Gedanken am frühen Morgen - Geduld nachahmen

Gedanken am frühen Morgen - Geduld nachahmen

6 Minuten

Beschreibung

vor 9 Monaten

Ich für meinen Teil schätze die Tugend der Geduld höher als
Zeichen und Wunder. Eines Tages also wurde der Amtsnachfolger des
ehrwürdigen Honoratus gegen unsern ehrwürdigen Libertinus sehr
zornig, so zwar, dass er ihn mit den Händen schlug. Da er keinen
Stock zum Schlagen finden konnte, griff er nach einem Fußschemel
und schlug ihn damit auf den Kopf und in das Gesicht, so daß das
ganze Antlitz geschwollen und blau wurde. Stillschweigend suchte
Libertinus, so übel er zugerichtet, sein Lager auf. Es war aber
auf den andern Tag in einer Klostersache gerichtlicher Termin
anberaumt. Darum begab sich Libertinus nach der Matutin an das
Bett des Abtes und bat demütig um den Segen. Da aber der Abt
wusste, wie sehr Libertinus von allen geehrt und geliebt wurde,
glaubte er, derselbe wolle wegen der Unbill, die er ihm zugefügt
hatte, das Kloster verlassen. Deshalb forschte er näher nach und
fragte: „Wohin willst du denn gehen?” Libertinus antwortete:
„Vater, es ist für das Kloster ein gerichtlicher Termin
angesetzt, von dem ich nicht wegbleiben kann; da ich gestern
versprochen habe, heute zu kommen, will ich jetzt hingehen.” Da
erkannte der Abt vom Grunde des Herzens sein hartes und liebloses
Verhalten sowie die Demut und Sanftmut des Libertinus, sprang vom
Lager auf, umschlang seine Füße und bekannte, dass er gesündigt
und gefehlt habe, indem er einem so großen und heiligen Mann eine
so arge Kränkung anzutun wagte. Aber auch Libertinus fiel nieder
und warf sich ihm zu Füßen mit der Beteuerung, nicht durch den
Zorn des Abtes, sondern durch seine eigene Schuld sei ihm eine
solche Behandlung widerfahren. Auf diese Weise wurde der Abt zu
großer Sanftmut geführt, und die Demut des Jüngers ward so zur
Meisterin des Lehrmeisters.

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