Das nackte Leben | Von Giorgio Agamben
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vor 3 Jahren
Den vollständigen Standpunkte-Text (inkl ggf. Quellenhinweisen und
Links) findet ihr hier:
https://kenfm.de/das-nackte-leben-von-giorgio-agamben Mit der
Impfideologie wird jeder Mensch als asymptomatisch erkrankt
definiert — die Sorge um die Existenz hat jeden Wertepluralismus
eingeebnet. Von Giorgio Agamben. Glaube? Liebe? Hoffnung?
Heutzutage ist das nackte Leben der einzige Wert, der als
bewahrenswert gilt. Ihm haben einstmals hoch bewertete Ideale wie
Menschenwürde und Lebensqualität zu weichen — vom „Luxusgut“
Freiheit zu schweigen. Der menschliche Wertekatalog nähert sich
somit wieder dem der Tiere an, mit denen wir den Überlebenstrieb
gemeinsam haben. Unsere nicht menschlichen Mitgeschöpfe gelten ja
als Lebewesen mit ohnehin reduziertem Anspruch auf Freiheit und
würdige Behandlung, Wesen, über die nach Belieben verfügt werden
kann. Mit dem Fokus auf die körperliche Weiterexistenz wird
zugleich Krankheit zum No-Go. Gesundheit im engeren Sinne gibt es
nicht mehr; mit der aktuellen Impfagenda ist sie identisch mit
Krankheit im Stadium der Potenzialität. Mehrfach in meinen
vorhergehenden Einmischungen habe ich die Figur des nackten Lebens
evoziert. In der Tat scheint es mir, als zeige die Epidemie ohne
jeden Zweifel, dass die Menschheit an nichts mehr glaubt als nur
die nackte Existenz, die es als solche um jeden Preis zu erhalten
gilt. Die christliche Religion mit ihren Werken der Liebe und des
Erbarmens und ihrem Glauben bis zum Martyrium, die politische
Ideologie mit ihrer bedingungslosen Solidarität, sogar der Glaube
an die Arbeit und an das Geld scheinen an die zweite Stelle zu
rücken, kaum dass das nackte Leben bedroht wird, und sei es in Form
eines Risikos, dessen statistische Entität labil und vorsätzlich
unbestimmt ist. Der Zeitpunkt ist gekommen, den Sinn und den
Ursprung dieses Konzepts zu benennen. Es ist deshalb notwendig, in
Erinnerung zu rufen, dass das Menschliche nichts ist, was sich ein
für alle Mal definieren ließe. Es ist eher der Ort unentwegt
aktualisierter historischer Entscheidung, die jedes Mal die Grenze
festlegt, die den Menschen vom Tier scheidet, das, was im Menschen
menschlich ist, von dem, was in ihm und außerhalb seiner nicht
menschlich ist. Als Linné für seine Klassifikation ein
charakteristisches Merkmal sucht, das den Menschen vom Primaten
scheidet, muss er eingestehen, es nicht zu kennen, und er endet
damit, dem Gattungsnamen homo nur das alte philosophische Motto
nosce te ipsum, erkenne dich selbst, beizugesellen. Dies ist die
Bedeutung des Terminus sapiens, den Linné in der zehnten Auflage
seines „Systems der Natur“ beifügen wird: Der Mensch ist das Tier,
das sich als menschlich erkennen muss, um es zu sein, und das
deshalb das Menschliche unterscheiden muss — per Entscheidung — von
dem, was es nicht ist. Man kann das Dispositiv, durch das sich
diese Entscheidung historisch vollzieht, als anthropologische
Maschine bezeichnen. Die Maschine schließt das tierische Leben des
Menschen aus und produziert das Menschliche vermittels dieses
Ausschlusses. Aber damit die Maschine funktionieren kann, muss
Exklusion auch Inklusion sein, muss es zwischen den beiden Polen —
dem Tierischen und dem Menschlichen — ein Gelenk und eine Schwelle
geben, die sie zugleich trennen und verbinden. Dieses Gelenk ist
das nackte Leben, also ein Leben, das nicht eigentlich tierisch und
nicht wirklich menschlich ist, aber in welchem sich jedes Mal die
Entscheidung zwischen dem Menschlichen und dem nicht Menschlichen
vollzieht. Diese Schwelle, die notwendigerweise durch das Innere
des Menschen verläuft und in ihm das biologische Leben vom sozialen
trennt, ist eine Abstraktion und eine Virtualität, aber eine
Abstraktion, die real wird, indem sie sich jedes Mal in konkreten
historischen und politisch festgelegten Figuren inkarniert: dem
Sklaven, dem Barbaren, dem homo sacer, den in der antiken Welt
jeder töten kann, ohne ein Verbrechen zu begehen; dem enfant
sauvage, dem Wolfsmensch und dem homo alalus als fehlendem Glied
zwischen dem Affen und dem Menschen von der Aufklärung bis ins 19.
