Beschreibung
vor 1 Jahr
Mit dem Verbot der Justizverweigerung bringt das Rechtssystem die
universale Zuständigkeit und Entscheidungsfähigkeit von Gerichten
zum Ausdruck. Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Autonomie im
19. Jahrhundert. „Verbot der Justizverweigerung“ bedeutet, dass
Gerichte jeden Fall, der ihnen vorgelegt wird, entscheiden müssen.
Im römischen Recht und auch im Mittelalter hatte das Recht nur
bestimmt definierte Klagen entschieden. Mit dem Übergang zur
funktional differenzierten Gesellschaft braucht es vollumfängliche
Zuständigkeit. Die operative Schließung als autonomes System
verlangt es, keinen Fall zurückzuweisen. Der Anspruch folgt aus der
funktionalen Prämisse des Rechtssystems selbst, alleinzuständig für
die Unterscheidung von Recht/Unrecht zu sein. Das darum selbst
auferlegte Verbot, Entscheidungen zu verweigern, ermöglichte es
dann auch, die Zuständigkeit auf „öffentliche Angelegenheiten“
auszuweiten. Entscheidend ist die damit verbundene Ausweitung der
strukturellen Möglichkeit. Jedem steht es nun frei, im Streitfall
ein Gericht anzurufen. Diese Strukturveränderung vollzieht sich im
19. Jahrhundert, in der Zeit, als Kant den Vorrang der Praxis vor
der Erkenntnis verkündet. Alle Funktionssysteme autonomisieren
sich, die Gesellschaft entwickelt ein Bewusstsein für Komplexität*.
Überall muss zunehmend rasch gehandelt werden. Theorien kosten
Zeit, Verkürzung ist gefragt. Mit diesem Trend zum Pragmatismus
korrespondiert das Justizverweigerungsverbot. Da sich das Recht
positiviert, erscheint es auch akzeptabel, dass menschgemachte
Entscheidungen nicht so unfehlbar sind und so zeitbeständig sein
müssen wie Gottes Wille. Dass trotz „Lücken im Recht“ Urteile
zustande kommen, wird zur Norm, mit notfalls kontrafaktischem
Geltungsanspruch. Das Justizverweigerungsverbot bringt
Universalität und Entscheidungsfähigkeit zum Ausdruck. Es
kombiniert zwei Garantien: Kein vorgelegter Fall kann abgelehnt
werden, und jeder Fall wird mit einer Entscheidung abgeschlossen.
Infolge des Verbots entwickeln die Gerichte umfangreiche Regeln
(„Richterrecht“), wie zu entscheiden ist und was als Behinderung
der Arbeit gilt. Z.B.: weil formale Kriterien nicht erfüllt wurden
oder ein Gesetz nicht verfassungskonform war. Rechtsgrundsätze
werden weiterentwickelt, Richter müssen sich fortbilden. Für die
Entwicklung der Rechtstheorie, an der das System lernen kann, sind
die hard cases im anglo-amerikanischen Common Law von
herausragender Bedeutung. Hierbei handelt es sich um besonders
schwierige Fälle, die mit den Mitteln des Rechts nicht eindeutig
entschieden werden können. Gerichte müssen darum
Entscheidungsregeln entwickeln, die es ihnen möglich machen,
„trotzdem“ zu entscheiden. Die Geltung solcher Regeln, die für
Präzedenzfälle entwickelt werden, kann umstritten sein und bleiben.
Begründungen von Entscheidungen werden entsprechend kurzgehalten,
um unnötige Selbstfestlegung zu vermeiden. Man beschränkt sich auf
das Notwendige. Dabei unterscheidet man deutlich zwischen rationes
decidendi (Entscheidungsrationalität) und obiter dicta, nebenbei
geäußerten Rechtsansichten, die nicht zur Entscheidungsfindung
beitrugen. Der Zwang zu entscheiden und die Freiheit, Regeln zu
entwickeln, stehen in einem notwendigen Spannungsverhältnis. Dieses
endet, sobald das Urteil zu einem bestimmten Zeitpunkt
rechtskräftig wird. Auch wenn an den Regeln im Nachhinein Zweifel
aufkommen sollten – die Rechtskraft des Urteils steht damit nicht
in Frage. Anders als Gesetze, kann das Urteil nicht nachträglich an
veränderte Annahmen und Regeln angepasst werden. „Richterrecht“ ist
demnach nicht nur eine Norm, sondern eine autologische Vorschrift.
