#168 Marcel Fratzscher - Wohlstand statt Wachstum

#168 Marcel Fratzscher - Wohlstand statt Wachstum

40 Minuten

Beschreibung

vor 1 Jahr

Das waren doch gute Jahre. Viele gute Jahre.
Warum sollten wir etwas verändern wollen? Können wir nicht
einfach unsere Welt aus den 10er Jahren wiederhaben? Bitte?
Marcel Fratzscher sagt: Seien wir ehrlich zu uns. Wir haben nicht
die Wahl, ob wir uns verändern oder ob nicht. Wir können einzig
entscheiden, ob wir unseren Wunsch nach Stabilität etwas
zurückschrauben und unser Streben nach Perfektion gegen eine
Trial&Error-Haltung auswechseln. Die Konsequenzen liegen auf
der Hand: Andere Länder werden sich transformieren, allen voran
China und die USA. Damit werden auch viele gute Jobs, Arbeit und
Wohlstand abwandern. Letztlich müssen wir uns trotzdem
transformieren, haben aber das Problem zwischenzeitlich noch
vergrößert. 


Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung (DIW). Ein zentraler Gedanke, den wir im
Podcast diskutieren: Es kann nicht mehr um reines Wachstum gehen.
Wir brauchen eine neue Perspektive: Wohlstand.
Wirtschaftswissenschaft und Politik sind viel zu sehr auf das
Wachstum, das Bruttoinlandsprodukt fixiert. Allerdings betont
Marcel, hier messe man ganz enges Feld, das herzlich wenig mit
Wohlstand direkt zu tun hat. Dafür ist es einfach und damit
verlockend. Einfache Botschaften, einfache Kennzahlen sind viel
einfacher zu transportieren: „Wir müssen das Wachstum
maximieren!“ Wohl wissend, dass das nicht das Ziel sein
kann. 


Marcel verweist auf den Wiederaufbau im Ahrtal. Auf dem Papier
ein gewaltiges Wirtschaftswachstum in der Region. Nur Wohlstand
entsteht dabei nicht, wir laufen nur zerstörtem Wohlstand
hinterher. Die Komplexität von Wohlstand macht es allerdings
schwierig, sich der Frage zu stellen, was Menschen, Wirtschaft
und Gesellschaft wirklich gut tut.  


Marcel sieht die Wirtschaftswissenschaft hier in der
Verantwortung. Seiner Beobachtung nach wird sie dieser nicht
ausreichend gerecht. Viel zu oft hängt sie noch an den alten
Konzepten von Wachstum und Produktion – als wäre die Verteilung
des Kuchens völlig egal, als stehe nur die Maximierung im
Vordergrund. Da hat sich die internationale Forschung auch
verändert und Deutschland eher hinten dran. Er sagt: Wir müssen
die Menschen stärker involvieren, da müssen wir auch in der
Wissenschaft besser werden. 


Seine Sorge: Wir werden scheitern, wenn wir die Menschen nicht
mitnehmen. Scheitern bei allen großen Veränderungen, beim
Klimaschutz, bei der Digitalisierung, wenn es uns nicht gelingt,
soziale Akzeptanz zu schaffen. Beispiel Klimageld: Die
Bundesregierung hat den CO2-Preis eingeführt und versprochen, die
Einnahmen vollständig an die Bevölkerung zurückzugeben. Passiert
aber nicht. Wir haben kaum Zeit für die Veränderung, brauchen
schnelle Entscheidungen und Umsetzungen - und wenn die Menschen
nicht mitmachen, werden diese Prozesse in einer Demokratie nicht
gelingen. Hier kritisiert Marcel die Politik insgesamt: Sie
vergisst die Menschen, vor allem diejenigen, die von
Veränderungen wie der Inflation am stärksten betroffen sind und
am wenigsten davor schützen können. 


Stattdessen schützt die Politik oft einzelne Unternehmen,
subventioniert sie, päppelt sie durch, damit wir bloß so
weitermachen können wie früher. Das ist kontraproduktiv. Denn
auch die Wirtschaft braucht Veränderung. Eine Wirtschaft kann nur
erfolgreich sein, wenn sie auch kreative Zerstörung zulässt. Es
muss etwas verschwinden, damit etwas neues entstehen kann, auch
neue Unternehmen. Insofern sind auch Insolvenzen notwendig, damit
neue Ideen ihren Platz finden. Marcel formuliert seine Sorge: Da
sind wir aber noch nicht. Unser Denken ist immer noch: Wir müssen
das Alte zementieren.  


Zu Gast: Marcel Fratzscher, Wissenschaftler,
Autor und Kolumnist zu wirtschafts- und gesellschaftspolitischen
Themen, Präsident des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und...

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