis. Impfungen müssen neu
gegeben werden.
In späteren Stadien der Erkrankung, wo
Entzündungen nicht mehr so wichtig sind, sondern
es um Folgeschäden der zerstörten Nerven geht und
Degeneration stellt diese Art der Behandlung nur
noch ein Risiko dar und kann keinen Nutzen mehr
bieten.
Wie läuft eine Stammzellentherapie bei
MS-Patienten ab?
Es gibt eine autologe und eine allogene
Stammzelltherapie. Bei der autologen
Stammzelltherapie erhält man seine eigenen
Stammzellen zurück, bei der allogenen
Spenderstammzellen.
Bei MS-Patienten werden die eigenen Stammzellen
wieder verabreicht. Dadurch besteht zwar das
Risiko die MS wieder zurückzubekommen, aber die
Risiken und Komplikationen sind viel geringer.
Zuerst werden die Stammzellen gesammelt. Das
erfolgt durch eine sogenannte Mobilisation. Dafür
werden die Stammzellen aus dem Knochenmark
ausgeschwemmt. Man gibt eine Chemotherapie,
typischerweise Cyclophosphamid oder Endoxan.
Beide wurden bereits vor 30 Jahren als Therapie
bei Multipler Sklerose ausprobiert. In einer
geringen Dosis aktivieren sie die Stammzellen,
diese wandern dann vom Knochenmark ins Blut.
Mit einer Abfilterungsanlage werden die
Stammzellen in der Apharese gesammelt, die
ähnlich der Plasmapherese oder Plasmaspende
funktioniert. Anschließend werden die Stammzellen
aufbereitet, geprüft ob alle funktionieren,
eingefroren und wieder aufgetaut. Denn es muss
sichergestellt werden, dass der MS-Patient
funktionierende Stammzellen zurückerhält, alles
andere wäre hochgradig gefährlich, da vorher ja
das komplette Immunsystem platt gemacht wurde.
Sehr gute Standards reduzieren dieses Risiko
gegen Null.
Danach ist der Patient wieder zuhause. Sprich
erst Zellen mobilisieren, herausfiltern,
aufbereiten und einfrieren.
Danach kommt der Patient wieder zur eigentlichen
Therapie. Diese beginnt mit der sogenannten
Konditionierung. Das heißt, der Patient bekommt
eine ganz massive Immunsuppression oder
Chemotherapie, die das Immunsystem kaputtmacht.
Das ist derzeit ebenfalls Cyclophosphamid oder
Endoxan. Zusätzlich gibt man einen bestimmten
Antikörper. Nun hat der Patient kein Immunsystem
mehr. Würde man dem Patienten nun keine
Stammzellen geben, würde dieser Patient innerhalb
weniger Wochen oder Monate an einer Infektion
versterben.
Deshalb bekommt man seine aufbereiteten
Stammzellen nach ein paar Tagen wieder, nach ca.
einer Woche. Die Stammzellen wachsen dann an. Das
dauert ca. eine Woche bis zehn Tage. Das
Immunsystem erholt sich wieder. Bei optimalem
Verlauf dauert dieser Teil der Therapie drei
Wochen. In Hamburg lag der Durchschnitt bei drei
bis fünf Wochen.
Anschließend geht der Patient nach Hause. Das
Immunsystems muss wieder aufgebaut werden. In den
ersten drei Monaten muss man sehr vorsichtig sein
und jede Woche zum Blutbildcheck. Man muss
verschiedene Virus- und Pilzmittel nehmen, die
den Körper vor Infektionen schützen. Ein Jahr
braucht das Immunsystems ungefähr, um sich wieder
aufzubauen.
Welche Chancen und Gefahren stehen im
Zusammenhang mit einer Stammzellentherapie?
Aus den bisherigen Daten kann man sehen, dass die
Entzündungsaktivität deutlich reduziert werden
kann. Mehr als bei allen anderen hochwirksamen
Therapien. Angestrebt wird eine nicht mehr
nachweisbare Krankheitsaktivität, also keine
Schübe, keine neuen Läsionen im MRT, keine
Progression. Dieses ambitionierte Ziel bekommt
man mit den Standardtherapien bei 40% der
Patienten hin. Bei der Stammzelltransplantation
schafft man es bei 60-80%, vielleicht sogar 90%
der Patienten. Die Therapie hat ein hohes
Potenzial, allerdings gibt es für die
Stammzelltherapie bisher nur wenige Daten, eine
viel kleinere Studienlage.
Zusätzlich bietet die Therapie bisher für ein
Drittel der Patienten die Chance, anschließend
sogar besser zu werden. Die Patienten konnten
sich erholen, weil das Immunsystem nun nicht mehr
ständig neue Angriffe von der MS erlebte und Zeit
hatte, seine körpereigenen Reparaturmechanismen
zu fahren.