Jahrhundert; dem Bürger im Ausnahmezustand, dem Juden im Lager, dem
Komatösen im Reanimationsraum und dem Körper, der im 20.
Jahrhundert für die Entnahme von Organen aufbewahrt wird. Welche
Gestalt des nackten Lebens steht heute bei der Bewältigung der
Pandemie zur Diskussion? Es ist nicht so sehr der Kranke, der
isoliert und behandelt wird, wie nie ein Patient in der Geschichte
der Medizin behandelt wurde; es ist eher der Angesteckte oder — wie
es mit einer selbstwidersprüchlichen Formel definiert wird — der
asymptomatisch Erkrankte, etwas, was praktisch jeder Mensch ist,
auch ohne es zu wissen. Es geht nicht so sehr um die Gesundheit als
vielmehr um ein Leben, das weder gesund noch krank ist, dem als
solches, insofern es potenziell pathogen ist, die Freiheiten
entzogen werden können und das jeder Art von Verbot und Kontrolle
unterworfen werden kann. Alle Menschen sind in diesem Sinne
praktisch asymptomatisch Kranke. Die ganze Identität dieses Lebens,
das zwischen der Krankheit und der Gesundheit fluktuiert, besteht
darin, Empfänger des Teststäbchens oder der Impfung zu sein, die,
wie die Taufe einer neuen Religion, die ruinierte Gestalt dessen
definieren, was es einmal hieß, Bürger zu sein. Einer Taufe, die
nicht mehr auslöschbar ist, aber notwendigerweise provisorisch und
erneuerbar, weil der Neu-Bürger, der immer seine diesbezügliche
Bescheinigung wird vorweisen müssen, keine unveräußerlichen und
unkündbaren Rechte mehr besitzt, sondern nur Pflichten, die
unentwegt entschieden und erneuert werden müssen.…weiterlesen hier:
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bewahrenswert gilt. Ihm haben einstmals hoch bewertete Ideale wie
Menschenwürde und Lebensqualität zu weichen — vom „Luxusgut“
Freiheit zu schweigen. Der menschliche Wertekatalog nähert sich
somit wieder dem der Tiere an, mit denen wir den Überlebenstrieb
gemeinsam haben. Unsere nicht menschlichen Mitgeschöpfe gelten ja
als Lebewesen mit ohnehin reduziertem Anspruch auf Freiheit und
würdige Behandlung, Wesen, über die nach Belieben verfügt werden
kann. Mit dem Fokus auf die körperliche Weiterexistenz wird
zugleich Krankheit zum No-Go. Gesundheit im engeren Sinne gibt es
nicht mehr; mit der aktuellen Impfagenda ist sie identisch mit
Krankheit im Stadium der Potenzialität. Mehrfach in meinen
vorhergehenden Einmischungen habe ich die Figur des nackten Lebens
evoziert. In der Tat scheint es mir, als zeige die Epidemie ohne
jeden Zweifel, dass die Menschheit an nichts mehr glaubt als nur
die nackte Existenz, die es als solche um jeden Preis zu erhalten
gilt. Die christliche Religion mit ihren Werken der Liebe und des
Erbarmens und ihrem Glauben bis zum Martyrium, die politische
Ideologie mit ihrer bedingungslosen Solidarität, sogar der Glaube
an die Arbeit und an das Geld scheinen an die zweite Stelle zu
rücken, kaum dass das nackte Leben bedroht wird, und sei es in Form
eines Risikos, dessen statistische Entität labil und vorsätzlich
unbestimmt ist. Der Zeitpunkt ist gekommen, den Sinn und den
Ursprung dieses Konzepts zu benennen. Es ist deshalb notwendig, in
