Jenseits der Komfortzone | Von Susanne Begerow

Jenseits der Komfortzone | Von Susanne Begerow

13 Minuten

Beschreibung

vor 3 Jahren

Den vollständigen Standpunkte-Text (inkl ggf. Quellenhinweisen
und Links) findet ihr hier:
https://kenfm.de/jenseits-der-komfortzone-von-susanne-begerow/


Gefahren sollten nicht als etwas genuin Schlechtes betrachtet
werden, sondern als Herausforderungen, an denen wir wachsen
können. Ein Standpunkt von Susanne Begerow.
Sicherheitsbedürfnisse stehen momentan absolut im Fokus. Schutz
vor Ansteckung, Schutz vor Terrorismus und Kriminalität, Schutz
vor Umweltschäden und dem sozialen Abstieg ... Wir werden
dazu angehalten, uns vor dem Leben zu verkriechen. Aus dem
Bedürfnis heraus, nichts falsch zu machen, machen wir am Ende gar
nichts und verharren in einer angstvollen Stagnation. Könnte es
nicht sein, dass neben den Sicherheitsbedürfnissen auch
Risikobedürfnisse eine Daseinsberechtigung haben — dass wir
Gefahren im Leben geradezu brauchen? Gefahr hat uns über die
ganze Menschheitsgeschichte hinweg begleitet. Sie hat mit dazu
beigetragen, persönliches Wachstum zu fördern und uns zu dem zu
machen, was wir jetzt sind. Wenn wir in den Zeiten des
„Supergrundrechts Sicherheit“ versäumen, sie angemessen zu
würdigen, ist das zu unserem eigenen Schaden. Und Odysseus
schaute lange sorgenschwer auf sein Schiff, die Gefährten und das
weite wogende Meer und wählte seine Worte wohlbedacht: „Ich
denke, das ist zu gefährlich. Wir bleiben hier!“ Ein Lobgesang
auf die Gefahr — der Titel verstört Sie? Hervorragend! Darauf
können wir aufbauen! Ja, die Formulierung klingt provokant und
genau das soll sie angesichts des aktuellen Primats des
Sicherheitsgedankens auch sein. Der Konsens lautet seit Längerem:
alles für die Sicherheit — Helme, Handschuhe, Handbücher, Gurte,
Masken, Konzepte, Vorschriften, Verordnungen, Gesetze, weil wir
davon ausgehen, dass Sicherheit durchweg gut ist, dass es gar
nicht sicher genug sein kann und jeder Preis dafür nur recht und
billig ist. Die Sicherheit ist das Wichtigste und jedes Opfer
muss fraglos erbracht werden in einer Solidargemeinschaft. Ihre
Verteidigung rechtfertigt jedes Mittel — auch die Gewalt. Schutz
ist omnipräsent und erstes Gebot. Auch der Natur und ihren
Phänomenen wohnen unkalkulierbare Gefahren inne, gegen die der
Mensch mit seiner überlegenen Intelligenz stetig neue
Sicherheitsmaßnahmen ergreifen muss. Ja, ich provoziere ein
bisschen, Sie dürfen mich später steinigen, zuerst möchte ich
noch meine Ode vollenden ... Dass ich Odysseus zur
Verdeutlichung meines Anliegens heranziehe, möge mir verziehen
sein, es ist nicht nur der Umstand, dass wir seiner
Risikobereitschaft ein Kulturgut zu verdanken haben und im
Bücherregal einen schicken Folianten, sondern vielmehr ein
veritables Beispiel für den bewussten Entschluss, ein Risiko
einzugehen, eine Herausforderung anzunehmen, bei der so ziemlich
nichts sicher ist — außer treuen Gefährten im Boot und listiger
Gattin daheim. Es ist eine Heldenreise, in deren Verlauf
Schwierigkeiten zu überwinden, Schätze — womöglich gar ein Gral —
zu finden, ein jungfräuliches Wesen (m/w/d) zu retten, mächtige
Gegnerinnen zu besiegen sind und nach bestandenen mannigfaltigen
Prüfungen gewachsen, gereift und zu guter Letzt geehrt und
vielbesungen mit in gebotener Bescheidenheit gewölbter
Heldenbrust auf einem Sockel Platz zu nehmen ist. Zentral ist
dabei die innere Reifung des Helden, Wachstum seiner Tugenden,