Mit dem Verbot der Justizverweigerung verlangen sich Gerichte ab,
Regeln zu entwickeln, wie sie auch unter widrigen Umständen
entscheiden können. Vollständiger Text auf luhmaniac.de
universale Zuständigkeit und Entscheidungsfähigkeit von Gerichten
zum Ausdruck. Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Autonomie im
19. Jahrhundert. „Verbot der Justizverweigerung“ bedeutet, dass
Gerichte jeden Fall, der ihnen vorgelegt wird, entscheiden müssen.
Im römischen Recht und auch im Mittelalter hatte das Recht nur
bestimmt definierte Klagen entschieden. Mit dem Übergang zur
funktional differenzierten Gesellschaft braucht es vollumfängliche
Zuständigkeit. Die operative Schließung als autonomes System
verlangt es, keinen Fall zurückzuweisen. Der Anspruch folgt aus der
funktionalen Prämisse des Rechtssystems selbst, alleinzuständig für
die Unterscheidung von Recht/Unrecht zu sein. Das darum selbst
auferlegte Verbot, Entscheidungen zu verweigern, ermöglichte es
dann auch, die Zuständigkeit auf „öffentliche Angelegenheiten“
auszuweiten. Entscheidend ist die damit verbundene Ausweitung der
strukturellen Möglichkeit. Jedem steht es nun frei, im Streitfall
ein Gericht anzurufen. Diese Strukturveränderung vollzieht sich im
19. Jahrhundert, in der Zeit, als Kant den Vorrang der Praxis vor
der Erkenntnis verkündet. Alle Funktionssysteme autonomisieren
sich, die Gesellschaft entwickelt ein Bewusstsein für Komplexität*.
Überall muss zunehmend rasch gehandelt werden. Theorien kosten
Zeit, Verkürzung ist gefragt. Mit diesem Trend zum Pragmatismus
korrespondiert das Justizverweigerungsverbot. Da sich das Recht
positiviert, erscheint es auch akzeptabel, dass menschgemachte
Entscheidungen nicht so unfehlbar sind und so zeitbeständig sein
müssen wie Gottes Wille. Dass trotz „Lücken im Recht“ Urteile
zustande kommen, wird zur Norm, mit notfalls kontrafaktischem
Geltungsanspruch. Das Justizverweigerungsverbot bringt
Universalität und Entscheidungsfähigkeit zum Ausdruck. Es
kombiniert zwei Garantien: Kein vorgelegter Fall kann abgelehnt
werden, und jeder Fall wird mit einer Entscheidung abgeschlossen.
Infolge des Verbots entwickeln die Gerichte umfangreiche Regeln
(„Richterrecht“), wie zu entscheiden ist und was als Behinderung
der Arbeit gilt. Z.B.: weil formale Kriterien nicht erfüllt wurden
oder ein Gesetz nicht verfassungskonform war. Rechtsgrundsätze
werden weiterentwickelt, Richter müssen sich fortbilden. Für die
Entwicklung der Rechtstheorie, an der das System lernen kann, sind
die hard cases im anglo-amerikanischen Common Law von
herausragender Bedeutung. Hierbei handelt es sich um besonders
schwierige Fälle, die mit den Mitteln des Rechts nicht eindeutig
entschieden werden können. Gerichte müssen darum
Entscheidungsregeln entwickeln, die es ihnen möglich machen,
„trotzdem“ zu entscheiden. Die Geltung solcher Regeln, die für
Präzedenzfälle entwickelt werden, kann umstritten sein und bleiben.
Begründungen von Entscheidungen werden entsprechend kurzgehalten,
um unnötige Selbstfestlegung zu vermeiden. Man beschränkt sich auf
das Notwendige. Dabei unterscheidet man deutlich zwischen rationes
decidendi (Entscheidungsrationalität) und obiter dicta, nebenbei
geäußerten Rechtsansichten, die nicht zur Entscheidungsfindung
beitrugen. Der Zwang zu entscheiden und die Freiheit, Regeln zu
entwickeln, stehen in einem notwendigen Spannungsverhältnis. Dieses
endet, sobald das Urteil zu einem bestimmten Zeitpunkt
rechtskräftig wird. Auch wenn an den Regeln im Nachhinein Zweifel
aufkommen sollten – die Rechtskraft des Urteils steht damit nicht
in Frage. Anders als Gesetze, kann das Urteil nicht nachträglich an
veränderte Annahmen und Regeln angepasst werden. „Richterrecht“ ist
demnach nicht nur eine Norm, sondern eine autologische Vorschrift.
Mit dem Verbot der Justizverweigerung verlangen sich Gerichte ab,
Regeln zu entwickeln, wie sie auch unter widrigen Umständen
entscheiden können. Vollständiger Text auf luhmaniac.de
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