Gedanken am frühen Morgen - Der richtige Tisch

Gedanken am frühen Morgen - Der richtige Tisch

9 Minuten

Beschreibung

vor 1 Jahr

Denken wir uns zwei Tische: der eine sei ganz mit solchen Gästen
besetzt und weise nur Blinde, Bresthafte, Lahme, an Hand und Fuß
Verkrüppelte auf, barfüßig, nur mit einem einzigen, noch dazu
sehr abgenützten Rock bekleidet; an der anderen Tafel dagegen
sitzen lauter große Herren, Generäle, Statthalter, hohe Beamte,
angetan mit kostbaren Gewändern und feinster Leibwäsche, umgürtet
mit goldenen Gürteln. Ferner sei dort am Tische der Armen weder
Silbergerät noch Wein in Hülle und Fülle, sondern nur so viel,
als hinreicht, um eine fröhliche Stimmung hervorzurufen; die
Becher aber sowie die übrigen Geschirre seien nur von Glas. Hier
dagegen an der Tafel der Reichen seien alle Gefäße von Silber und
Gold; und einer allein sei nicht imstande, den Tisch zu heben,
sondern zwei Bediente könnten ihn kaum von der Stelle rücken; und
die Henkelkrüge stünden der Reihe nach da, mit ihrem Gold das
Silberzeug noch weit überstrahlend; auch sei der schwellende
Diwan ganz mit weichen Decken belegt. Weiters warte hier eine
zahlreiche Dienerschaft auf, nicht weniger als die
Tischgesellschaft schmuckvoll gekleidet und glänzend
ausstaffiert, in langen, weiten Beinkleidern, schön gewachsene
Gestalten, in der Blüte der Jugend, strotzend von Leben und
Gesundheit; dort hingegen seien nur zwei Aufwärter, die all
diesem Prunk mit Verachtung begegnen. Den einen werden teure
Gerichte in Menge vorgesetzt; den andern nur so viele Speisen,
daß sie ihren Hunger stillen und sich vollkommen behaglich fühlen
können. […] Wohlan also, nachdem so gut als möglich jeder Tisch
für uns seine entsprechende Ausstattung erhalten hat, wollen wir
sehen, wo ihr Platz nehmen werdet. Ich für meine Person nämlich
werde mich an den der Blinden und Lahmen begeben; von euch aber
werden vielleicht die meisten den anderen vorziehen, den der
Vornehmen, an dem Glanz und Prunk herrscht. — Laßt uns nun sehen,
welcher von beiden größeres Vergnügen gewährt! Die
Zukunft wollen wir noch gar nicht in Betracht
ziehen; denn da behauptet der von mir gewählte (unbestritten) den
Vorrang. Warum? Weil hier Christus zu Gaste ist, dort hingegen
bloß Menschen; hier der Herr, dort die Knechte. Doch davon noch
nichts; laßt uns vielmehr sehen, welcher von beiden in der
Gegenwart größeres Vergnügen bietet! Auch in
dieser Beziehung nun ist hier das Vergnügen größer. Denn größeres
Vergnügen bereitet es, mit dem König an einer Tafel zu sitzen als
mit seinen Dienern. Indes auch davon wollen wir absehen und die
Sache an und für sich untersuchen! Ich also und wer mit mir
diesen Tisch gewählt hat, wir können ganz ungezwungen und nach
Herzenslust der Unterhaltung pflegen, während ihr mit Zittern und
Zagen dasitzt und aus lauter Respekt vor den Gästen euch nicht
einmal die Hand auszustrecken getraut, gleich als wäret ihr in
die Schule gekommen und nicht zu einem Gastmahl, gleich als
müßtet ihr sie wie strenge Gebieter fürchten. Ganz anders dagegen
jene. — Aber, wirft man ein, die große Ehre! — Jedenfalls bin ich
höher geehrt; denn eure Unbedeutendheit tritt umso greller
zutage, wenn ihr, obschon am nämlichen Tische sitzend, die
Sprache unterwürfiger Sklaven führen müßt. Fällt ja auch der
Sklave dann am meisten in die Augen, wenn er mit seinem Herrn am
gleichen Tische sitzt. Er befindet sich eben an einem Platze, der
ihm nicht gebührt; darum erwächst ihm aus der Tischgemeinschaft
nicht so fast Auszeichnung als vielmehr Erniedrigung. Denn gerade
dann muß er sich seiner ganzen Niedrigkeit bewußt werden...

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