Deshalb sind jüngere Menschen ideale Kandidaten,
weil sie dieses Partizipationspotenzial noch
haben.
Demgegenüber stehen die Risiken, weshalb es viele
Vorbehalte in Deutschland gegen dieses Verfahren
gibt. Früher starben 3-5% der Patienten, weil man
noch toxischere Chemotherapien einsetzte und
ältere Patienten einschloss, die noch andere
Erkrankungen hatten. Heutzutage liegt das Risiko
bei unter 1%. Aber wichtig bis zu 1%
therapiebezogene Sterblichkeit bleibt als Risiko
bestehen. Es ist eine risikoreiche Therapie. In
Hamburg wurden bisher 20 Patienten behandelt,
keiner ist gestorben.
Eine neue englische Serie mit 120 Patienten hatte
drei Todesfälle. Allerdings waren da auch
Patienten Mitte 60 dabei und mit Vorerkrankungen.
Alle drei verstorbenen Patienten hatten
Vorerkrankungen. In Deutschland ist die Grenze
bei 40 bis 50 Jahren.
Man kann außerdem sekundäre Autoimmunerkrankungen
bekommen (5-6%). Meistens sind diese aber gut
beherrschbar.
Zusätzlich können sekundäre Krebserkrankungen
auftreten ca. 3-4%.
Und es kann zu Unfruchtbarkeit kommen für Männer,
wie Frauen. Man sollte Eizellen bzw. Spermazellen
einfrieren, um sich den Kinderwunsch später
dennoch erfüllen zu können.
Wie ausführlich werden in Frage kommende
MS-Patienten über die Behandlung informiert und wie
lange dauert der Entscheidungsprozess
üblicherweise?
Die Patienten, die sich in Hamburg melden, sind
in der Regel sehr gut informiert. Teilweise über
die Facebook-Gruppe der MS-Transplantierten.
Somit führen wir meist ein erstes Gespräch, geben
dann Bedenkzeit. Und beim zweiten Gespräch, wenn
die Patienten sich immer noch sicher sind.
In der Regel ist es für die Patienten relevant,
deren normales Leben nicht mehr funktioniert, die
alles andere an MS-Therapien ausprobiert haben,
mit nur geringem Erfolg. Dann stehen Risiko und
Nutzen in einem sinnvollen Verhältnis. und es
geht eher darum, wie man an das Verfahren kommt.
Für diese Patienten ist es eine
Befreiungsschlagchance mit einem gewissen
Restrisiko.
Wie lange dauert die eigentliche Behandlung?
Ungefähr ein Jahr. Die Mobilisation dauert eine
Woche. Die Stammzelltherapie selbst drei bis fünf
Wochen stationär. Daran schließen sich drei
Monate Nachbeobachtung an. Also vier Monate
ernstere Behandlungsphase. Anschließend kann man
in die Reha oder lieber erst ein Jahr später, um
das Immunsystem noch ein bisschen zu schonen, da
dort schließlich mehr Kontakt mit anderen
Menschen stattfindet. Das ist eigener
Ermessensspielraum.
Welche Reha-Maßnahmen oder anderen
regenerativen Behandlungen folgen im Anschluss an
die Stammzellentherapie?
Nichts Spezifisches. Viele Patienten sind dann
erstmal richtig schlapp und fühlen sich
schlechter. Schließlich ist die Behandlung sehr
intensiv und anstrengend für den Körper. Andere
erholen sich schneller und trainieren viel
zuhause. Das hilft auf jeden Fall. Allgemeine
MS-spezialisierte Reha macht Sinn.
Wie ist es, wenn man kleinere Kinder hat?
Zum Glück übertragen Kinder in der Regel keine
massiv gefährlichen Krankheiten. Wenn man es
schafft, in den ersten drei Monaten eine gewisse
Distanz einzuhalten oder das Kind eventuell
zuhause zu behalten, wird das Risiko reduziert.
Allerdings sollte man die psychische Belastung
der Trennung auch nicht unterschätzen. Also
abklären, diskutieren und dann individuell
entscheiden.
Wer trägt die Kosten für eine Stammzelltherapie
bei MS in Deutschland?
Grundsätzlich übernehmen die Krankenkassen in
Deutschland die Kosten nicht, weil es keine
etablierte Therapie ist. Eventuell kann man seine
Krankenkasse davon überzeugen, die Kosten zu
übernehmen.
Ansonsten gibt es die Möglichkeit der
Selbstfinanzierung. Das sind mindestens 35.000
bis 40.000 Euro in Deutschland. Man kann auch in
die Schweiz, nach London, Mexiko oder Moskau
gehen.
In Hamburg wird nur die Behandlung über Studie
angeboten bzw. bei Übernahme der Kosten durch die
Krankenkasse.
