Gedanken am frühen Morgen - Was bleibt?
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vor 1 Jahr
Und da schämst du dich nicht, du Erdenkloß, der bald wieder in
Staub zurücksinkt, der du, einer Wasserblase gleich, schnell
zerstiebende Luft in dir birgst, ― da schämst du dich nicht, mit
Hochmut dich zu füllen, vor Eigendünkel aufzuschwellen und deinen
Geist in törichter Einbildung emporzurecken? Offensichtlich
vergissest du ganz auf die beiden Pole des Menschenlebens, wie es
nämlich anfängt und wie es aufhört, sondern bist stolz auf deine
Jugend, schaust auf dein blühendes Alter und gefällst dir in
deiner Lebensfrische, weil deine Arme voll strotzender Kraft sich
bewegen, deine Füße behend im Springen sich zeigen, deine Locken
in den Lüften wehen, der Flaum deine Lippen untermalt und weil
dir dein Kleid in Purpurfarbe leuchtet und deine seidenen Gewebe
dir bunt geschmückt sind mit Bildern von Schlachten und Jagden
und ähnlichen Darstellungen! Oder du siehst vielleicht mit Stolz
auf deine Fußkleidung, die in tadellosem Schwarz funkelt und in
überkünstlicher Weise noch durch ihre eingesteppten Zieraten
ergötzen soll! Auf solche Sachen fällt dein Blick, und auf dich
selbst schaust du nicht? Ich will dir wie in einem Spiegel
zeigen, wer du bist und welches deine Beschaffenheit ist. Hast du
noch auf keinem Beerdigungsplatz die Geheimnisse unserer Natur
beobachtet? Hast du nicht die aufeinandergehäuften Knochen
gesehen, die von Fleisch entblößten Schädel, wie sie furchtbar
und gräßlich mit den leeren Augenhöhlen uns anstieren? Hast du
den zähnefletschenden Mund gesehen und die übrigen Gliedmaßen,
wie sie umherliegen, aufs Geratewohl hingestreut? Hast du dies
gesehen, so hast du darin ― dich selbst gesehen. Wo sind die
Zeichen deiner gegenwärtigen Blüte? wo die schöne Farbe deiner
Wange? wo deine reizenden Lippen? wo die kecke Schönheit deiner
Augen, die unter geschwungenen Brauen hervorleuchtet? wo die
geradlinige Nase im feinen Antlitz? wo die um den Nacken
wallenden Haare und die Locken um die Schläfe? Wo sind die Hände,
die den Pfeil vom Bogen schnellen, die Füße, die das Pferd
spornen? Wo ist der Purpur, wo das feine Linnenkleid aus Byssos,
wo der Mantel, der Gürtel, die Schuhe? Wo ist das Pferd und sein
Lauf, sein Übermut? Wohin ist alles, was jetzt deinen Hochmut
nährt? Sag an, wo ist hier das zu finden, weshalb du dich
überhebst und dich groß dünkst? Wo ist hier noch ein so eitler
Traum? wo noch solche Wahnvorstellungen eines Schlafenden, wo ein
so schwaches, ungreifbares Schattenbild wie das der Jugend? Alles
erscheint wie ein Traum, der kaum gekommen, sogleich
vorüberhuscht!
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