Erinnerung zu rufen, dass das Menschliche nichts ist, was sich ein
für alle Mal definieren ließe. Es ist eher der Ort unentwegt
aktualisierter historischer Entscheidung, die jedes Mal die Grenze
festlegt, die den Menschen vom Tier scheidet, das, was im Menschen
menschlich ist, von dem, was in ihm und außerhalb seiner nicht
menschlich ist. Als Linné für seine Klassifikation ein
charakteristisches Merkmal sucht, das den Menschen vom Primaten
scheidet, muss er eingestehen, es nicht zu kennen, und er endet
damit, dem Gattungsnamen homo nur das alte philosophische Motto
nosce te ipsum, erkenne dich selbst, beizugesellen. Dies ist die
Bedeutung des Terminus sapiens, den Linné in der zehnten Auflage
seines „Systems der Natur“ beifügen wird: Der Mensch ist das Tier,
das sich als menschlich erkennen muss, um es zu sein, und das
deshalb das Menschliche unterscheiden muss — per Entscheidung — von
dem, was es nicht ist. Man kann das Dispositiv, durch das sich
diese Entscheidung historisch vollzieht, als anthropologische
Maschine bezeichnen. Die Maschine schließt das tierische Leben des
Menschen aus und produziert das Menschliche vermittels dieses
Ausschlusses. Aber damit die Maschine funktionieren kann, muss
Exklusion auch Inklusion sein, muss es zwischen den beiden Polen —
dem Tierischen und dem Menschlichen — ein Gelenk und eine Schwelle
geben, die sie zugleich trennen und verbinden. Dieses Gelenk ist
das nackte Leben, also ein Leben, das nicht eigentlich tierisch und
nicht wirklich menschlich ist, aber in welchem sich jedes Mal die
Entscheidung zwischen dem Menschlichen und dem nicht Menschlichen
vollzieht. Diese Schwelle, die notwendigerweise durch das Innere
des Menschen verläuft und in ihm das biologische Leben vom sozialen
trennt, ist eine Abstraktion und eine Virtualität, aber eine
Abstraktion, die real wird, indem sie sich jedes Mal in konkreten
historischen und politisch festgelegten Figuren inkarniert: dem
Sklaven, dem Barbaren, dem homo sacer, den in der antiken Welt
jeder töten kann, ohne ein Verbrechen zu begehen; dem enfant
sauvage, dem Wolfsmensch und dem homo alalus als fehlendem Glied
zwischen dem Affen und dem Menschen von der Aufklärung bis ins 19.
Jahrhundert; dem Bürger im Ausnahmezustand, dem Juden im Lager, dem
Komatösen im Reanimationsraum und dem Körper, der im 20.
Jahrhundert für die Entnahme von Organen aufbewahrt wird. Welche
Gestalt des nackten Lebens steht heute bei der Bewältigung der
Pandemie zur Diskussion? Es ist nicht so sehr der Kranke, der
isoliert und behandelt wird, wie nie ein Patient in der Geschichte
der Medizin behandelt wurde; es ist eher der Angesteckte oder — wie
es mit einer selbstwidersprüchlichen Formel definiert wird — der
asymptomatisch Erkrankte, etwas, was praktisch jeder Mensch ist,
auch ohne es zu wissen. Es geht nicht so sehr um die Gesundheit als
vielmehr um ein Leben, das weder gesund noch krank ist, dem als
solches, insofern es potenziell pathogen ist, die Freiheiten
entzogen werden können und das jeder Art von Verbot und Kontrolle
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