Was ist der Unterschied für MS-Patienten, wenn
sie an der Studie zur Stammzelltherapie teilnehmen?
An der Studie können zunächst nur Patienten im
schubförmigen Verlauf teilnehmen, die eine
Therapieversagen mit den Standardtherapien haben,
unter 50 Jahre sind und die MS nicht länger als
10 Jahre haben. In der Studie wird die
Stammzelltherapie mit Lemtrada oder Ocrevus
verglichen, um aufzuzeigen, dass die Kosten der
Stammzelltransplantation geringer sind, als mit
den Standard hochwirksamen Medikamenten, um
letztendlich hoffentlich eine Kostenübernahme für
alle Patienten zu bewirken nach erfolgreich
abgeschlossener Studie.
Das heißt, man hat 50% Chancen die
Stammzelltherapie zu erhalten, man kann aber auch
in der anderen Gruppe landen und entscheidet dann
gemeinsam mit seinem Arzt, ob man Lemtrada oder
Ocrevus nimmt.
Es wäre sehr ungünstig, wenn zu viele Patienten
abspringen, bloß weil sich nicht die
Stammzelltransplantation erhalten haben. Wenn die
Patienten allerdings unter Lemtrada oder Ocrevus
schlechter werden würden und der
Behandlungserfolg ausbleibt, würden sie ebenfalls
transplantiert werden.
Bei einer ähnlichen Studie aus den USA wurden
ungefähr die Hälfte der Patienten letztendlich
doch transplantiert, weil die anderen Therapien
nicht ausgereicht haben.
Generell muss man zu vielen
Kontrolluntersuchungen kommen. Anfangs alle drei
Monate, später zweimal jährlich bis einmal
jährlich inklusive MRT und Gehirnleistungstest,
um die Langzeiterfolge zu messen.
50 Patienten werden für die Studie benötigt, das
ist in 5 Jahren möglich.
Realistischerweise könnte es in fünf bis zehn
Jahren zur Kassenleistung werden, wenn es so gut
läuft, wie erwartet.
Gibt es weitere MS-Zentren in Deutschland, wo
eine Studienteilnahme möglich ist?
Die Uniklinik Mannheim ist dabei, das MS-Zentrum
Dresden ist frisch dazugekommen und Düsseldorf
könnte mit hinzukommen. Patienten sollen auch aus
einem größeren Radius zu den vier teilnehmenden
Kliniken kommen.
Was sollten interessierte MS-Patienten machen,
um abzuklären, ob sie geeignete Kandidaten für die
Studie sind?
Sinnvollerweise sollten sich interessierte
Patienten momentan in Hamburg melden unter .
Gerne auch telefonisch. Zunächst würden wir die
Kerninformationen klären, ob der Kandidat passt
und alle wichtigen Informationen zur Aufklärung
hat. Von den Patienten, die sich melden, sind
20-30% geeignet.
Sobald, die ersten zwei drei Patienten in Hamburg
in Behandlung sind, können bestimmt auch die
anderen Zentren aktiv loslegen. Und falls es
viele Anfragen zur generellen Therapie gibt, die
dann aber größtenteils nicht in Hamburg
durchgeführt werden, können hoffentlich auch die
anderen Zentren mit bei der Aufklärung und
Information der Patienten mithelfen.
Blitzlicht-Runde Vervollständigen Sie
den Satz:
„Für mich ist die Multiple Sklerose… eine sehr
unterschiedlich verlaufende Krankheit, die eine
hochindustrialisierte Therapie braucht.“
Welche Internet-Seite können Sie zum
Thema MS empfehlen?
DMSG
Hamburg und unsere
MS-Ambulanz Seite am UKE Hamburg.
Welchen Durchbruch in der Forschung und
Behandlung zur MS wünschen Sie sich in den
kommenden 5 Jahren?
Die Etablierung der Stammzelltherapie. Das Sport-
und Ausdauertraining mehr ins Bewusstsein rückt
und sich für die Regeneration und Prävention
etabliert.
Möchten Sie den Hörerinnen und Hörern noch
etwas mit auf dem Weg geben?
Finden sie ihren eigenen Weg mit der MS. Und
suchen sie sich Ärzte, die sie dabei
unterstützen.
Wie erreicht man die MS-Ambulanz am UKE in
Hamburg?
Am besten per E-Mail: multiplesklerose[at]uke.de
oder telefonisch 040-7410-54076.
+++++++++
Vielen Dank an Prof. Christoph Heesen für das
geführte Interview und den umfassenden Ein- und
Überblick zur Stammzelltransplantation bei
Multipler Sklerose.
Bestmögliche Gesundheit wünscht dir,
Nele
Mehr Informationen rund um das Thema MS
erhältst du in meinem kostenlosen
Newsletter.
Hier findest du eine Übersicht zu
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