Gedanken am frühen Morgen - Natürliches Verstehen

Gedanken am frühen Morgen - Natürliches Verstehen

8 Minuten

Beschreibung

vor 1 Jahr

Ich möchte natürlich, es sollten auch meine Zuhörer alles ganz so
verstehen, wie ich es selbst [in mir] verstehe; und doch fühle
ich, daß meine Worte meiner Absicht nicht entsprechen. Dies kommt
vor allem daher, daß das Verständnis in der Seele gleichsam
blitzartig aufleuchtet, die mündliche Darlegung aber ganz im
Gegenteil dazu nur langsam und allmählich erfolgen kann, so daß
sich über ihrer allmählichen Entwicklung das Verständnis bereits
wieder in die geheimen Falten der Seele zurückgezogen hat.
Indessen hinterläßt jenes schnelle innere Erfassen doch in
wundersamer Weise gewisse Eindrücke im Gedächtnis, und eben diese
Eindrücke dauern in den Silben fort, die wir aussprechen, und aus
ihnen entwickeln wir jene Töne und Bezeichnungen, die man Sprache
nennt, sei es nun die lateinische oder die griechische oder die
hebräische oder irgendeine andere; dabei ist es ganz gleich, ob
diese Bezeichnungen bloß gedacht oder auch in Worte gekleidet
werden; denn die bezeichneten Ausdrücke selbst sind weder
lateinisch noch griechisch noch hebräisch noch irgendeinem Volke
eigentümlich, sondern sie sind für den Geist, was die
Gesichtszüge für den Körper sind. Der Begriff „Zorn“ z. B. wird
im Lateinischen anders als wie im Griechischen und wieder anders
in den verschiedenen übrigen Sprachen ausgedrückt: ein zorniges
Gesicht aber ist weder lateinisch noch griechisch. Wenn darum
einer sagt: „Iratus sum“, so verstehen ihn nicht alle Völker,
sondern nur die Lateiner. Prägt sich aber die innere Aufregung
sichtbar in seinem Antlitz aus und macht er ein zorniges Gesicht,
so erkennen alle, die ihn nur anblicken, daß er zornig ist.
Allein auch jene Eindrücke, die das [innere] Verständnis im
Gedächtnis zurückließ, lassen sich noch nicht so durch Wort und
Ton ausdrücken und der sinnlichen Wahrnehmung des Hörers
gleichsam faßbar darbieten, wie sich Gesichtszüge offen und klar
ersichtlich darstellen; denn jene Eindrücke haben ihren Sitz im
Innern des Geistes, während diese Gesichtszüge außen am Körper
erscheinen. Daraus läßt sich ermessen, wie weit unser
gesprochenes Wort hinter der blitzschnell aufleuchtenden
Erkenntnis zurückbleiben muß, da es nicht einmal mehr jenem
eigenen Gedächtniseindruck entspricht.

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