(17) Gotthold Ephraim Lessing »Die Geschichte des alten Wolfs«
9 Minuten
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Lesung - Klassiker, Philosophie, Gedichte | Gelesen von Elisa Demonki
Beschreibung
vor 18 Jahren
1. Der böse Wolf war zu Jahren gekommen und faßte den gleißenden
Entschluß, mit den Schäfern auf einem gütlichen Fuß zu leben. Er
machte sich also auf und kam zu dem Schäfer, dessen Horden seiner
Höhle die nächsten waren. „Schäfer“, sprach er, „du nennest mich
den blutgierigsten Räuber, der ich doch wirklich nicht bin.
Freilich muß ich mich an deine Schafe halten, wenn mich hungert;
denn Hunger tut weh. Schütze mich nur vor dem Hunger; mache mich
nur satt, und du sollst mit mir recht wohl zufrieden sein. Denn ich
bin wirklich das zahmste, sanftmütigste Tier, wenn ich satt bin.“
„Wenn du satt bist? Das kann wohl sein“, versetzte der Schäfer.
„Aber wann bist du denn satt? Du und der Geiz werden es nie. Geh
deinen Weg!“ 2. Der abgewiesene Wolf kam zu einem zweiten Schäfer.
„Du weißt, Schäfer“, war seine Anrede, „daß ich dir das Jahr durch
manches Schaf würgen könnte. Willst du mir überhaupt jedes Jahr
sechs Schafe geben, so bin ich zufrieden. Du kannst alsdenn sicher
schlafen und die Hunde ohne Bedenken abschaffen.“ „Sechs Schafe?“
sprach der Schäfer, „das ist ja eine ganze Herde!“ „Nun, weil du es
bist, so will ich mich mit fünfen begnügen“, sagte der Wolf. „Du
scherzest, fünf Schafe! Mehr als fünf Schafe opfere ich kaum im
ganzen Jahr dem Pan.“ „Auch nicht viere?“ fragte der Wolf weiter;
und der Schäfer schüttelte spöttisch den Kopf. „Drei? – Zwei?“
„Nicht ein einziges“, fiel endlich der Bescheid, „denn es wäre ja
wohl töricht, wenn ich mich einem Feinde zinsbar machte, vor
welchem ich mich durch meine Wachsamkeit sichern kann.“ 3. Aller
guten Dinge sind drei, dachte der Wolf und kam zu einem dritten
Schäfer. „Es geht mir recht nahe“, sprach er, „daß ich unter euch
Schäfern als das grausamste, gewissenloseste Tier verschrien bin.
Dir, Montan, will ich jetzt beweisen, wie unrecht man mir tut. Gib
mir jährlich ein Schaf, so soll deine Herde in jenem Walde, den
niemand unsicher macht als ich, frei und unbeschädigt weiden
dürfen. Ein Schaf! Welche Kleinigkeit! Könnte ich großmütiger,
könnte ich uneigennütziger handeln? – Du lachst, Schäfer? Worüber
lachst du denn?“ „Oh, über nichts! Aber wie alt bist du, guter
Freund?“ sprach der Schäfer. „Was geht dich mein Alter an? Immer
noch alt genug, dir deine liebsten Lämmer zu würgen.“ „Erzürne dich
nicht, alter Isegrim! Es tut mir leid, daß du mit deinem Vorschläge
einige Jahre zu späte kommst. Deine ausgebissenen Zähne verraten
dich. Du spielst den Uneigennützigen, bloß um dich gemächlicher mit
desto weniger Gefahr nähren zu können.“ 4. Der Wolf ward ärgerlich,
faßte sich aber doch und ging auch zu dem vierten Schäfer. Diesem
war eben sein treuer Hund gestorben, und der Wolf machte sich den
Umstand zunutze. „Schäfer“, sprach er, „ich habe mich mit meinen
Brüdern in dem Walde veruneiniget und so, daß ich mich in Ewigkeit
nicht wieder mit ihnen aussöhnen werde. Du weißt, wieviel du von
ihnen zu fürchten hast! Wenn du mich aber anstatt deines
verstorbenen Hundes in Dienste nehmen willst, so stehe ich dafür,
daß sie keines deiner Schafe auch nur scheel ansehen sollen.“ „Du
willst sie also“, versetzte der Schäfer, „gegen deine Brüder im
Walde beschützen?“ „Was meine ich denn sonst? Freilich.“ „Das wäre
nicht übel! Aber, wenn ich dich nun in meine Horden einnähme, sage
mir doch, wer sollte alsdenn meine a… (weiterlesen auf
https://podcast-lesung.de/17-gotthold-ephraim-lessing-die-geschichte-des-alten-wolfs/)
Entschluß, mit den Schäfern auf einem gütlichen Fuß zu leben. Er
machte sich also auf und kam zu dem Schäfer, dessen Horden seiner
Höhle die nächsten waren. „Schäfer“, sprach er, „du nennest mich
den blutgierigsten Räuber, der ich doch wirklich nicht bin.