Tapferkeit Loyalität, Selbstdisziplin. Tamino musste schweigen,
offenbar eine der schwersten Übungen, Orpheus durfte sich nicht
umsehen, selbst solch eine Kleinigkeit kann halt auch ganz übel
schiefgehen. Initiationsriten enthalten übrigens ähnliche
Momente, ein gefährliches Tier ist zu erlegen, Schmerzen sind
auszuhalten, eine spirituelle Erfahrung muss bewältigt
werden … Eine positive Entwicklung bedarf der Konfrontation
mit Gefahren. Nun sind Helden heutzutage eine eher spärlich
gesäte Gattung und einen Gral findet man auch nicht an jeder
Ecke, nicht einmal bei amazon kann man ihn in den Warenkorb
legen. Daher für uns Mittelmäßige hier eine Nummer kleiner:
Würden Sie Ihr Kind auf einen knorrigen Baum klettern lassen,
dessen Äste garantiert nicht TÜV-zertifiziert sind, wie die
schönen bunten Geräte auf dem Spielplatz nebenan? Oder ist nicht
sogar ein mit Fernseher und Computer ausgestattetes Kinderzimmer
ein noch viel sichererer Ort? Dieser Logik scheinen viele Eltern
zu folgen, wenn man die schwindende motorische Kompetenz von
Kindern sieht, die bei einfachsten Bewegungsabläufen wie Hüpfen
und Rückwärtsgang überfordert sind — wie Kinderärzte unisono
konstatieren. Und einen Baum zu erklimmen wird mit dem
zunehmenden Übergewicht ohnehin viel zu beschwerlich...Was hier
übrigens neben der körperlichen Gesundheit psychologisch in
dieser Schein-Sicherheit Schaden nimmt, ist die sogenannte
elbstwirksamkeitserwartung, aus der das entsteht, was man
landläufig als „stabiles Selbstbewusstsein“ kennt im Gegensatz
zum Beispiel zum hohen, aber instabilen narzisstischen
Selbstbild. Stellen Sie sich spaßeshalber eine Mutter vor, die
nicht „Sei vorsichtig!“ sondern „Trau Dich, riskier was!“ hinter
ihrem Kind herruft. Wir brauchen Herausforderungen, Risiken,
Anstrengungen, Frustrationen, Blessuren! Und Charles hielt sein
fertiges Manuskript in Händen, dessen enormes Gewicht er nicht
nur physisch spürte. Die Gedanken darin enthielten Sprengstoff,
den er nicht zuletzt dank seines Theologiestudiums sehr genau
einzuschätzen vermochte. „Das wird richtig Probleme geben. Einen
schweinemäßigen Affenzirkus.“ Er blickte auf das knisternde
Kaminfeuer und mit einem entschlossenen Wurf landete die Seiten
in den Flammen, „The Origin of Species“ gab dem kleinen Raum
wohlige Wärme. Sie durchschauen meine Absicht: Ich möchte den
evolutionären und entwicklungspsychologischen Vorteilen von
Gefahr eine Lanze brechen. Wussten Sie übrigens, dass durch
Kaiserschnitt geholte Kinder, die so schön glatt und
unzerknittert direkt aus dem mütterlichen Bauch in die Welt
gelangen, dafür einen Preis zahlen in Form von höheren Risiken
für Asthma und Übergewicht? Selbst diese erste Gefahr auf dem Weg
ins Leben scheint uns physiologisch von Nutzen zu sein. Und dass
Viren uns attackieren, ist eine für unsere Immunkompetenz
lebenserhaltende Trainingssituation. Das überzeugt Sie alles
nicht? O.k. Dann wechseln wir den Fokus. Wie wäre es mit dem
Thema Lust. Sich in Gefahr zu begeben, kann Lust bereiten.
Schauen Sie auf die Intensivstationen, wo Motorradfahrer und
Reiter zusammengeflickt beieinander liegen. Fragen Sie
Drachenflieger, Kletterer, Taucher, Skifahrer oder ihr Kind, ob
es den Tiger oben auf der Bühne einmal streicheln möchte oder in
die Achterbahn. Es soll auch Menschen geben, die an riskanten
Sexualpraktiken große Freude finden — oder sich selbige zumindest
im Kino gern ansehen...weiterlesen hier:
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