Freilich muß ich mich an deine Schafe halten, wenn mich hungert;
denn Hunger tut weh. Schütze mich nur vor dem Hunger; mache mich
nur satt, und du sollst mit mir recht wohl zufrieden sein. Denn ich
bin wirklich das zahmste, sanftmütigste Tier, wenn ich satt bin.“
„Wenn du satt bist? Das kann wohl sein“, versetzte der Schäfer.
„Aber wann bist du denn satt? Du und der Geiz werden es nie. Geh
deinen Weg!“ 2. Der abgewiesene Wolf kam zu einem zweiten Schäfer.
„Du weißt, Schäfer“, war seine Anrede, „daß ich dir das Jahr durch
manches Schaf würgen könnte. Willst du mir überhaupt jedes Jahr
sechs Schafe geben, so bin ich zufrieden. Du kannst alsdenn sicher
schlafen und die Hunde ohne Bedenken abschaffen.“ „Sechs Schafe?“
sprach der Schäfer, „das ist ja eine ganze Herde!“ „Nun, weil du es
bist, so will ich mich mit fünfen begnügen“, sagte der Wolf. „Du
scherzest, fünf Schafe! Mehr als fünf Schafe opfere ich kaum im
ganzen Jahr dem Pan.“ „Auch nicht viere?“ fragte der Wolf weiter;
und der Schäfer schüttelte spöttisch den Kopf. „Drei? – Zwei?“
„Nicht ein einziges“, fiel endlich der Bescheid, „denn es wäre ja
wohl töricht, wenn ich mich einem Feinde zinsbar machte, vor
welchem ich mich durch meine Wachsamkeit sichern kann.“ 3. Aller
guten Dinge sind drei, dachte der Wolf und kam zu einem dritten
Schäfer. „Es geht mir recht nahe“, sprach er, „daß ich unter euch
Schäfern als das grausamste, gewissenloseste Tier verschrien bin.
Dir, Montan, will ich jetzt beweisen, wie unrecht man mir tut. Gib
mir jährlich ein Schaf, so soll deine Herde in jenem Walde, den
niemand unsicher macht als ich, frei und unbeschädigt weiden
dürfen. Ein Schaf! Welche Kleinigkeit! Könnte ich großmütiger,
könnte ich uneigennütziger handeln? – Du lachst, Schäfer? Worüber
lachst du denn?“ „Oh, über nichts! Aber wie alt bist du, guter
Freund?“ sprach der Schäfer. „Was geht dich mein Alter an? Immer
noch alt genug, dir deine liebsten Lämmer zu würgen.“ „Erzürne dich
nicht, alter Isegrim! Es tut mir leid, daß du mit deinem Vorschläge
einige Jahre zu späte kommst. Deine ausgebissenen Zähne verraten
dich. Du spielst den Uneigennützigen, bloß um dich gemächlicher mit
desto weniger Gefahr nähren zu können.“ 4. Der Wolf ward ärgerlich,
faßte sich aber doch und ging auch zu dem vierten Schäfer. Diesem
war eben sein treuer Hund gestorben, und der Wolf machte sich den
Umstand zunutze. „Schäfer“, sprach er, „ich habe mich mit meinen
Brüdern in dem Walde veruneiniget und so, daß ich mich in Ewigkeit
nicht wieder mit ihnen aussöhnen werde. Du weißt, wieviel du von
ihnen zu fürchten hast! Wenn du mich aber anstatt deines
verstorbenen Hundes in Dienste nehmen willst, so stehe ich dafür,
daß sie keines deiner Schafe auch nur scheel ansehen sollen.“ „Du
willst sie also“, versetzte der Schäfer, „gegen deine Brüder im
Walde beschützen?“ „Was meine ich denn sonst? Freilich.“ „Das wäre
nicht übel! Aber, wenn ich dich nun in meine Horden einnähme, sage
mir doch, wer sollte alsdenn meine a… (weiterlesen auf
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